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Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Schon der junge Fromm hat sich intensiv mit matriarchalen und patriarchalen Gesellschaften befasst. Vor allem die Arbeiten von Johann Jakob Bachofen, aber auch jene von Lewis Henry Morgan und Robert Briffault stimulierten sein sozialpsychologisches Denken. Der wichtigste Beleg hierfür ist der vorliegende Aufsatz von 1934. In ihm handelt Fromm zunächst von der Rezeption der Mutterrechtstheorie. Sein besonderes Interesse gilt der Funktion der Sexualität im Gesellschaftsgefüge. Auch fragt er, welche Konsequenzen sich aus der Mutterrechtsforschung für das Verständnis der sozialen Struktur der Gegenwart und ihrer Wandlungen ergeben. Interessant ist auch, wie er den patrizentrischen und matrizentrischen Komplex im Protestantismus und Katholizismus wiederfindet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie

Erich Fromm
(1934a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie; zuerst erschienen in: Zeitschrift für Sozialforschung, Paris 3 (1934) S. 196-227. Erneut veröffentlicht 1970 in dem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Wiederabdruck 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA I, S. 85-109.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA I, S. 85-109.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1934 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

I

Das 1861 erschienene Buch Das Mutterrecht des Basler Professors Johann Jakob Bachofen[1] teilt ein bemerkenswertes Schicksal mit zwei fast gleichzeitig veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen: Darwins Entstehung der Arten (1858) und Marx’ Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). Alle drei Untersuchungen behandelten wissenschaftliche Spezialfragen, erregten aber weit über den Kreis der engeren Fachleute hinaus die Affekte von Wissenschaftlern und Laien. Für Marx und Darwin ist dieser Tatbestand ohne weiteres durchsichtig. Komplizierter liegt der Fall bei Bachofen. Einmal deshalb, weil das Problem des Matriarchats weit weniger mit den für die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft vitalen Interessen zu tun zu haben scheint als Marxismus und Darwinismus; zum anderen, weil die begeisterte Zustimmung zur matriarchalischen Theorie aus zwei weltanschaulich und politisch völlig entgegengesetzten Lagern kam. Zuerst wurde Bachofen entdeckt und gefeiert von sozialistischer Seite, von Marx, Engels, Bebel u.a.; dann, nach jahrzehntelangem fast völligem Totschweigen wurde er neu entdeckt und neu gefeiert von soziologisch und politisch entgegengesetzt eingestellten Philosophen wie Klages und Bäumler. Diesen Extremen stand in fast geschlossener Front der Ablehnung oder des Ignorierens die offizielle Wissenschaft gegenüber, bis hin zu Vertretern sozialistischer Anschauungen wie Heinrich Cunow. In den letzten Jahren hat das Problem des Mutterrechts eine dauernd wachsende Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion gespielt. In einer Reihe mehr oder minder ausführlicher Publikationen wurde das Problem immer häufiger behandelt, teils zustimmend, teils ablehnend, fast stets aber mit einem sichtbaren emotionellen Anteil der Autoren.[2]

Die folgenden Ausführungen wollen zu zeigen versuchen, warum das Problem des Matriarchats so starke Affekte auslöst oder, was dasselbe ist, welche vitalen gesellschaftlichen Interessen es berührt; weiterhin, welches die Hintergründe einerseits der revolutionären und andererseits der ihnen entgegengesetzten Sympathien für die Mutterrechtstheorie sind; endlich wollen sie andeuten, worin die Bedeutung des Problems für die Erforschung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur und ihrer Wandlungen liegt. [I-086]

Eine Gemeinsamkeit zwischen den Sympathien ist unschwer zu finden. Sie liegt in der Distanz zur bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Offenbar ist zumindest die Distanz notwendig, um überhaupt eine gesellschaftliche Struktur verstehen und aus den Zeugnissen von Mythen, Symbolen, Rechtsinstitutionen usw. entdecken zu können, falls diese Gesellschaft nicht nur in einzelnen Inhalten, sondern in ihren grundlegenden sozialpsychologischen Zügen radikal verschieden von der bürgerlichen Gesellschaft ist. Bachofen hat dies selbst sehr klar gesehen. In der Vorrede zu Das Mutterrecht (1954, S. 92) sagt er:

