Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Die Krise der Psychoanalyse
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Die Krise der Psychoanalyse
(The Crisis of Psychoanalysis)
Erich Fromm
(1970c)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Hilde Weller
Erstveröffentlichung 1970 unter dem Titel The Crisis of Psychoanalysis (1970c), in E. Fromm, The Crisis of Psychoanalysis. Essays on Freud, Marx and Social Psychology bei Holt, Rinehart and Winston in New York, S. 9-41. Aus dem Amerikanischen von Hilde Weller übersetzt, erschien der Beitrag 1970 erstmals auf Deutsch unter dem Titel Die Krise der Psychoanalyse, in E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a), S. 193-228, beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. 1981 wiederabgedruckt in Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA VIII, S. 47-70.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 47-70.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1970 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Die Psychoanalyse der Gegenwart durchläuft eine Krise.[1] Sie zeigt sich – oberflächlich betrachtet – in einem gewissen Rückgang der Anzahl von Studenten, die sich um eine Ausbildung an psychoanalytischen Instituten bewerben, sowie der Anzahl von Patienten, die Hilfe beim Psychoanalytiker suchen. Konkurrierende Therapien sind in den letzten Jahren aufgetreten, die behaupten, dass sie bessere therapeutische Resultate aufzuweisen hätten, weniger Zeit und somit natürlich auch bedeutend weniger Geld erforderten. Der Psychoanalytiker, von dem der städtische gehobene Mittelstand noch vor zehn Jahren die Bewältigung seiner seelischen Nöte erwartete, wird nun von seinen psychotherapeutischen Konkurrenten in die Defensive gedrängt und verliert sein therapeutisches Monopol.
Um diese Krise richtig einschätzen zu können, erscheint es sinnvoll, die Geschichte der psychoanalytischen Therapie ins Auge zu fassen. Vor über einem halben Jahrhundert erschloss die Psychoanalyse ein neues Gebiet und – ökonomisch gesprochen – einen neuen Markt. Bis dahin musste man entweder geistesgestört sein oder unter qualvollen Symptomen leiden, die einen gesellschaftlich behinderten, um die Hilfe des Psychiaters in Anspruch nehmen zu können. Weniger krasse seelische Nöte wurden als Domäne des Pfarrers oder des Hausarztes betrachtet, und in den meisten Fällen wurde erwartet, dass man selbst damit fertig wurde oder notfalls schweigend litt. Als Freud seine therapeutische Arbeit aufnahm, hatte er es mit Patienten zu tun, die im konventionellen Sinne des Wortes „krank“ waren; sie litten an schwerwiegenden Symptomen, an Phobien, Zwängen und an Hysterie, obgleich sie nicht psychotisch waren. Nach und nach wurde die psychoanalytische Methode auf Menschen ausgedehnt, die nach der herkömmlichen Betrachtungsweise nicht als „krank“ gegolten hätten. „Patienten“ kamen mit Klagen über ihre Unfähigkeit, sich am Leben zu freuen, über unglückliche Ehen, allgemeine Angstzustände, schmerzliche Einsamkeitsgefühle, Beeinträchtigung ihrer Arbeitsfähigkeit etc. Im Gegensatz zu früher wurden diese Beschwerden als „Krankheiten“ klassifiziert, und ein neuer Typ von „Helfer“ – der Psychoanalytiker – hatte sich der „Lebensschwierigkeiten“ anzunehmen, deren fachmännische Behandlung man bis dahin nicht für nötig gehalten hatte.
Diese Entwicklung kam nicht über Nacht, aber schließlich wurde sie zu einem [VIII-048] wichtigen Faktor im Leben des städtischen gehobenen Mittelstandes, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Bis vor gar nicht langer Zeit war es fast „normal“ für einen Menschen, der einer bestimmten städtischen Subkultur angehörte, „seinen Analytiker zu haben“; ein gut Teil Zeit wurde auf der „Couch“ zugebracht, gerade so, wie Leute zur Kirche oder in die Synagoge zu gehen pflegen.
