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Marx’ Beitrag zum Wissen vom Menschen

Marx’s Contribution to the Knowledge of Man

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Betont Fromm in früheren Schriften immer wieder, dass Marx keine Psychologie entwickelt habe und deshalb die marxistische Theorie dringend der Ergänzung durch die Psychoanalyse bedürfe, so fragt der Artikel "Marx’ Beitrag zum Wissen vom Menschen" umgekehrt nach den psychologischen Einsichten, die sich direkt oder indirekt aus den Marxschen Schriften ergeben. So unterscheide Marx bereits zwischen zwei Arten von Trieben: solchen, die zum Menschen unter allen Umständen gehören, und anderen, die erst durch bestimmte Umstände erzeugt werden. Im Denken Fromms spiegelt sich dies in der Unterscheidung zwischen existenziellen und historischen Bedürfnissen wider. Der Beitrag zeugt von Fromms Jahrzehnte dauernden Beschäftigung mit dem Denken von Karl Marx.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Marx’ Beitrag zum Wissen vom Menschen

(Marx’s Contribution to the Knowledge of Man)

Erich Fromm
(1968h)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel: Marx’s Contribution to the Knowledge of Man, in: Science Information, Den Haag 7 (No. 3, 1968), S. 7-17. Wiederabdruck in E. Fromm, The Crisis of Psychoanalysis. Essays on Freud, Marx and Social Psychology bei Holt, Rinehart and Winston, New York, 1970, S. 46-58. Aus dem Amerikanischen von Rolf und Renate Wiggershaus übersetzt, erschien der Beitrag 1970 erstmals auf Deutsch unter dem Titel Marx’ Beitrag zum Wissen vom Menschen in: E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a), S. 145-161, beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. In neuer Übersetzung von Liselotte und Ernst Mickel 1981 veröffentlicht in Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA V, S. 421-432.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA V, S. 421-432.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1968 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Marx’ Beitrag zum Wissen vom Menschen oder – enger gefasst – zur Psychologie[1] ist ein Thema, dem man bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Im Gegensatz zu Aristoteles und Spinoza, deren ethische Schriften psychologische Abhandlungen sind, glaubt man von Marx, dass er sich um den einzelnen Menschen, seine Triebe und seinen Charakter, nicht viel gekümmert habe, sondern dass ihm nur die Gesetze der Gesellschaft und deren Entwicklung wichtig gewesen seien.

Die Unterschätzung von Marx’ Beitrag zur Psychologie hat mehrere Gründe. Erstens hat er seine psychologischen Ansichten nie in eine systematische Form gebracht. Sie sind daher über sein gesamtes Werk verteilt und müssten erst gesammelt werden, damit man ihren Zusammenhang erkennen kann. Zweitens werden das wahre Bild, das Marx vom Menschen hatte, und sein Beitrag zur Psychologie verdunkelt durch die grobe Fehlinterpretation seiner Ideen, als sei es ihm allein auf ökonomische Phänomene angekommen. Auch die falsche Auslegung des Materialismus spielt dabei eine Rolle, nach welcher Marx geglaubt haben soll, dass der Mensch von Natur aus vor allem von dem Streben nach wirtschaftlichem Profit angetrieben werde. Drittens kam Marx mit seiner dynamischen Psychologie zu früh, um genügend Aufmerksamkeit dafür zu finden. Erst zur Zeit Freuds wurde eine systematische Tiefenpsychologie entwickelt, und Freuds Psychoanalyse wurde zur wichtigsten dynamischen Psychologie. Freuds Popularität, die zu einem gewissen Grad auf seinem mechanistischen Materialismus zurückzuführen war, verhinderte, dass man den Kern der humanistischen Tiefenpsychologie von Marx erkannte. Andererseits wurde das Verständnis für die psychologischen Ansichten von Marx auch noch dadurch erschwert, dass die mechanistisch orientierte Experimentalpsychologie eine immer wichtigere Rolle spielte.

Wie hätte es auch anders sein können? Bei der modernen akademischen Psychologie und Experimentalpsychologie handelt es sich größtenteils um eine Wissenschaft, die sich mit dem entfremdeten Menschen befasste, den entfremdete Forscher mit entfremdeten und entfremdenden Methoden untersuchen. Die Psychologie von Marx, die sich auf die volle Erkenntnis der Tatsache der Entfremdung gründet, war imstande, diese psychologische Methode zu transzendieren, weil er in dem entfremdeten Menschen nicht den natürlichen Menschen, nicht den Menschen schlechthin sah. [V-422] Tatsächlich ist seine Psychologie für all jene ein Rätsel, die der Ansicht sind, dass Reflexologie und Konditionieren den Menschen letztlich erfassen. Vielleicht haben wir heute eine bessere Chance, Marx’ Beitrag zur Psychologie zu verstehen als je zuvor, einmal weil wir nicht mehr der Ansicht sind, dass wesentliche Erkenntnisse Freuds untrennbar mit den mechanistischen Bestandteilen seiner Theorie (z.B. mit seiner Libidotheorie) verbunden sind, und weil andererseits die Renaissance des humanistischen Denkens eine bessere Basis für das Verständnis der Marxschen humanistischen Psychologie bildet.

