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Freuds Modell des Menschen und seine gesellschaftlichen Determinanten

Freud’s Model of Man and Its Social Determinants

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Es war die große Stärke Erich Fromms, die wirklich neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse von ihren zeitgebundenen Erklärungsmodellen zu unterscheiden. Dies trifft verstärkt auf die Vorurteile und Vorstellungen zu, mit denen Sigmund Freud seine bahnbrechenden Entdeckungen zu erklären versuchte. Der Beitrag zeigt, wie sehr Freud bei seinen Theoriebildungen von dem in seiner Zeit vorherrschenden Menschenbild bestimmt war und auf diese Weise radikale Einsichten mit gesellschaftlichen Klischees vermischte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Freuds Modell des Menschen
und seine gesellschaftlichen Determinanten

(Freud’s Model of Man and Its Social Determinants)

Erich Fromm
(1970d)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Hilde Weller

Erstveröffentlichung 1970 unter dem Titel Freud’s Model of Man and Its Social Determinants, in E. Fromm, The Crisis of Psychoanalysis. Essays on Freud, Marx and Social Psychology bei Holt, Rinehart and Winston in New York, S. 42-61. Aus dem Amerikanischen von Hilde Weller übersetzt erschien der Beitrag 1970 erstmals auf Deutsch unter dem Titel Freuds Modell des Menschen und seine gesellschaftlichen Determinanten in E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a), S. 174-192, beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. 1981 wiederabgedruckt in Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA VIII, S. 231-243.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 231-243.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1970 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Um die gesellschaftliche Basis von Freuds Ansichten zu beurteilen[1], muss man sich von Anfang an darüber im klaren sein, dass Freud ein liberaler Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft war, und zwar in dem Sinne, in dem liberale Reformer ganz allgemein kritisch waren. Er erkannte, dass die Gesellschaft dem Menschen unnötige Härten auferlegt, die statt der erhofften besseren Ergebnisse schlechtere hervorrufen. Er sah, dass diese unnötigen Härten, wie sie auf dem Gebiet der Sexualmoral wirksam waren, zur Bildung von Neurosen führten, die durch eine tolerantere Einstellung hätten vermieden werden können. Aber Freud war niemals ein radikaler Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft. Er stellte ihre sozio-ökonomische Basis niemals in Frage, noch kritisierte er ihre Ideologie – außer in Bezug auf die Sexualität.

Was Freuds Vorstellung vom Menschen angeht, so ist es wichtig, zunächst darauf hinzuweisen, dass er – verwurzelt in der Philosophie des Humanismus und der Aufklärung – von der Annahme der Existenz des Menschen an sich ausgeht – eines universalen Menschen, nicht nur des Menschen, wie er sich in den verschiedenen Kulturen manifestiert, sondern eines Menschen, über dessen Struktur allgemeingültige empirische Feststellungen getroffen werden können. Freud, wie vor ihm Spinoza, konstruierte ein „Modell der menschlichen Natur“, auf dessen Basis nicht nur Neurosen, sondern alle grundlegenden Aspekte, Möglichkeiten und Notwendigkeiten menschlicher Existenz erklärt und verstanden werden können. Wie sieht dieses Freudsche Modell des Menschen aus? Freud sah den Menschen als geschlossenes System, das von zwei Kräften angetrieben wird: den Selbsterhaltungs- und den Sexualtrieben. Die Sexualtriebe sind in chemo-physiologischen Prozessen verankert, die phasisch ablaufen. Die erste Phase erhöht Spannung und Unlust; die zweite reduziert die aufgestaute Spannung und erzeugt dabei das, was subjektiv als „Lust“ empfunden wird. Der Mensch ist zunächst ein isoliertes Wesen, dessen primäres Interesse der optimalen Befriedigung seines Ichs und seiner libidinösen Wünsche gilt. Freuds Mensch ist der physiologisch angetriebene und motivierte homme machine. Aber an zweiter Stelle ist der Mensch auch ein soziales Wesen, denn er braucht andere Menschen zur Befriedigung seiner libidinösen wie auch seiner Selbsterhaltungstriebe. Das Kind braucht die Mutter (hier folgen – nach [VIII-232] Freud – die libidinösen Wünsche dem von den physiologischen Bedürfnissen vorgezeichneten Pfad); der Erwachsene braucht einen Sexualpartner. Gefühle wie Zärtlichkeit oder Liebe werden als Phänomene angesehen, die die libidinösen Wünsche begleiten und aus ihnen resultieren. Die Individuen bedürfen einander als Mittel zur Befriedigung ihrer physiologisch verwurzelten Triebe. Der Mensch hat primär keine Beziehung zum anderen und wird nur sekundär in Beziehungen zu anderen hineingezwungen oder zu ihnen verführt.

