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Die prophetische Auffassung vom Frieden

The Prophetic Concept of Peace

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

"Die prophetische Auffassung vom Frieden" entstand als Beitrag Fromms für die Festschrift zu Ehren von Daisetz T. Suzuki, dem langjährigen zen-buddhistischen Meister und Freund von Erich Fromm. Die beschriebene prophetische Auffassung ist für Fromm das Herzstück der alttestamentlichen Tradition überhaupt. Sie zeichnet deshalb in gleicher Weise die westliche wie die östliche Tradition aus, die durch die zen-buddhistische Weisheit gekennzeichnet ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die prophetische Auffassung vom Frieden

(The Prophetic Concept of Peace)

Erich Fromm
(1960d)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
aus dem Amerikanischen Carola Dietlmeier, überarbeitet von Rainer Funk

Erstmals erschienen 1960 unter dem Titel The Prophetic Concept of Peace, in: S. Yamaguchi (Hg.), Buddhism and Culture. A Festschrift in Honor of D. T. Suzuki, Kyoto (Norkano Press), S. 163-169, und 1963 wiederabgedruckt in E. Fromm: The Dogma of Christ and Other Essays, New York (Holt, Rinehart and Winston). Eine deutsche Übersetzung von Carola Dietlmeier erschien erstmals 1965 in: E. Fromm, Das Christusdogma und andere Essays, beim Szczesny Verlag in München. Mit verbesserter Übersetzung fand der Beitrag 1980 Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), Band VI, S. 69-75.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 69-75.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1960 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Selbst wenn Frieden[1] nichts anderes bedeutete als Abwesenheit von Krieg, Hass, Mord und Wahnsinn, würde er zu den höchsten Zielen gehören, die sich der Mensch setzen kann. Wenn man aber die spezifisch prophetische Auffassung vom Frieden verstehen will, so muss man einige Schritte weitergehen und erkennen, dass der prophetische Friedensbegriff nicht nur Abwesenheit des Krieges bedeutet, sondern ein geistiger und philosophischer Begriff ist. Er gründet sich auf die prophetische Vorstellung vom Menschen, von der Geschichte und der Erlösung; seine Wurzeln reichen zurück in die Geschichte der Erschaffung des Menschen und seines Ungehorsams gegen Gott, wie sie im Buch Genesis geschildert werden, und er findet seinen Höhepunkt in der Vorstellung von der messianischen Zeit.

Vor Adams Fall, d.h. ehe der Mensch seine Vernunft und das Bewusstsein seiner selbst besaß, lebte er in völliger Harmonie mit der Natur. „Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2,25). Das bedeutet: Sie waren getrennt, aber sie waren sich dessen nicht bewusst. Der erste Akt des Ungehorsams, der auch den Beginn der menschlichen Freiheit darstellt, „öffnet seine Augen“, der Mensch weiß das Gute vom Bösen zu unterscheiden, er ist sich seiner selbst und seines Mitmenschen bewusst geworden. Die Geschichte der Menschheit hat begonnen. Aber der Mensch wird wegen seines Ungehorsams – das Wort „Sünde“ erscheint nicht im Bibeltext – von Gott verflucht. Worin besteht dieser Fluch? Feindschaft und Kampf werden erklärt: zwischen Mensch und Tier („Feindschaft stifte ich zwischen dir – der Schlange – und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse“ – Gen 3,15), zwischen Mensch und Ackerboden („So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Mit Schweiß im Gesicht wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden“ – Gen 3, 17b-19), zwischen Mann und Frau („Dich verlangt nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen“ – Gen 3,16b), zwischen der Frau und ihren eigenen natürlichen Funktionen („unter Schmerzen gebierst du Kinder“ – Gen 3,16a). Die ursprüngliche, vor-individuelle Harmonie ist ersetzt durch Konflikt und Kampf. [VI-070]

Der Mensch muss sich als ein Fremder in der Welt, als sich und der Natur entfremdet erfahren, um imstande zu sein, wieder eins zu werden mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen, mit der Natur. Er muss die Kluft zwischen sich als Subjekt und der Welt als Objekt als Voraussetzung für die Überbrückung eben dieser Kluft erfahren. Seine erste Sünde, der Ungehorsam, ist seine erste Tat der Freiheit; sie ist der Beginn der Menschheitsgeschichte. In der Geschichte entwickelt sich der Mensch, tritt er in Erscheinung. Er entwickelt seine Vernunft und seine Fähigkeit zu lieben. Er erschafft sich selbst im Prozess der Geschichte, der mit seiner ersten Tat der Freiheit begann, die die Freiheit war, ungehorsam zu sein, „nein“ zu sagen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120593
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Daisetz T. Suzuki Zen Buddhismus Frieden Psychoanalyse Sozialpsychologie
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Titel: Die prophetische Auffassung vom Frieden