Lade Inhalt...

Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Der Artikel "Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie" ist ein „Must“ für alle, die den psychodynamischen Begriff des „Charakters“ kennenlernen wollen. Anders als das übliche Verständnis von Charakter, versteht die Psychoanalyse den Charakter als eine psychische Strukturbildung, die das Verhalten des Menschen, sein Denken, Fühlen und Handeln, antreibt und diesem eine ganz bestimmte Orientierung und Intentionalität verleiht. Die meisten Verhaltensäußerungen werden deshalb durch Charakterorientierungen determiniert, so dass nicht die Verhaltensäußerung, sondern die sich verhaltende Person und deren Charakterorientierung im Mittelpunkt des Interesses steht. Der frühe Aufsatz von Fromm macht zugleich deutlich, wie sich dieses Charakterverständnis nutzen lässt, um das Verhalten vieler Menschen als gleichförmig und ähnlich motiviert zu begreifen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die psychoanalytische Charakterologie
und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie

Erich Fromm
(1932b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie in Zeitschrift für Sozialforschung, Leipzig 1 (1932) S. 253-277. Erneut veröffentlicht 1970 in dem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Wiederabdruck 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA I, S. 59-77.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA I, S. 59-77.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1932 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Der Ausgangspunkt der Psychoanalyse war ein therapeutischer: Seelische Störungen wurden erklärt aus der Stauung und der dadurch hervorgerufenen pathologischen Verwendung der Sexualenergie im Symptom, bzw. aus der Abwehr von im Bewusstsein nicht zugelassenen, mit libidinösen Impulsen verknüpften Vorstellungen. Die Reihe: Libido → Abwehr durch verdrängende Instanz → Symptom war der rote Faden der frühen analytischen Untersuchungen. Damit verbunden war die Tatsache, dass Gegenstand der analytischen Untersuchung fast ausschließlich Kranke und in der Mehrzahl solche mit körperlichen Symptomen waren. Im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse trat neben diese Fragestellung die nach der Genese und Bedeutung bestimmter psychischer Eigenarten, die sich sowohl bei Kranken als auch bei Gesunden finden. Hier handelt es sich zwar, genau wie bei der ursprünglichen Fragestellung, um die Aufdeckung der triebhaften, libidinösen Wurzeln der psychischen Einstellung, aber die Reihe wird nicht in der Richtung: Verdrängung → Symptom, sondern in der Richtung: Sublimierung bzw. Reaktionsbildung → Charakterzug fortgesetzt. Diese Fragestellung musste sich gleich fruchtbar für das Verständnis des kranken wie des gesunden Charakters erweisen und damit in besonderem Maß für die Probleme der Sozialpsychologie wichtig werden.[1]

Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charakterologie ist, bestimmte Charakterzüge aufzufassen als Sublimierung bzw. Reaktionsbildung bestimmter sexueller (im erweiterten, von Freud so gebrauchten Sinn) Triebregungen bzw. als Fortsetzung bestimmter in der Kindheit diesen Triebregungen koordinierter Objektbeziehungen. Diese genetische Ableitung der psychischen Erscheinung aus libidinösen Quellen und frühkindlichen Erlebnissen ist das spezifisch analytische Prinzip, das die analytische Charakterologie mit der Neurosenlehre teilt; während aber das neurotische Symptom (wie auch der neurotische Charakter) das Ergebnis einer nicht geglückten Anpassung der Triebe an die gesellschaftliche Realität darstellt, handelt es sich bei dem nichtneurotischen Charakterzug um eine Verarbeitung libidinöser Regungen auf dem Wege der Reaktionsbildung oder Sublimierung in einer relativ stabilen und gesellschaftlich angepassten Weise. Der Unterschied zwischen dem normalen und dem neurotischen Charakter ist allerdings ein ganz fließender und in erster Linie vom Grad der gesellschaftlichen Unangepasstheit her zu bestimmen. [I-060]