Freuds homo sexualis ist eine Variante des klassischen homo oeconomicus. Er ist der isolierte, selbstgenügsame Mensch, der in Beziehung zu anderen treten muss, um zur gegenseitigen Befriedigung der Bedürfnisse zu gelangen. Der homo oeconomicus hat ökonomische Bedürfnisse, die ihre gegenseitige Befriedigung im Austausch von Waren auf dem Warenmarkt finden. Die Bedürfnisse des homo sexualis sind physiologisch und libidinös bedingt und werden normalerweise durch die Beziehung der Geschlechter zueinander gegenseitig befriedigt. Bei beiden Varianten bleiben die Personen im wesentlichen Fremde füreinander, deren einzige Beziehung das gemeinsame Ziel der Triebbefriedigung ist. Diese soziale Determination der Freudschen Theorie durch den Geist der Marktwirtschaft besagt nicht, dass die Theorie falsch ist, außer in Bezug auf ihren Anspruch, dass sie die Situation des Menschen an sich beschreibe; als Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie für die Mehrheit der Menschen gültig.

Dieser allgemeinen Feststellung muss im Hinblick auf die gesellschaftlichen Determinanten des Freudschen Triebbegriffs ein spezifischer Punkt hinzugefügt werden. Freud war ein Schüler von Brückes, eines Physiologen, der zu den angesehensten Repräsentanten des mechanistischen Materialismus gehörte, speziell in seiner deutschen Ausprägung. Diese Form des Materialismus war auf das Prinzip gegründet, dass alle psychischen Phänomene ihre Wurzeln in physiologischen Prozessen haben, und dass sie hinreichend erklärt und verstanden werden können, wenn man diese Wurzeln kennt.[2]

Auf der Suche nach den Wurzeln psychischer Störungen musste Freud nach einem physiologischen Substrat der Triebe Ausschau halten; dieses in der Sexualität zu entdecken, war die ideale Lösung, da sie sowohl mit den Erfordernissen mechanistisch-materialistischen Denkens als auch mit gewissen klinischen Befunden bei den Patienten seiner Zeit und seiner Gesellschaftsschicht übereinstimmte. Es bleibt natürlich [VIII-233] ungewiss, ob diese Befunde Freud so tief beeindruckt hätten, wenn er nicht in den Kategorien seines spezifischen Weltbilds gedacht hätte, doch kann kaum bezweifelt werden, dass dieses eine wichtige Determinante seiner Triebtheorie war. Das bedeutet, dass jemand mit einem anderen Weltbild sich Freuds Ergebnissen mit einer gewissen Skepsis nähern wird. Diese Skepsis bezieht sich nicht so sehr auf Freuds Theorie in eingeschränkter Form, wonach bei manchen neurotischen Störungen sexuelle Faktoren eine entscheidende Rolle spielen; sie gilt vielmehr der Behauptung, dass alle Neurosen und alles menschliche Verhalten durch den Konflikt zwischen den sexuellen und den Selbsterhaltungstrieben bestimmt werden.

Freuds Libidotheorie spiegelt seine gesellschaftliche Situation auch in einem anderen Sinne wider. Sie beruht auf dem Konzept des Mangels und setzt voraus, dass alles menschliche Streben nach Lust aus dem Bedürfnis resultiere, sich von unlustvollen Spannungen zu befreien, nicht aber dass Lust ein Phänomen des Überflusses ist, das auf größere Intensität und Vertiefung menschlichen Erlebens abzielt. Dieses Prinzip des Mangels ist charakteristisch für das Denken des Mittelstands und erinnert an Malthus, Benjamin Franklin oder auch einen durchschnittlichen Geschäftsmann des Neunzehnten Jahrhunderts. Es gibt viele Formen dieses Prinzips, aber im wesentlichen bedeutet es, dass die Menge aller Gebrauchsgüter notwendigerweise begrenzt ist und daher eine gleichmäßige Befriedigung aller unmöglich ist, weil wirklicher Überfluss unmöglich ist; in einem solchen Rahmen wird Mangel zum wichtigsten Stimulus menschlicher Aktivität.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120647
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Menschenbild Sigmund Freud
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Titel: Freuds Modell des Menschen und seine gesellschaftlichen Determinanten