Die Gründe für diesen Boom der Psychoanalyse sind leicht zu erkennen. Dieses Jahrhundert, das „Jahrhundert der Angst“, hat eine ständig zunehmende Einsamkeit und Isolierung erzeugt. Der Zusammenbruch der Religion, die scheinbare Zwecklosigkeit der Politik, das Heraufkommen des total entfremdeten „Organisationsmenschen“ beraubten den städtischen Mittelstand eines Orientierungsrahmens und des Gefühls der Sicherheit in einer sinnlos gewordenen Welt. Wenngleich einige wenige einen neuen Orientierungsrahmen im Surrealismus, in radikalen politischen Programmen oder im Zen-Buddhismus zu finden schienen, so hielt der desillusionierte Liberale im Allgemeinen doch Ausschau nach einer Philosophie, der er sich ohne fundamentale Änderung seiner Anschauungen verschreiben konnte, d.h. ohne „anders“ zu werden als seine Freunde und Kollegen.
Die Psychoanalyse versprach, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Selbst wenn das Symptom nicht beseitigt wurde, so war es doch eine große Erleichterung, zu jemandem sprechen zu können, der geduldig und mehr oder weniger mitfühlend zuhörte. Dass der Analytiker für sein Zuhören bezahlt wurde, bedeutete nur einen geringfügigen Mangel, vielleicht war es sogar überhaupt kein Mangel, weil gerade die Tatsache, dass man den Analytiker bezahlte, bewies, dass diese Therapie seriös, angesehen und erfolgversprechend war. Zudem genoss sie ein hohes Prestige, da sie, wirtschaftlich betrachtet, ein Luxus war.
Der Analytiker bot einen Ersatz für Religion, Politik und Philosophie. Freud hatte angeblich alle Geheimnisse des Lebens entschleiert: das Unbewusste, den Ödipuskomplex, die Wiederholung von Kindheitserlebnissen in der Gegenwart. Hatte man diese Begriffe einmal erfasst, so gab es nichts Geheimnisvolles oder Zweifelhaftes mehr. Man gehörte einer vergleichsweise esoterischen Sekte an, deren Priester der Analytiker war, und man fühlte sich weniger verwirrt und weniger einsam, einfach dadurch, dass man sich auf der Couch die Zeit vertrieb.
Dies trifft insbesondere auf jene zu, die nicht unter bestimmten Symptomen, sondern an einem allgemeinen Unbehagen litten. Um eine einigermaßen sinnvolle Änderung ihres Zustandes zu erreichen, hätten sie eine Vorstellung davon haben müssen, was ein nicht-entfremdeter Mensch ist, davon, was es bedeuten könnte, ein Leben zu führen, das sich um Sein und nicht um Haben und Benutzen dreht. Eine solche Vision hätte eine radikale Kritik der Gesellschaft, ihrer ausgesprochenen und verhüllten Normen zur Voraussetzung haben müssen; sie hätte den Mut erfordert, viele tröstliche und schützende Bande zu zerschneiden und einer Minderheit anzugehören, und sie hätte ferner mehr Psychoanalytiker erfordert, die nicht selbst im seelischen und geistigen Wirrwarr eines kybernetisch organisierten, industrialisierten Daseins gefangen sind.