Es kann an dieser Stelle das komplizierte Problem der Reaktionsbildung und Sublimierung nur angedeutet werden. Unter Reaktionsbildung ist zu verstehen die Aufrichtung einer dem ursprünglichen Triebziel entgegengesetzten, dieses abwehrenden und niederhaltenden Haltung, die selbst mehr oder weniger den Charakter der Sublimierung tragen kann.[2] Zur Sublimierung sei nur gesagt, dass Freud darunter die Ablenkung sexueller Impulse von ihren ursprünglichen sexuellen Zielen und ihre Hinwendung auf bzw. ihre Ersetzung durch andere, nicht-sexuelle, kulturelle Ziele begreift. Dies ist nicht so zu verstehen, dass aus Sexualität auf eine geheimnisvolle, „alchimistische“ Weise Charakter oder Intellekt entsteht, sondern dass sexuelle Energien auf andere Stellen des seelischen Apparats gelenkt und dort als Triebkraft in einer eigenartigen, noch kaum geklärten Verbindung mit Fähigkeiten des Ichs, psychische und geistige Qualitäten aufbauen helfen. Besonders wichtig ist es, nicht zu vergessen, dass Freud das Problem der Sublimierung am allerwenigsten mit der Sexualität im üblichen Sprachgebrauch, d.h. der genitalen Sexualität in Zusammenhang bringt, sondern vorwiegend mit den „prägenitalen“ Sexualstrebungen, d.h. der oralen und analen Sexualität und dem Sadismus.[3] Der Unterschied zwischen Reaktionsbildung und Sublimierung liegt im wesentlichen darin, dass die Reaktionsbildung immer die Funktion der Abwehr und Niederhaltung eines verdrängten Triebimpulses hat, aus dem sie auch ihre Energie bezieht, während die Sublimierung eine direkte Verarbeitung, eine „Kanalisierung“ der Triebregung darstellt.

Die Theorie der prägenitalen Sexualität, von Freud zum ersten Mal ausführlich in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. Freud, 1905d) dargestellt, geht von der Beobachtung aus, dass, noch bevor beim Kind die Genitalien eine entscheidende Rolle spielen, die Mundzone und die Afterzone als „erogene Zonen“ Träger von lustvollen, den genitalen Sensationen analogen Sensationen sind, dass sie im Laufe der Entwicklung teilweise ihre sexuelle Energie an die Genitalien abgeben, zum geringeren Teil diese Energien behalten, teils in ihrer ursprünglichen Form, teils in der Form von Sublimierungen und Reaktionsbildungen im Ich. Aufbauend auf diesen Beobachtungen der prägenitalen Sexualität veröffentlichte Freud 1908 einen kurzen Aufsatz über Charakter und Analerotik (S. Freud, 1908b), der die Grundlage der analytischen Charakterforschung bildet. Freud ging von der Beobachtung aus, dass man häufig in der Analyse einem Typus begegnet, der „durch das Zusammentreffen bestimmter Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten einer gewissen Körperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht“ (S. Freud, 1908b, S. 203). Er findet drei Charakterzüge – Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Eigensinn – bei solchen Individuen, in deren Kindheit die Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten eine besonders große Rolle spielt. Besonders betonte er die in der Neurose wie im Mythos, Aberglauben, Traum, Märchen [I-061] anzutreffende Gleichsetzung von Kot und Geld (Geschenk). Auf dieser grundlegenden Arbeit Freuds bauten sich eine Reihe Arbeiten anderer psychoanalytischer Autoren auf, die die Grundzüge einer, freilich noch in vielen Punkten unfertigen und hypothetischen, psychoanalytischen Charakterologie lieferten. (Vgl. O. Fenichel, 1931.)

Bevor wir zur Darstellung der für den Soziologen wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeiten kommen, soll auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, der in manchen dieser Arbeiten nicht oder zu wenig deutlich hervortritt und dessen Betonung ein besseres Verständnis dieser Untersuchungen ermöglicht: die Unterscheidung zwischen Sexualziel und Sexualobjekt, bzw. zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen. Freud bringt die Sexualtriebe in einen engen Zusammenhang mit den „erogenen Zonen“[4] und nimmt an, dass die Sexualtriebe durch Reizung an diesen erogenen Zonen hervorgerufen werden. In der ersten Lebensperiode steht die Mundzone und die mit ihr verknüpften Funktionen – Saugen und Beißen –, dann, nach der Säuglingsperiode, die Afterzone mit ihren Funktionen – Stuhlentleerung bzw. Stuhlzurückhaltung – und vom 3. bis 5. Jahr die Genitalzone im Zentrum der Sexualität. (Diese erste Blüte der genitalen Sexualität hat Freud als „phallische Phase“ bezeichnet, weil er annimmt, dass in dieser Zeit für beide Geschlechter allein der Phallus bzw. die phallisch erlebte Klitoris eine Rolle spielt, mit der Tendenz zum Eindringen und Zerstören. Nach einer „Latenzzeit“, die etwa bis zur Pubertät dauert, kommt es dann im Zusammenhang mit der körperlichen Reifung zur Entwicklung der eigentlichen genitalen Sexualität, der die prägenitalen Sexualstrebungen unter-, bzw. eingeordnet werden, d.h. zur endgültigen Herstellung des „Primats“ der Genitalität). Von dieser Organerotik, d.h. also von der an eine bestimmte Körperzone bzw. eine bestimmte mit dieser Zone verknüpfte Funktion gebundenen Organlust, sind die Objektbeziehungen zu unterscheiden, d.h. die (liebenden oder hassenden) Einstellungen zu den dem Menschen gegenübertretenden Mitmenschen, bzw. der eigenen Person, mit anderen Worten die Gefühlseinstellung und -haltung zur Umwelt überhaupt. Auch die Objektbeziehungen haben einen typischen Verlauf: Nach Freud ist der Säugling vorwiegend narzisstisch eingestellt, nur auf sich und die Befriedigung seiner Bedürfnisse bedacht; in einer zweiten Periode, nach dem Ende der Säuglingszeit etwa, mehren sich sadistische, objektfeindliche Züge, die auch noch in der phallischen Phase eine wichtige Rolle spielen. Erst mit dem Primat der Genitalität in der Pubertät treten objektfreundliche, liebende Züge eindeutig in den Mittelpunkt. Die Objektbeziehungen werden in einen engen Zusammenhang mit den erogenen Zonen gebracht. Dieser Zusammenhang ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sich spezifische Objektbeziehungen zuerst in Verbindung mit bestimmten erogenen Zonen entwickeln und dass diese Verbindung durchaus keine zufällige ist. Ohne aber an [I-062] dieser Stelle das Problem diskutieren zu wollen, ob der Zusammenhang ein so enger ist, wie es vielfach in der psychoanalytischen Literatur dargestellt wird, oder ob und inwieweit nicht die für eine erogene Zone typische Objektbeziehung auch unabhängig von den besonderen Schicksalen dieser erogenen Zone sich entwickeln kann, soll Wert darauf gelegt werden, prinzipiell zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen zu unterscheiden; in der nun folgenden Darstellung sollen, bevor die analytischen Befunde über die oralen, analen und genitalen Charakterzüge dargestellt werden, die komponierenden Elemente, nämlich die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Organlust und die koordinierten typischen Objektbeziehungen eine getrennte Darstellung finden.[5]

Der in der ersten Lebensperiode zentrale Sexualtrieb ist die Oralerotik. Beim Kind findet sich ein starkes Lust- und Befriedigungsgefühl, das ursprünglich mit dem Saugen („Wonnesaugen“), später mit dem Beißen und Kauen, mit dem In-den-Mund-Nehmen und Verschlingenwollen von Gegenständen verknüpft ist. Die nähere Beobachtung zeigt, dass es sich hier keineswegs nur um eine Äußerung des Hungers handelt, sondern dass das Saugen, Beißen, Verschlingenwollen darüber hinaus eine an sich lustvolle Betätigung darstellt. Freud nahm schon in seinen Drei Abhandlungen (S. Freud, 1905d) an, dass die Mundzone eine der sog. „erogenen Zonen“ sei, die, im Anschluss an die Vorgänge der Nahrungsaufnahme, am frühesten die Basis intensiver libidinöser Bedürfnisspannungen und Befriedigungen darstellt. Wenn auch die direkten oralerotischen Bedürfnisse und Befriedigungen nach der „Säuglings“-zeit abnehmen, so bleiben doch mehr oder weniger große Reste auch in der späteren Kindheit und beim Erwachsenen erhalten. Es sei hier nur an das oft weit über die Säuglingszeit auftretende Daumenlutschen oder an das Nägelkauen erinnert, ferner aber, um von etwas ganz „Normalem“ zu sprechen, an das Küssen oder an die starken libidinösen, oralerotischen Wurzeln des Rauchens.

Insoweit die Oralerotik nicht in ursprünglicher Form erhalten bleibt und andererseits doch nicht von anderen sexuellen Impulsen abgelöst wird, tritt sie uns in Reaktionsbildungen oder Sublimierungen entgegen. Von den Sublimierungen sei nur eines der wichtigsten Beispiele hier genannt: die Verschiebung der kindlichen Saugelust auf das geistige Gebiet. An Stelle der Milch tritt das Wissen. Die Sprache drückt diesen Zusammenhang aus, wenn sie davon spricht, dass man „an den Brüsten der Weisheit schlürft“ oder „von der Milch der frommen Denkungsart“ trinkt. Diese symbolische Gleichsetzung von Trinken und geistigem Aufnehmen finden wir in Sprachen und Märchen verschiedener Kulturen ebenso wie in den Träumen und Einfällen der Patienten in der Analyse. Die Reaktionsbildungen können ebenso wohl in dem ursprünglichen Gebiet bleiben, also etwa die Form einer Esshemmung annehmen, wie auch sich auf die Sublimierungen erstrecken und dann etwa als Lern-, Arbeits- oder Wisshemmung auftreten.

