Die Medizin und die ethische Frage des modernen Menschen

Die Medizin und die ethische Frage des modernen Menschen

(Medicine and the Ethical Problem of Modern Man)

Erich Fromm
(1963c)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
aus dem Amerikanischen Carola Dietlmeier, überarbeitet von Rainer Funk

Erstveröffentlichung unter dem Titel Medicine and the Ethical Problem of Modern Man in: E. Fromm, The Dogma of Christ and Other Essays on Religion, Psychology and Culture, New York 1963 bei Holt, Rinehart and Winston; eine erste deutsche Übersetzung von Carola Dietlmeier brachte der Szczesny Verlag, München, 1965 heraus unter dem Titel Die Medizin und das ethische Problem des Menschen in: E. Fromm, Das Christusdogma und andere Essays; mit überarbeiteter Übersetzung fand der Beitrag 1981 Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), Band IX, S. 355-365.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 355-365.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1963 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Was versteht man unter „Ethik“?[1] Das Wort „Ethik“ leitet sich von einer sprachlichen Wurzel ab, die ursprünglich „Sitte“ bedeutet, und bezeichnet schließlich eine Wissenschaft, die sich mit den Idealvorstellungen und Werten der menschlichen Beziehungen befasst. Die Verwechslung von Sitte und Werten herrscht noch in vielen Köpfen vor.

Heute bringen die meisten Menschen Ethik in ihrem Bewusstsein mit Idealen, mit ethischen Normen in Verbindung, während sie faktisch aber das, was Sitte ist, als das Gute betrachten. Zwar verstehen wir bewusst unter einer ethischen Norm eine Sollensforderung, doch unbewusst halten wir das für richtig, was allgemein anerkannt ist. Wie wir wissen, ist das allgemein Anerkannte auch die bequemste Lösung – wenn auch nicht vom Standpunkt unseres Gewissens aus.

Manchmal wird Ethik nur auf das äußere Verhalten des Menschen bezogen. Ethik wird dann zu einem Kodex von gewissen wünschenswerten Verhaltensweisen. Wo dies geschieht, kann man Ethik aufgliedern und von medizinischer Ethik, von Betriebsethik, von militärischer Ethik sprechen. In all diesen Fällen ist in Wirklichkeit ein Verhaltenskodex gemeint, der sich auf eine bestimmte Situation bezieht und für sie gültig ist. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn immerhin sind Menschen, die sich an einem solchen Verhaltenskodex orientieren, denen vorzuziehen, die gar keinen haben, und hat ein guter Verhaltenskodex vor einem schlechten Vorrang.

Wenn wir aber unter Ethik das verstehen, was der Begriff in der großen philosophischen oder religiösen Tradition bedeutet, dann ist Ethik kein Verhaltenskodex, der für bestimmte Gebiete gültig ist. In dieser Tradition bedeutet Ethik eine besondere Orientierung, die im Menschen verwurzelt ist und daher nicht nur in Bezug auf diese oder jene Person oder diese oder jene Situation gültig ist, sondern für alle. Wenn die Buddhisten recht haben, dann ist sie nicht nur für alle Menschen gültig, sondern für alles Lebendige. Das Gewissen ist das Organ dieser ethischen Haltung. Sprechen wir von Ethik im Sinne der großen philosophischen und religiösen Tradition des Ostens und Westens, dann ist Ethik kein Verhaltenskodex, sondern eine Angelegenheit des Gewissens. Wenn wir diese Ansicht zu unserer eigenen machen, dann gibt es so etwas wie eine medizinische Ethik nicht. Es gibt nur eine universale menschliche Ethik, die [IX-356] auf spezifische menschliche Situationen anzuwenden ist. Wenn wir andererseits die medizinische Ethik von dem universalen Problem der Ethik trennen, dann besteht die Gefahr, dass die medizinische Ethik zu einem Kodex entartet, dessen wesentliche Funktion darin besteht, die Interessen der Ärzteschaft gegenüber denen der Patienten zu vertreten.