Es versteht sich von selbst, dass ich angesichts des geringen mir zur Verfügung stehenden Raumes nur eine kurze Zusammenfassung dessen geben kann, was ich für den Kern des Marxschen Beitrags zur Psychologie halte. Selbstverständlich sind außerdem viele Elemente seiner psychologischen Ideen bereits bei früheren Denkern zu finden, unter denen Spinoza, Goethe, Hegel und insbesondere Feuerbach nur einige der herausragenden Gestalten einer langen Reihe von Denkern im Osten und Westen sind.

Marx hat die Psychologie (in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten) „die natürliche Wissenschaft vom Menschen“ genannt, was gleichbedeutend ist mit einer „menschlichen Naturwissenschaft“ (MEGA I, 3, S. 123 = MEW Erg. I, S. 544). Er bedient sich der Vorstellung einer „menschlichen Natur“ quer durch sein gesamtes Werk bis hin zu den letzten Seiten von Das Kapital, wo er von Arbeitsbedingungen spricht, die sich „unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquaten Bedingungen vollziehen“ (MEW 25, S. 828). Während er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 vom „Wesen des Menschen“ oder vom „Gattungswesen“ Mensch spricht (MEGA I, 3, S. 113 = MEW Erg. I, S. 535), schränkt er bereits in Die Deutsche Ideologie die Bedeutung des Begriffes „Wesen“ dahingehend ein, dass er sagt: „das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum“ (MEGA I, 5, S. 535 = MEW 03a, S. 6) und in Das Kapital ersetzt er den Begriff „Wesen“ durch „die menschliche Natur im Allgemeinen“, die von der „in jeder Epoche historisch modifizierten Menschennatur“ zu unterscheiden sei (MEW 23, S. 637, Anm. 63). Trotz dieser wichtigen Differenzierung des Begriffs der menschlichen Natur, kann man doch nicht behaupten, dass Marx von diesem Begriff abwich.

Marx gibt auch eine Definition des „Wesens der menschlichen Natur“ bzw. der „Natur des Menschen im Allgemeinen“. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten definiert er den Gattungscharakter des Menschen als „freie bewusste Tätigkeit“ im Gegensatz zum Tier, „das mit seiner Lebenstätigkeit unmittelbar eins ist“ (MEGA I, 3, S. 88 = MEW Erg. I, S. 516). Marx verwendet den Begriff „Gattungscharakter“ in seinen späteren Schriften nicht mehr, weshalb er sich auch nicht mehr derselben Formulierungen bedienen kann. Nach wie vor aber legt er den Nachdruck auf die „Tätigkeit“ als Wesensmerkmal des nicht-verkrüppelten, nicht-fragmentierten Menschen. In Das Kapital sagt er vom Menschen, dass er „von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist“ (MEW 23, S. 346). „Aristoteles’ Definition (...) ist für das klassische Altertum ebenso charakteristisch als Franklins Definition, dass der Mensch von Natur Instrumentenmacher, für das Yankeetum“ (MEW 23, S. 346, Anm. 13). Wie in der Psychologie, so betont Marx auch [V-423] in der Philosophie die „Tätigkeit“ als Merkmal des Menschen. Auch meines Erachtens definiert man den Menschen am treffendsten damit, dass man ihn als ein Wesen der „Praxis“ versteht, worüber noch zu handeln sein wird.

Der erste Schritt, den Marx unternahm, den Begriff der menschlichen Natur in der einen oder anderen Form innerhalb seines Gesamtwerkes zu verwenden, würde nur wenig bedeuten, wenn er nicht noch einen zweiten, weit wichtigeren Schritt unternommen hätte, der für seine psychologische Theorie kennzeichnend ist. Ich meine die Tatsache, dass es sich bei ihm um eine dynamische, energetische Auffassung von der menschlichen Natur handelt. Er sieht den Menschen von Leidenschaften oder Trieben bewegt, obwohl sich dieser solcher Triebkräfte weitgehend nicht bewusst ist. Marx’ Psychologie ist eine dynamische Psychologie. Dies ist einerseits der Grund für ihre Verwandtschaft mit der Psychologie Spinozas und für seine Vorwegnahme Freuds und andererseits für ihren Gegensatz zu jeder Art von mechanistischer, behavioristischer Psychologie. Wie ich an späterer Stelle noch ausführlicher zu zeigen versuche, gründet sich Marx’ dynamische Psychologie in erster Linie auf die Bezogenheit des Menschen auf die Welt, auf seine Mitmenschen und die Natur im Gegensatz zur Psychologie Freuds, die sich auf das Modell des isolierten homme machine gründet.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120623
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Karl Marx Marxistische Theorie Wissen Psychoanalyse Sozialpsychologie
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