Häufig kann man ein gentlemen’s agreement zwischen Patient und Analytiker beobachten: Keiner von beiden möchte wirklich durch ein fundamental neues Erlebnis [VIII-049] aufgerüttelt werden. Sie sind mit kleinen „Besserungen“ zufrieden und unbewusst einander dafür dankbar, dass die unbewusste „Kollusion“, um R. D. Laings Bezeichnung zu gebrauchen, nicht ans Tageslicht gebracht wird. Solange der Patient kommt, spricht und zahlt und der Analytiker zuhört und „deutet“, sind die Spielregeln gewahrt, und das Spiel ist für beide angenehm. Außerdem wurde der Umstand, dass man einen Analytiker hatte, häufig dazu benutzt, einem gefürchteten, aber unausweichlichen Problem aus dem Wege zu gehen: der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und Risiken auf sich zu nehmen. Wenn eine schwierige – oder gar tragische – Entscheidung doch nicht zu umgehen war, verwandelte der der Psychoanalyse Ergebene den realen Konflikt in einen „neurotischen“, der „weiter analysiert“ werden musste – mitunter so lange, bis die Situation, die die Entscheidung verlangt hatte, nicht mehr bestand. Allzu viele Patienten bedeuteten für den Analytiker keine Herausforderung – und er keine für sie. Die an dem gentlemen’s agreement Beteiligten wünschten unbewusst nicht einmal eine Herausforderung zu sein, damit nichts ihre „friedliche“ Existenz ins Wanken brächte. Da Psychoanalytiker sich in zunehmendem Maße einer großen Zahl von Patienten sicher waren, neigten viele von ihnen dazu, faul zu werden und an die Marktvorstellung zu glauben, dass ihr Gebrauchswert hoch sein müsse, da ihr Marktwert hoch war. Unterstützt durch die mächtige und angesehene Internationale Psychoanalytische Vereinigung, meinten viele, sie besäßen die „Wahrheit“, wenn sie erst einmal das Ritual von der Zulassung zur Ausbildung bis zu deren Abschluss durchlaufen hatten. In einer Welt, in der Größe und Macht der Organisationen als Garantien für die Wahrheit angesehen werden, folgten sie damit nur der Konvention.
Soll damit gesagt werden, dass die Psychoanalyse keine wesentlichen Veränderungen bei Menschen bewirkt? Dass ihr Ziel sie selbst und sie nicht Mittel zu einem Zweck sei? Keineswegs. Unsere Schilderung bezieht sich auf den Missbrauch der analytischen Therapie durch manche ihrer Praktiker und Patienten, nicht auf die ernsthafte Arbeit, die von anderen erfolgreich geleistet wird. In der Tat sagt die leichtfertige Verleugnung von therapeutischen Erfolgen der Psychoanalyse mehr über die Schwierigkeiten mancher modischer Autoren aus, die komplexen Daten in den Griff zu bekommen, mit denen es die Psychoanalyse zu tun hat, als über die Psychoanalyse selbst. Die Kritik von Menschen mit wenig oder gar keiner Erfahrung auf diesem Gebiet kann sich nicht gegenüber dem Zeugnis von Analytikern behaupten, die eine beträchtliche Zahl von Menschen analysiert haben, deren Leiden behoben wurden. Viele Patienten erlebten sogar ein neues Gefühl von Vitalität und Lebensfreude, und keine andere therapeutische Methode als die Psychoanalyse hätte diese Veränderungen hervorbringen können. Natürlich konnte vielen überhaupt nicht geholfen werden; bei anderen wiederum traten wirkliche, wenn auch bescheidene Änderungen ein, doch ist hier nicht der Ort, die therapeutischen Erfolge der Psychoanalyse statistisch auszuwerten.
Es ist nicht überraschend, dass viele Menschen durch die Aussicht angelockt wurden, dass es schnellere und billigere Methoden der „Heilung“ gäbe. Die Psychoanalyse hatte die Möglichkeit eröffnet, durch fachmännische Hilfe eine Erleichterung der seelischen Not zu erreichen. Mit dem Stilwandel in Richtung auf größere „Effizienz“, [VIII-050] Schnelligkeit (vgl. A. Aramoni, 1970a) und „Gruppenaktivität“ und mit der Steigerung des Bedürfnisses nach einer Therapie bei Menschen, deren Einkommen für langwierige tägliche Behandlungen nicht ausreichte, erlangten die neuen Heilverfahren notwendigerweise eine starke Anziehungskraft und entzogen der Psychoanalyse einen großen Teil potenzieller Patienten.[2]
Bis hierher habe ich nur den offensichtlichen und an der Oberfläche liegenden Grund für die gegenwärtige Krise der Psychoanalyse berührt: die falsche Anwendung der Psychoanalyse durch eine große Zahl von praktizierenden Analytikern und von Patienten. Um die Krise, zumindest auf dieser Ebene, zu überwinden, würde es genügen, eine strengere Auswahl von Analytikern und Patienten zu treffen.