Die Erreichung eines solchen Resultats (gemeint ist das Verständnis der mutterrechtlichen Erscheinungen – E. F.) hängt hauptsächlich von einer Vorbedingung ab. Sie verlangt die Fähigkeit des Forschers, den Ideen seiner Zeit, den Anschauungen, mit welchen diese seinen Geist erfüllen, gänzlich zu entsagen und sich in den Mittelpunkt einer durchaus verschiedenen Gedankenwelt zu versetzen. (...) Wer die Anschauungen späterer Geschlechter zu seinem Ausgangspunkt wählt, wird durch sie vom Verständnis früherer immer mehr abgelenkt.

Die von Bachofen genannte Vorbedingung ist bei denjenigen gegeben, die diese Zeit verneinen, sei es, dass sie die Vergangenheit als ein verlorenes Paradies verherrlichen, sei es, dass sie an eine bessere Zukunft glauben. Aber in dieser Distanz zur Gegenwart dürfte wohl auch die einzige Gemeinsamkeit beider so verschiedener Anhänger der Matriarchatstheorie liegen. Die schroffe Gegensätzlichkeit dieser Gruppen in allen anderen wesentlichen Anschauungen weist darauf hin, dass in der Mutterrechtstheorie selbst wie in dem Gegenstand, den sie behandelt, ganz heterogene Elemente vorhanden sein müssen, von denen die eine Gruppe die einen, die andere davon verschiedene als entscheidend empfindet und zur Basis ihrer Vorliebe für die Matriarchatstheorie macht. Sicherlich liegt aber das Problem nicht so einfach, wie Bäumler es in seiner Abhandlung Bachofen, der Mythologe der Romantik (1926, S. CCIV°f. = 1965, S. 216°f.) sieht:

Wenn aber der Sozialismus Bachofen zusammen mit Morgan unter die Begründer seiner Geschichtsphilosophie zählt, die die Entwicklung der Menschheit mit kommunistischen Zuständen beginnen lässt, so kann man sich keine schlimmere Verkennung des Geistes, in dem Bachofen seine Forschungen unternahm, denken als diese... Der völlig der Vergangenheit zugewandte Romantiker Bachofen und der leidenschaftliche Revolutionär und Fanatiker der Zukunft Marx sind die größten Gegensätze des Neunzehnten Jahrhunderts... Es wäre zu begrüßen, wenn zukünftig der Name Bachofen in der Literatur des Sozialismus mit größerer Vorsicht gebraucht würde.

Einige Kenntnis der Dialektik hätte Bäumler belehren können, dass Gegensätze oft mehr miteinander zu tun haben, als er ahnt, und dass zum Verständnis ihrer Verwandtschaft mehr verlangt wird als „Vorsicht“.

II

Was begründet die besonderen Sympathien der romantisierenden, in ihren gesellschaftlichen Idealen rückläufig orientierten Schriftsteller, für die Mutterrechtstheorie? [I-087]

Engels hat auf einen Gesichtspunkt hingewiesen (F. Engels, 1962, S. 473-476), den er zum Kern seiner Kritik an Bachofen macht, nämlich auf seine religiöse Grundhaltung. Dieser selbst drückt sich deutlich genug aus:

Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Zivilisation: die Religion. Jede Hebung, jede Senkung des menschlichen Daseins entspringt aus einer Bewegung, die auf diesem höchsten Gebiete ihren Ursprung nimmt. (...) Die kultischen Vorstellungen sind das Ursprüngliche, die bürgerlichen Lebensformen Folge und Ausdruck. (J. J. Bachofen, 1954, S. 96 und 100.)

Wenn diese Haltung auch gewiss nicht typisch für Bachofen allein ist[3], so ist sie doch von grundlegender Bedeutung für seine Theorie, die eine enge Verbindung zwischen der Frau und dem religiösen Gefühl annimmt.

