Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Hitler – wer war er und was heißt Widerstand gegen diesen Menschen? Interview mit Hans Jürgen Schultz
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Hitler – wer war er
und was heißt Widerstand gegen diesen Menschen?
Interview mit Hans Jürgen Schultz
Erich Fromm
(1974c)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Zuerst als Gespräch in der Sendereihe „Der 20. Juli – Alternative zu Hitler? Eine Bilanz nach 30 Jahren“ am 13. Juni 1974 im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart ausgestrahlt. Erstveröffentlichung in gedruckter Form 1974 unter dem Titel Hitler, wer war er und was heißt Widerstand gegen diesen Menschen? in: H. J. Schultz (Hg.), Der 20. Juli, Stuttgart (Kreuz-Verlag), S. 8-24. Übernahme 1983 in E. Fromm, Über die Liebe zum Leben. Rundfunksendungen, hg. von Hans Jürgen Schultz, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), S. 143-162. Mit textlichen Verbesserungen durch Rainer Funk 1999 übernommen in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag), Band XI, S. 365-378.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 365-378.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1974 by Erich Fromm und Hans Jürgen Schultz; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Schultz: Dem Problem des Widerstands wird in der ganzen Welt immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet.[1] Es gibt viele Anlässe, es gibt viele Formen des Widerstands; es gibt Widerstandsrecht und sogar Widerstandspflicht. Gandhi hat eine breite Skala der Möglichkeiten und strategischen Steigerungen in der Theorie entworfen und in der Praxis mit erstaunlichem Erfolg erprobt. Aber für ihn war nicht zu bezweifeln, dass Widerstand sich nicht in der perfekten Beherrschung bestimmter Kampftechniken erschöpft, sondern eine Haltung ist, die auf einer Überzeugung beruht und die den Menschen in seiner ganzen Existenz betrifft. Gandhi hat Menschen, die Widerstand üben, mit Soldaten verglichen: Sie müssen bereit sein, ihr Leben zu lassen: Aber ihre Tapferkeit ist nicht eine Tapferkeit zum Kriege, sondern zum Frieden; ihre Waffe ist der Verzicht auf Waffen. Die erhebliche politische Bedeutung der Widerstandslehre von Gandhi beginnen wir erst jetzt langsam einzusehen. Rechtzeitiger und planmäßiger Widerstand im Sinne Gandhis ist Hitler nicht oder kaum begegnet.
Vom Widerstand gegen Hitler aber soll hier die Rede sein: von dem, der stattgefunden hat, und ebenso von dem, der ausgeblieben ist. Um zu ermitteln, was Widerstand gegen ihn bedeutet, muss man wissen: Wer war eigentlich dieser Mann? Wie konnte ihm eine irrationale Autorität von derartigen Ausmaßen zuwachsen?
Sieht man sich in der Fülle der Literatur über Hitler um, so wundert man sich, dass die meisten Autoren sich nicht mehr über ihn gewundert haben. Ihre Erklärungsversuche gehen in der Regel einigermaßen glatt auf. Und nicht wenige kommen zu dem Schluss: Wäre der Widerstand gegen Hitler tüchtiger und einheitlicher organisiert gewesen, so hätte er natürlich gelingen können.
Stimmt das? War man sich wirklich hinreichend im Klaren darüber, gegen wen oder was man zu widerstehen hatte? Ist adäquate Opposition überhaupt möglich, solange die Denkmittel fehlen, die Komplexität der Gestalt und der Wirkung Hitlers zu durchschauen? Ganz gewiss haben viele Widerstandskämpfer ziemlich genau erkannt, wen und was sie in Hitler vor sich hatten. Doch sie standen ja nicht nur einem einzelnen Mann, sie standen einem Massenphänomen gegenüber. Sie befanden sich auf verlorenem Posten. Sie konnten sich nicht getragen und unterstützt fühlen von größeren Gruppen in der Bevölkerung (die Frage, inwieweit sie eine demokratische [XI-366] Fundierung überhaupt wollten, lassen wir jetzt einmal außer Acht), denen ebenfalls die Augen aufgegangen wären. Sie waren irritiert durch den beunruhigenden Eindruck, einerseits zu spät, andererseits zu früh zu kommen: Der Sturz Hitlers war längst überfällig – war aber die Bevölkerung schon reif für eine Politik ohne Hitler? Diese zweifelnde Überlegung hat in wichtigen Kreisen der Verschwörung eine vordringliche Rolle gespielt.