Es ist aber auch zu fragen: Wie konnte es zu diesem Missbrauch kommen? Ich habe versucht, einige sehr begrenzte Antworten auf diese Frage zu geben, umfassend kann sie nur beantwortet werden, wenn wir von oberflächlichen Ausprägungen zu der tieferen Krise vordringen, in der sich die Psychoanalyse befindet.
Welches sind die Gründe für diese tiefere Krise?
Ich glaube, dass der Hauptgrund im Wandel der Psychoanalyse von einer radikalen zu einer konformistischen Theorie zu suchen ist.[3] Ursprünglich war die Psychoanalyse eine radikale, durchdringende, befreiende Theorie. Allmählich verlor sie diesen Charakter und begann zu stagnieren. Sie versagte vor der Notwendigkeit, ihre Theorie entsprechend der veränderten menschlichen Situation nach dem Ersten Weltkrieg weiterzuentwickeln. Statt dessen zog sie sich auf Konformismus und die Suche nach Respektabilität zurück.
Die kreativste und radikalste Errungenschaft der Freudschen Theorie bestand in der Begründung einer „Wissenschaft vom Irrationalen“, d.h. der Theorie des Unbewussten. Wie Freud selbst bemerkte, stellte dies eine Fortsetzung des Werkes von Kopernikus und Darwin dar (ich würde hinzufügen: auch von Marx). Sie hatten die Illusionen des Menschen über den Platz unseres Planeten im Kosmos und über seinen eigenen Platz in der Natur und der Gesellschaft in Frage gestellt, und Freud attackierte nun die letzte Festung, die unberührt geblieben war: das Bewusstsein des Menschen als letzte Instanz psychischen Erlebens. Er zeigte auf, dass das meiste von dem, was den Inhalt unseres Bewusstseins ausmacht, nicht real ist, und dass umgekehrt wir uns eines großen Teils der Realität nicht bewusst sind. Philosophischer Idealismus und traditionelle Psychologie wurden so herausgefordert und ein weiterer Schritt getan, um die „wahre Wirklichkeit“ zu erkennen. (Die theoretische Physik ging einen anderen, entscheidenden Schritt in diese Richtung, indem sie die Sicherheit, mit der man von der Materie sprach, angriff.)
Freud stellte nun nicht einfach die Existenz unbewusster Prozesse im Allgemeinen fest (das hatten andere vor ihm getan[4]), sondern er wies empirisch nach, wie unbewusste [VIII-051] Prozesse funktionieren, indem er ihre Wirksamkeit an konkreten, beobachtbaren Phänomenen demonstrierte: an neurotischen Symptomen, Träumen und den Fehlhandlungen des täglichen Lebens.
Die Theorie des Unbewussten stellt eine der entscheidendsten Stufen unserer Erkenntnis des Menschen und unserer Fähigkeit dar, im menschlichen Verhalten Anschein und Realität zu unterscheiden. Als Folge davon erschloss sie eine neue Dimension der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit[5] und schuf damit eine neue Grundlage für kritisches Denken.
Vor Freud wurde es als ausreichend betrachtet, die bewussten Absichten eines Menschen zu kennen, um seine Aufrichtigkeit beurteilen zu können. Nach Freud war dies nicht mehr genug, ja, es war in der Tat sehr wenig. Hinter dem Bewusstsein lauerte die verborgene Realität, das Unbewusste, das der Schlüssel zu den wirklichen Absichten des Menschen war. (Marx’ Begriff der „Ideologie“ hatte die gleiche Bedeutung wie Freuds Begriff „Rationalisierung“, obwohl Marx den psychischen Mechanismus der Verdrängung nicht untersuchte. – Vgl. hierzu im einzelnen Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud, 1962a; GA IX, S. 46-54.) Durch die Analyse eines Menschen (oder die Anwendung der analytischen Methode bei der Untersuchung seines Verhaltens) wurde die konventionelle Vorstellung von der bürgerlichen (oder irgendeiner) „Respektabilität“ mit all ihrer Heuchelei und Unehrlichkeit prinzipiell in ihren Grundfesten erschüttert. Es genügte nicht mehr, dass ein Mensch seine Handlungen mit seinen guten Absichten rechtfertigte; diese guten Absichten – selbst wenn sie subjektiv vollkommen aufrichtig waren – wurden nun zum Gegenstand kritischer Analyse. An jedweden war die Frage gerichtet: „Was liegt dahinter?“ oder vielmehr: „Wer bist du hinter dir selbst?“ Tatsächlich machte Freud es möglich, die Fragen: „Wer bist du, und wer bin ich?“ im Geist eines neuen Realismus zu stellen.
Aber Freuds theoretisches System leidet unter einer tiefgehenden Dichotomie. Jener Freud, der den Weg zum Verständnis von „falschem Bewusstsein“ und menschlicher Selbsttäuschung ebnete, war ein radikaler Denker (wenngleich kein revolutionärer), der über die Grenzen seiner Gesellschaft hinausging; in gewissem Umfang war er gesellschaftskritisch, insbesondere in Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c). Andererseits jedoch war er tief verwurzelt in den Vorurteilen und der Weltanschauung seiner Zeit und seiner Klasse. (Vgl. hierzu Freuds Modell des Menschen und seine gesellschaftlichen Determinanten, 1970d, GA VIII, S. 231-243.) Das Freudsche Unbewusste war in erster Linie der Ort der verdrängten Sexualität, und seine Kritik an der Gesellschaft beschränkte sich auf deren Verdrängung der Sexualität. Freud war ein kühner und radikaler Denker, wo es um seine großen Entdeckungen [VIII-052] ging, aber in ihrer Fortführung war er durch den Glauben behindert, dass seine Gesellschaft, obwohl keineswegs befriedigend, die endgültige Form des menschlichen Fortschritts darstellte, und in keinem wesentlichen Zug verbessert werden könnte.
Wegen dieses inhärenten Widerspruchs in Freuds Persönlichkeit und in seiner Theorie stellte sich die Frage: Welcher dieser beiden Aspekte würde von seinen Schülern weiter entwickelt werden? Würden sie dem Freud folgen, der das Werk von Kopernikus, Darwin und Marx fortgesetzt hatte, oder würden sie sich mit dem Freud begnügen, dessen Denken und Fühlen auf die Kategorien bürgerlicher Ideologie und Erfahrung beschränkt war? Würden Sie Freuds spezielle Theorie des Unbewussten, die auf die Sexualität bezogen war, weiter entwickeln zu einer allgemeinen Theorie, die verdrängtes seelisches Erleben in seinem vollen Umfang zum Gegenstand wählen würde? Würden sie Freuds spezielle Form der Befreiung in eine allgemeine Befreiung durch die Erweiterung des Bewusstseins umwandeln? Um es noch anders und allgemeiner auszudrücken: Würden sie Freuds kraftvollste und revolutionärste Ideen weiterentwickeln, oder würden sie auf jene Theorien das Hauptgewicht legen, die von der Konsumgesellschaft am leichtesten verdaut werden konnten?
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120630
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (August)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Ferenczi Horney Sullivan Erikson Klein Marcuse Ich-Psychologie