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Geschlecht und Charakter

Sex and Character

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Zwischen1943 und 1951 entstanden drei Beiträge, in denen sich Fromm mit sexualpsychologische Fragen auseinandersetzt. Genauer gesagt, mit der Frage des Selbstverständnisses der Geschlechter und der Frage des Unterschieds der Geschlechter. Hintergrund für die Entstehung der Beiträge ist Fromms Abkehr von der Freudschen Sexualtheorie. Mitte der Dreißiger Jahre erkannte Fromm, dass unsere Gefühle und psychischen Strebungen nur sehr wenig mit dem Sexualtrieb zu tun haben, aber sehr viel mit der Art und Weise, wie wir auf die Wirklichkeit und andere Menschen bezogen sind.
So stellte sich die Frage neu, welche Rolle die Sexualität und die Genderfrage für die Charakterbildung spielen. Im Beitrag "Geschlecht und Charakter" geht es um die psychologische Genderfrage aufgrund der unterschiedlichen biologischen Beschaffenheit von Mann und Frau.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Geschlecht und Charakter

(Sex and Character)

Erich Fromm
(1943b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
aus dem Amerikanischen Carola Dietlmeier, überarbeitet von Rainer Funk

Erstveröffentlichung unter dem Titel Sex and Charakter, in: Psychiatry, Washington, Jahrgang 6 (1943) S. 21-31. Eine deutsche Übersetzung, besorgt von Carola Dietlmeier, erschien erstmals 1965 beim Szczesny Verlag in München unter dem Titel Geschlecht und Charakter in E. Fromm, Das Christusdogma und andere Essays, S. 101-120. Mit überarbeiteter Übersetzung wurde der Beitrag 1980 in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA VIII, S. 365-376 aufgenommen.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VIII, S. 365-376.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1943 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fomm 2015 by Rainer Funk.

Die These von den angeborenen Unterschieden zwischen den beiden Geschlechtern, die zwangsläufig zu grundsätzlichen Unterschieden in Charakter und Schicksal führen müssen, ist sehr alt.[1] Das Alte Testament macht zur Eigenart und zum Fluch der Frau, dass es sie nach dem Mann verlangt und er über sie herrschen wird, während vom Mann gesagt wird, dass er unter Mühsal vom Ackerboden essen wird (Gen 3,16°f.). Aber der biblische Bericht enthält auch die umgekehrte These: Der Mensch wurde als Ebenbild Gottes geschaffen, und nur zur Strafe für den Sündenfall von Mann und Frau – hinsichtlich ihrer moralischen Verantwortung waren sie gleichgestellt! – wurden sie mit dem Fluch des Konflikts und ewiger Verschiedenheit belegt. Beide Ansichten, die der grundlegenden Verschiedenheit und die ihrer grundlegenden Gleichartigkeit wurden durch die Jahrhunderte hindurch wiederholt – ein Zeitalter oder eine philosophische Schule betonte die eine, ein anderes die entgegengesetzte These. Das Problem gewann zunehmende Bedeutung in den philosophischen und politischen Diskussionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Vertreter der Aufklärungsphilosophie vertraten den Standpunkt, dass es keine angeborenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gebe („I’âme n’a pas de sexe“); alle zu beobachtenden Unterschiede seien durch Unterschiede in der Erziehung bedingt und seien – wie man heute sagen würde – kulturelle Unterschiede. Romantische Philosophen des frühen neunzehnten Jahrhunderts betonten hingegen das genaue Gegenteil. Sie analysierten die Charakterunterschiede zwischen Mann und Frau und erklärten, die fundamentalen Unterschiede seien das Ergebnis angeborener biologischer und physiologischer Unterschiede. Sie behaupteten, diese Charakterunterschiede gebe es in jeder vorstellbaren Kultur.

Ohne Rücksicht auf den Wert ihrer Argumente – jene der Romantiker waren oft sehr tiefgreifend – hatten beide einen politischen Inhalt. Die Philosophen der Aufklärung, vor allem die Franzosen, wollten eine Lanze brechen für die soziale und in gewissem Maß auch für die politische Gleichheit von Mann und Frau. Sie führten das Fehlen angeborener Unterschiede als Argument für ihre Sache an. Die Romantiker, die politisch reaktionär waren, benutzten ihre Analyse des „Wesens“ der menschlichen Natur als Beweis für die Notwendigkeit der politischen und sozialen Ungleichheit. Zwar [VIII-366] schrieben sie „der Frau“ sehr bewundernswerte Eigenschaften zu, bestanden aber darauf, dass ihre Charaktermerkmale sie ungeeignet zur Teilnahme am sozialen und politischen Leben auf gleicher Stufe mit dem Mann machten.

