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Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 13.8.2015
ISBN: eBook 9783959120579
Format: ePUB
Der Beitrag "Der Mensch ist kein Ding" wurde von Fromm selbst als einer seiner wichtigsten Aufsätze angesehen (weshalb er immer wieder auf ihn verweist). Es gehe darum, die Psychologie in ihrer Begrenztheit zu sehen, statt den Menschen psychologisch „dingfest“ machen zu wollen und wie eine Reiz-Reaktionsmaschine zu begreifen. Fromms Hauptthese lautet: Das „legitime Ziel der Psychologie ist ein negatives: die Beseitigung von Entstellungen und Illusionen, nicht ein positives, nämlich die volle und ganze Kenntnis des menschlichen Wesens“. Gerade die Psychologie stehe in der Gefahr, den Menschen zu verdinglichen, wenn sie sich nicht als „negative Psychologie“ verstehe.
(Man Is Not a Thing)
Erich Fromm
(1957a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
aus dem Amerikanischen Carola Dietlmeier, überarbeitet von Rainer Funk
Erstveröffentlichung unter dem Titel Man Is Not a Thing, in: Saturday Review, New York 40 (16. 3. 1957), S. 9-11, dann in leicht veränderter Fassung unter dem Titel On the Limitations and Dangers of Psychology, in: W. Leibrecht (Hg.), Religion and Culture. Essays in Honor of Paul Tillich, New York (Harper and Bros.), 1959, sowie 1963 in E. Fromm: The Dogma of Christ and Other Essays, New York (Holt, Rinehart and Winston). In deutscher Übersetzung erschien der Beitrag erstmal 1965 unter dem Titel Über die Grenzen und Gefahren der Psychologie in: E. Fromm, Das Christusdogma und andere Essays, beim Szczesny Verlag. Die von Carola Dietlmeier besorgte Übersetzung fand in überarbeiteter Form Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1980, Band VIII, S. 21-26.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VIII, S. 21-26.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1957 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Die wachsende Popularität der Psychologie[1] in unseren Tagen wird von vielen als vielversprechendes Zeichen dafür gewertet, dass wir uns der Verwirklichung der delphischen Forderung „Erkenne dich selbst“ nähern. Ohne Zweifel gibt es Anhaltspunkte für diese Auffassung. Der Gedanke der Selbsterkenntnis wurzelt in der griechischen und jüdisch-christlichen Tradition. Er ist Bestandteil einer aufklärerischen Haltung. James und Freud waren tief in dieser Tradition verwurzelt, und sie haben zweifellos dazu beigetragen, diesen positiven Aspekt der Psychologie in unsere Gegenwart hineinzutragen. Diese Tatsache darf aber nicht dazu führen, gewisse andere Aspekte des gegenwärtigen Interesses an der Psychologie zu ignorieren, die für die geistige Entwicklung des Menschen gefährlich und zerstörerisch sind. Von eben diesen Aspekten handelt der folgende Beitrag.
In der kapitalistischen Gesellschaft hat die Menschenkenntnis eine besondere Funktion angenommen, eine Funktion und Bedeutung, die sich von dem Sinn des „Erkenne dich selbst“ ziemlich unterscheidet.
Die kapitalistische Gesellschaft hat ihren Mittelpunkt im Markt – dem Waren- und dem Arbeitsmarkt –, auf dem Waren und Dienstleistungen ohne Rücksicht auf traditionelle Normen und ohne Zwang oder Betrug frei ausgetauscht werden. Dafür bekommen Erkenntnisse über den Verbraucher überragende Bedeutung für den Verkäufer. Wenn das schon vor 50 oder 100 Jahren wichtig war, um wie viel mehr sind Kenntnisse über den Verbraucher in den letzten Jahrzehnten wichtig geworden. Durch die zunehmende Konzentration der Unternehmen und des Kapitals wird es immer dringlicher, die Wünsche des Verbrauchers im Voraus zu kennen, sie nicht nur zu kennen, sondern auch zu beeinflussen und zu manipulieren. Kapitalinvestitionen im Ausmaß moderner Riesenunternehmen werden nicht auf einen „Wink“ hin gemacht, sondern nach gründlicher Erforschung und Manipulation des Kunden. Neben der Kenntnis über den Verbraucher („Marktpsychologie“) ist ein neues Gebiet der Psychologie entstanden, das das Ziel verfolgt, den Arbeiter und Angestellten zu verstehen, um ihn zu manipulieren. Dieses Gebiet ist das der human relations. Es ist die logische Konsequenz aus dem veränderten Verhältnis von Kapital und Arbeit. An die Stelle der rohen Ausbeutung ist die Zusammenarbeit zwischen den Giganten – den [VIII-022] Unternehmen und der Gewerkschaftsbürokratie – getreten, die beide zu der Überzeugung gelangt sind, dass es für sie auf Dauer vorteilhafter ist, Kompromisse zu schließen, als sich gegenseitig zu bekämpfen. Zudem hat man festgestellt, dass ein zufriedener, „glücklicher“ Arbeiter produktiver arbeitet und zum reibungslosen Ablauf beiträgt, der für die Großunternehmen unserer Tage nötig ist. Das breite Interesse für Psychologie und menschliche Beziehungen wird ausgenutzt; Arbeiter und Angestellte werden von Psychologen studiert und manipuliert. Was Taylor für die Rationalisierung der körperlichen Arbeit tat, das tun die Psychologen für den geistigen und emotionalen Bereich des Arbeiters. Der Arbeiter wird verdinglicht, d.h. behandelt und manipuliert wie ein Ding, und die sogenannten „menschlichen Beziehungen“ sind in Wirklichkeit die allerunmenschlichsten, weil sie „materialisierte“ und entfremdete Beziehungen sind.
Von der Manipulation der Verbraucher, der Arbeiter und Angestellten ausgehend, hat sich das Interesse der Psychologie auf die Manipulation aller ausgedehnt. Dies ist am deutlichsten in der Politik zu erkennen. Die Idee der Demokratie hatte ursprünglich ihren Schwerpunkt in dem Begriff des klar denkenden und verantwortlichen Staatsbürgers, in der Praxis aber wird die Demokratie mehr und mehr mit den Methoden manipuliert, die zuerst in der Marktforschung und den human relations entwickelt worden sind.