Dass die gynäkokratische Kultur vorzugsweise dieses hieratische Gepräge tragen muss, dafür bürgt die innere Anlage der weiblichen Natur, jenes tiefe ahnungsreiche Gottesbewusstsein, das, mit dem Gefühl der Liebe sich verschmelzend, der Frau, zumal der Mutter eine in den wildesten Zeiten am mächtigsten wirkende religiöse Weihe leiht. (J. J. Bachofen, 1954, S. 96.)

Hier wird also die religiöse Begabung selbst als besondere „Anlage“ der Frau angesehen und die Religion als ein für das Matriarchat spezifischer Zug aufgefasst. Allerdings sieht Bachofen in der Religion durchaus nicht nur eine Form des Bewusstseins und des Kultus. Es gehört vielmehr gerade zu seinen genialsten Leistungen, dass er eine bestimmte Struktur der menschlichen Psyche als einer bestimmten Religion zugeordnet ansieht, wenn er auch die Verhältnisse auf den Kopf stellt und die psychische Struktur aus der Religion hervorgehen lässt.

Die romantische Seite der Bachofenschen Theorie wird noch deutlicher in seiner rückwärts gewandten, das Glück in der Vergangenheit suchenden Einstellung. Sie drückt sich nicht nur darin aus, dass Bachofen seine Liebe und sein Interesse in hohem Maße der frühesten Vergangenheit der Menschheit zuwandte und diese idealisierte, sondern noch mehr darin, dass er als einen der wesentlichsten Züge der mutterrechtlichen Kultur ihre den Toten zugewandte Haltung preist. In seiner Darstellung des lykischen Mutterrechts sagt er,

dass die ganze Lebensrichtung eines Volkes wesentlich von seinem Verhalten gegenüber der Gräberwelt sich erkennen lässt. Die Ehre der Toten ist von der Hochachtung der Vorfahren, diese von der Liebe zu dem Herkommen und von einer vorzugsweise der Vergangenheit zugekehrten Geistesrichtung unzertrennlich. (J. J. Bachofen, 1926, S. 92.)

In dem mütterlich-tellurischen Mysterienkult findet er die „nachdrückliche Hervorhebung der finsteren Todesseite des Naturlebens“ verwurzelt, die für das matriarchalische Fühlen so charakteristisch ist. Auch Bäumler drückt diesen Gegensatz zwischen der romantischen und der revolutionären Haltung sehr deutlich aus:

Der Mensch, der Mythen verstehen will, muss ein durchdringendes Gefühl von der Macht der Vergangenheit haben, so wie der Mensch, der eine Revolution und Revolutionäre verstehen will, stärkstes Bewusstsein des Zukünftigen haben muss.[4] – Man [I-088] muss sich, um die Eigenart dieser Auffassung zu verstehen, immer vor Augen halten, dass es keineswegs die einzig mögliche Einstellung zur Geschichte ist. Auch aus dem Zeitgefühl der Zukunft kann eine Geschichtsanschauung entwickelt werden: die männlich-aktive, die bewusst handelnde, die revolutionäre. Nach dieser steht der Mensch frei und unabhängig in der Gegenwart da und bringt die Zukunft selbsttätig aus sich wie aus dem Nichts hervor. Nach jener ist er in den „Kreis der Geburten“, in die Überlieferung des Blutes und der Sitte eingereiht, Glied eines „Ganzen“, das sich nach rückwärts in unbekannte Fernen verliert. (...) Die Toten wollen dabei sein, wenn die Lebenden Beschlüsse fassen. Sie sind nicht ein für allemal gestorben und von der Erde verschwunden: die Ahnen sind, und sie raten und taten fort in der „Gemeinde“ der Enkel. (A. Bäumler, 1926, S. CXVIII = 1965, S. 118.)

Der entscheidende Zug der Bachofenschen Konzeption der matriarchalischen psychischen Struktur wie der dem Matriarchat zugeordneten chthonischen Religion ist die Stellung zur Natur, zum Stofflichen als Gegensatz zum Geistigen.

„Das Mutterrecht gehört dem Stoffe und einer Religionsstufe, die nur das Leibesleben kennt.“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 155.)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120548
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Gesellschaft Matriarchat Patriarchat Sexualität Psychoanalyse Sozialpsychologie
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Titel: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie