Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Der revolutionäre Charakter
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Der revolutionäre Charakter
(The Revolutionary Charakter)
Erich Fromm
(1963b)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
aus dem Amerikanischen Carola Dietlmeier, überarbeitet von Rainer Funk
Erstveröffentlichung unter dem Titel The Revolutionary Character in: E. Fromm, The Dogma of Christ and Other Essays on Religion, Psychology and Culture, New York 1963 (Holt, Rinehart and Winston); eine erste deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Der revolutionäre Charakter in: E. Fromm, Das Christusdogma und andere Essays, München 1965, beim Szczesny Verlag; mit überarbeiteter Übersetzung wiederabgedruckt in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, Band IX, S. 343-353.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 343-353.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1963 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Der Begriff des „revolutionären Charakters“ ist ein politisch-psychologischer.[1] In dieser Hinsicht ähnelt er dem Begriff des autoritären Charakters, der in den dreißiger Jahren in der Psychologie eingeführt wurde. Letzterer verband eine politische Kategorie, die der autoritären Struktur in Staat und Familie, mit einer psychologischen Kategorie, der Charakterstruktur, die die Grundlage für eine derartige politische und soziale Struktur schafft.
Der Begriff des autoritären Charakters wurde im Zusammenhang mit politischen Interessen formuliert. Um das Jahr 1930 fand unter meiner Leitung eine Untersuchung bei deutschen Arbeitern und Angestellten statt, die auch darüber Auskunft geben sollte, welche Chancen bestünden, dass Hitler bei einer Wahl von der Mehrheit der Deutschen abgelehnt würde.[2] 1930 sprach sich die Mehrheit des deutschen Volkes – vor allem die Arbeiter und Angestellten – gegen den Nazismus aus. Wie sich bei den politischen Wahlen und bei Betriebsratswahlen gezeigt hatte, standen sie auf der Seite der Demokratie. Die Frage aber war, ob sie auch für ihre Ideen kämpfen würden, falls es zum Kampf käme. Wir gingen davon aus, dass es zwei verschiedene Dinge sind, ob jemand eine bestimmte politische Meinung bekundet, und ob diese auch eine tief sitzende Überzeugung ist. Jeder kann sich zwar eine Meinung bilden, ebenso wie man eine fremde Sprache erlernen oder eine fremde Sitte annehmen kann, aber nur Meinungen, die in der Charakterstruktur des Menschen verwurzelt sind und hinter denen die Energie seines Charakters steht, werden zu Überzeugungen. Ideen werden leicht übernommen, wenn die Mehrheit sie vertritt, ihre Auswirkungen aber sind weitgehend von der Charakterstruktur des Menschen in einer kritischen Situation abhängig. Wie Heraklit sagte und Freud bewies, ist der Charakter des Menschen sein Schicksal. Die Charakterstruktur bestimmt, welche Ideen ein Mensch wählt, und sie bestimmt auch die Kraft der Idee, die er wählt. Darin liegt in der Tat die große Bedeutung des Freudschen Charakterbegriffs, dass er über die traditionelle Auffassung des Verhaltens hinausgeht und sich mit jenem Verhalten befasst, das dynamisch bestimmt ist, so dass der Mensch nicht nur in gewissen Bahnen denkt, sondern schon der Gedanke in seinen Neigungen und Emotionen verwurzelt ist.
Die Frage, die wir uns damals stellten, lautete: Inwieweit haben die deutschen [IX-344] Arbeiter und Angestellten eine Charakterstruktur, die der autoritären Idee des Nazismus widerstrebt? Das schloss eine weitere Frage ein: Inwieweit werden die deutschen Arbeiter und Angestellten im kritischen Augenblick gegen den Nazismus kämpfen? Die Studie ergab, dass etwa zehn Prozent der deutschen Arbeiter und Angestellten das besaßen, was wir eine autoritäre Charakterstruktur nennen; etwa 15 Prozent hatten eine demokratische Charakterstruktur, und die große Mehrheit – etwa 75 Prozent – waren Menschen, deren Struktur eine Mischung aus beiden Extremen darstellte.[3]
Die theoretische Annahme war, dass die Autoritären glühende Nazis, die „Demokratischen“ militante Antinazis und die Mehrheit weder das eine noch das andere sein würden. Sie war mehr oder minder zutreffend, wie die Ereignisse in den Jahren zwischen 1933 und 1945 gezeigt haben. (Die Frage wurde von Th. W. Adorno et al. (1950) mit wesentlich verfeinerten Methoden untersucht.)
Für unseren Zweck mag die Angabe genügen, dass die autoritäre Charakterstruktur einen Menschen kennzeichnet, dessen Erleben von Stärke und Identität auf einer symbiotischen Unterordnung unter Autoritäten und auf der gleichzeitigen symbiotischen Herrschaft über alle seiner Autorität Unterworfenen basiert. Der autoritäre Charakter fühlt sich also stark, wenn er sich der Autorität unterwerfen und ein Teil von ihr werden kann, wobei die Autorität (durch die Realität teilweise unterstützt) aufgebläht und vergöttlicht wird und er zugleich sich selbst aufbauscht, indem er sich jene, die seiner Autorität unterworfen sind, einverleibt. Es handelt sich um einen Zustand sadomasochistischer Symbiose, die ihm das Gefühl von Stärke und Identität verleiht. Weil er ein Teil des „Großen“ (was immer es sein mag) ist, wird er selbst groß; wäre er allein, auf sich gestellt, so würde er zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Deshalb erlebt der autoritäre Charakter eine Bedrohung der Autorität und seiner eigenen autoritären Struktur als eine Bedrohung seiner selbst – als Bedrohung seiner geistigen Gesundheit. So ist er gezwungen, gegen die Bedrohung des Autoritären ebenso zu kämpfen, wie er gegen die Bedrohung seines Lebens oder seiner geistigen Gesundheit kämpfen würde.
Wenn ich mich jetzt dem Begriff des revolutionären Charakters zuwende, so möchte ich zunächst klarstellen, was der revolutionäre Charakter meiner Ansicht nach nicht ist. Ganz offensichtlich ist der revolutionäre Charakter nicht identisch mit dem Menschen, der an Revolutionen teilnimmt. Das ist genau der Unterscheidungspunkt zwischen Verhalten und Charakter im dynamischen Sinne Freuds.[4] Aus einer Reihe von Gründen kann jeder, ganz gleich, was er fühlt, an einer Revolution teilnehmen, vorausgesetzt, dass er sie aktiv unterstützt. Aber die Tatsache, dass er als Revolutionär handelt, sagt wenig über seinen Charakter aus. [IX-345]
Der zweite Teil der Bestimmung, was der revolutionäre Charakter nicht ist, ist etwas komplizierter. Der revolutionäre Charakter ist kein Rebell. Was will ich damit sagen? Ich würde den Rebellen als einen Menschen kennzeichnen, der einen tiefen Groll gegen die Autorität hegt, weil sie ihn nicht schätzt, nicht liebt, nicht akzeptiert (vgl. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit (1941a), GA I, S. 316°f.). Der Rebell will die Autorität aus Ressentiment stürzen und sich selbst zur Autorität anstelle der gestürzten machen. Sehr oft schließt er in dem Augenblick, in dem er sein Ziel erreicht, Freundschaft mit eben der Autorität, die er vorher so heftig bekämpft hat.
Der charakterologische Typ des Rebellen ist in der politischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ziemlich gut bekannt. Betrachten wir nur eine Gestalt wie Ramsey MacDonald, der als Pazifist und Kriegsdienstverweigerer begann. Als er genügend Macht erreicht hatte, verließ er die Labour Party und verbündete sich mit der viele Jahre bekämpften Autorität, wobei er zu seinem Freund und früheren Genossen Snowdon am Tag seines Eintritts in die Regierung sagte: „Jede Herzogin in London wird mich heute auf beide Wangen küssen wollen.“ Hier haben wir den klassischen Typ des Rebellen, der die Rebellion benutzt, um selbst Autorität zu werden.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120609
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (August)
- Schlagworte
- Erich Fromm Autorität Gesellschaft Psychoanalyse Sozialpsychologie