Der politische Kampf um die Gleichberechtigung der Frau endete nicht im neunzehnten Jahrhundert und ebenso wenig die theoretische Diskussion über den angeborenen oder kulturellen Charakter ihrer Verschiedenheit. In der modernen Psychologie wurde Freud der freimütigste Vertreter der Sache der Romantiker. Während bei diesen die Beweisführung in eine philosophische Sprache gekleidet war, stützte sich Freud auf die wissenschaftliche Beobachtung der Patienten während der psychoanalytischen Behandlung. Er nahm an, dass der anatomische Unterschied der Geschlechter die Ursache unveränderlicher Charakterunterschiede sei. „Die Anatomie ist das Schicksal“, sagt Freud (1924d, S. 400), einen Ausspruch Napoleons abwandelnd, von der Frau. Er ging davon aus, dass das kleine Mädchen bei der Entdeckung, dass ihm das männliche Geschlechtsorgan fehlt, zutiefst bestürzt und beeindruckt sei, dass es fühle, es fehle ihm etwas Wesentliches, dass es die Männer um das beneide, was das Schicksal ihm versagte, dass es im normalen Verlauf der Entwicklung versuche, sein Minderwertigkeits- und Neidgefühl zu überwinden, indem es das männliche Glied durch andere Dinge ersetze: durch Mann, Kinder oder Besitztümer. Bei neurotischer Entwicklung gelinge es ihr nicht, solche Ersatzbefriedigungen zu finden. Sie bleibe neidisch auf alle Männer, gebe ihren Wunsch, ein Mann zu sein, nicht auf, werde homosexuell, hasse die Männer oder suche gewisse kulturell erlaubte Kompensationen. Aber auch bei normaler Entwicklung verschwinde das Tragische am Schicksal der Frau niemals völlig; sie sei verdammt durch den Wunsch nach etwas, das ihr das ganze Leben unerreichbar bleibe.

Obwohl orthodoxe Psychoanalytiker diese Theorie Freuds als einen Eckpfeiler ihres psychologischen Systems beibehielten, bestritt eine Gruppe von Psychoanalytikern, die sich an der Kulturwissenschaft orientierten, Freuds Erkenntnis. Sie deckten die klinischen und theoretischen Irrtümer in Freuds Gedankengängen auf, indem sie erklärten, dass zu den charakterologischen Folgen, die er biologisch erklärt hatte, kulturelle und persönliche Erfahrungen geführt hätten. Die Ansichten dieser Gruppe von Psychoanalytikern sind von den Forschungsergebnissen der Anthropologen bestätigt worden.

Trotzdem besteht eine gewisse Gefahr, dass einige Anhänger jener fortschrittlichen anthropologischen und psychoanalytischen Theorien ins Gegenteil verfallen und die Bedeutung biologischer Unterschiede für die Bildung der Charakterstruktur völlig leugnen. Sie mögen darin von denselben Motiven geleitet sein wie die Vertreter der französischen Aufklärung. Da die Gegner der Gleichheit der Frau das Argument der angeborenen Unterschiede vertreten, mag ein Beweis notwendig erscheinen, dass alle Unterschiede, die empirisch beobachtet werden können, auf kulturelle Ursachen zurückgehen.

Es sollte nicht übersehen werden, dass in dieser ganzen Kontroverse eine wichtige philosophische Frage enthalten ist. Die Tendenz, alle charakterologischen Unterschiede der Geschlechter zu leugnen, kann durch die stillschweigende Annahme einer Prämisse der anti-egalitären Philosophie verursacht sein: Um Gleichheit zu fordern, [VIII-367] muss man beweisen, dass es keine anderen charakterologischen Unterschiede der Geschlechter gibt als jene, die unmittelbar durch bestehende gesellschaftliche Bedingungen verursacht werden. Die ganze Diskussion ist verworren, weil die einen von Unterschieden sprechen, während die Reaktionären in Wirklichkeit Unzulänglichkeiten meinen – genauer gesagt, jene Unzulänglichkeiten, die es unmöglich machen, volle Gleichheit mit der herrschenden Gruppe zu erreichen. So wurde die angeblich beschränkte Intelligenz der Frau, ihre mangelnde Fähigkeit zur Organisation und Abstraktion oder zu einem kritischen Urteil vorgebracht, um die volle Gleichstellung mit dem Mann auszuschließen. Eine Richtung behauptete, die Frau besitze Intuition, Liebe usw., doch mache diese Fähigkeit sie für ihre Aufgabe in der modernen Gesellschaft nicht geeigneter. Dasselbe wird oft von Minoritäten wie den Schwarzen und den Juden behauptet. So wurde der Psychologe oder Anthropologe dazu gedrängt, den Beweis zu erbringen, dass zwischen Geschlechts- oder Rassengruppen keine grundlegenden Unterschiede bestehen, die irgendetwas mit der Ermöglichung voller Gleichheit zu tun haben. In dieser Lage neigt der liberale Denker dazu, das Vorhandensein irgendwelcher Unterschiede zu verkleinern.

Obgleich die Liberalen bewiesen, dass es keine Unterschiede gibt, die eine politische, wirtschaftliche und soziale Ungleichheit rechtfertigen, ließen sie sich doch in eine strategisch ungünstige Defensive drängen. Wenn man es als erwiesen ansieht, dass es keine sozial nachteiligen Unterschiede gibt, so muss man deshalb noch nicht annehmen, es gebe überhaupt keine Unterschiede. Die Frage muss dann vielmehr lauten: Welcher Gebrauch wird von bestehenden oder mutmaßlichen Unterschieden gemacht und welchen Zwecken dienen sie? Selbst wenn man zugibt, dass Frauen im Vergleich zu Männern gewisse charakterologische Unterschiede aufweisen – was bedeutet dies?

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120555
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Sexualität Charakter Freudsche Sexualtheorie Genderfrage Psychoanalyse Sozialpsychologie
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Titel: Geschlecht und Charakter