Herr Fromm, Sie haben sich – anders als die Mehrzahl Ihrer Kollegen – von früh an für eine neue politische Psychologie und Anthropologie eingesetzt. Die Kategorien, die Sie von Ihrer Position beisteuern, sind, so scheint mir, als Ergänzung und auch als Infragestellung anderer Gesichtspunkte zur Beurteilung Hitlers unentbehrlich.
Fromm: Nun, wer war dieser Mann Hitler? Diese Frage, wer jemand ist oder war, ist ja – mit unterschiedlichen Graden des Interesses – bei jedem Menschen angebracht. Wer ist das? Wer bin ich? Kann man aber dazu ein letztes Wort überhaupt sagen? Das fällt bei Hitler ebenso schwer wie bei jedem anderen. Denn im Menschen sind vielschichtige Motive, Strebungen, Widersprüche vorhanden. Es gibt neben dem, was er bewusst von sich denkt, all das, was er unbewusst fühlt und tut, und so kommt man nie zu einer vollständigen Antwort auf die Frage: Wer war, wer ist dieser, wer bin ich? Es wäre jedoch ein Fehler, von dieser Einsicht her in einen Relativismus zu verfallen und zu meinen: Wir wissen eben überhaupt nicht, wer dieser Mensch ist und wer ich bin. Annäherungsweise und sozusagen für alle praktischen Zwecke kann man immerhin genug wissen, um zu verstehen, ob ein Mensch ein Segen oder ein Fluch ist. Mit dieser Einschränkung möchte ich es riskieren, einiges über diesen Menschen Hitler zu sagen.
Sieht man sich seine Geschichte an, so kann man wohl sagen, er war ein Mensch, der immer in Phantasien gelebt hat, schon als Kind. Er hatte Größenideen, auf Grund derer er sich nie der Realität anpassen musste und auch gar nicht anpassen konnte. Er hat sich selbst in Mein Kampf so dargestellt, als ob der Konflikt mit seinem Vater darin bestanden hätte, dass er Künstler werden wollte, während sein Vater wünschte, dass er Beamter wurde. Doch das war nicht der Konflikt.
Künstler zu sein, bedeutete für Hitler, wie für einige andere Menschen auch, zu nichts verpflichtet zu sein und nur seinen Phantasien nachleben zu können. Dem Vater kam es wohl auch nicht entscheidend darauf an, dass er Beamter wurde, obwohl das für ihn nahelag, da er selbst Beamter war, sondern er erkannte mehr und mehr, dass dieser Sohn keinen Sinn für Verantwortung, für Disziplin hatte und dass er nichts unternahm, um sich selbst aktiv aufs Leben einzustellen und es nach einem Ziel zu gestalten. So erlebte Hitler, wie viele narzisstische Menschen, viele Enttäuschungen. Seine Größenideen wuchsen, und die Kluft zu seinen realen Leistungen wurde immer größer. Aus dieser Kluft kamen Ressentiments, Ärger, Hass und außerdem noch ein ständiges Wachsen seiner Größenideen. Denn je weniger er in Wirklichkeit erreichte, desto mehr entwickelte er sich zum Phantasten.
Schultz: Hat sich das schon früh gezeigt? [XI-367]
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120708
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (August)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Adolf Hitler Hitlerattentat Nekrophilie