Die in der ersten Lebensperiode des Kindes auftretenden Objektbeziehungen tragen einen recht komplizierten Charakter (vgl. S. Bernfeld, 1925). Der Säugling ist zunächst – und in ganz extremer Weise in den ersten drei Lebensmonaten – narzisstisch eingestellt; ein Unterschied zwischen Ich und Außenwelt besteht noch kaum. Allmählich entwickeln sich neben der narzisstischen Einstellung objektfreundliche, [I-063] liebende Züge.[6] Die Einstellung des Säuglings zur Mutter (oder entsprechenden Pflegepersonen) wird freundlich, liebevoll, Schutz und Liebe erwartend. Die Mutter ist der Garant für sein Leben, ihre Liebe gibt ihm ein Gefühl von Lebenssicherheit und Geborgenheit. Gewiss ist sie weitgehend Mittel zum Zweck der Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, und gewiss trägt die Liebe des Kindes weitgehend einen verlangenden, nehmenden und nicht einen spendenden, fürsorgenden Charakter, aber wichtig sind doch objektfreundliche, objektzugewandte Züge in dieser ersten Phase.

Die Objektbeziehungen des Kindes ändern sich allmählich.[7] Mit dem körperlichen Wachstum des Kindes wachsen seine Ansprüche, dadurch – wie wohl auch noch durch andere in der Umwelt liegende Faktoren – entstehen und wachsen Versagungen seitens der Umwelt, auf die das Kind mit Zorn und Wut reagiert, für deren Bildung inzwischen auch die organische Entwicklung bessere Bedingungen geschaffen hat. Neben die objektfreundlichen Tendenzen und an ihre Stelle treten in wachsendem Maße objektfeindliche. Das Kind, sowohl durch Enttäuschungen wütend als auch sich stärker fühlend, wartet nicht mehr vertrauensvoll auf liebende Befriedigung seiner vor allem ja noch oralen Wünsche, es beginnt, sich mit Gewalt nehmen zu wollen, was man ihm vorenthält. Der Mund mit den Zähnen wird zu seiner Waffe, er erwirbt eine aggressive, den Objekten feindselige, sie angreifen und aussaugen oder verschlingen wollende Haltung. An Stelle einer ursprünglichen relativen Harmonie mit der Umwelt treten Konflikte und aggressiv-sadistische Impulse.[8]

Das Saugen und Beißen oder Verschlingenwollen, bzw. ihre Reaktionsbildungen und Sublimierungen einerseits, die vertrauensvolle, beschenkt oder geliebt werden wollende, objektfreundliche Haltung und ihre Fortsetzung in aggressiven, räuberischen, objektfeindlichen Tendenzen andererseits, sind die Elemente, die die „oralen“ Charakterzüge der Erwachsenen zusammensetzen.

Karl Abraham macht eine Unterscheidung zwischen den charakterologischen Konsequenzen einer besonders ungestörten, glücklichen oralen Befriedigung in der Kindheit und einer gestörten, mit viel Unlust vermischten (wie etwa plötzlichem Absetzen von der Brust, unzureichender Milchmenge oder, was die koordinierten Objektbeziehungen anbelangt, mangelnder Liebe seitens der Pflegepersonen). Im ersten Falle haben oft Menschen

aus dieser glücklichen Lebenszeit eine tief in ihnen wurzelnde Überzeugung mitgebracht, es müsse ihnen immer gut gehen. So stehen sie dem Leben mit unerschütterlichem Optimismus gegenüber, der ihnen oftmals zur tatsächlichen Erreichung [I-064] praktischer Ziele behilflich ist. Auch hier gibt es weniger günstige Spielarten der Entwicklung. Manche Personen sind von der Erwartung beherrscht, dass stets eine gütige, fürsorgende Person, also eine Vertreterin der Mutter, vorhanden sein müsse, von der sie alles zum Leben Notwendige empfangen würden. Dieser optimistische Schicksalsglaube verurteilt sie zur Untätigkeit. Wir erkennen in ihnen diejenigen wieder, die in der Saugperiode verwöhnt wurden. Ihr gesamtes Verhalten zum Leben lässt die Erwartung erkennen, dass ihnen sozusagen ewig die Mutterbrust fließen werde. Derartige Personen muten sich keinerlei Anstrengung zu; in manchen Fällen verschmähen sie geradezu jeden eigenen Erwerb. (K. Abraham, 1925, S. 42).

An diesen Menschen ist häufig eine besonders ausgeprägte Freigebigkeit, eine gewisse seigneurale Haltung zu bemerken. Sie haben die uneingeschränkt spendende Mutter als Ideal und bemühen sich, sich diesem Ideal entsprechend zu verhalten.

Der zweite Typ, der mit starken oralen Versagungen in der frühen Kindheit, entwickelt später häufig Züge, die in der Richtung des Aussaugens oder Beraubens anderer Personen liegen. Diese Menschen tragen gleichsam einen Rüssel, mit dem sie sich überall ansaugen wollen, oder wenn entsprechend starke sadistische Beimengungen enthalten sind, sind sie wie Raubtiere, die davon leben, Opfer zu suchen, die sie ausweiden können.

Im sozialen Verhalten dieser Menschen tritt etwas ständig Verlangendes hervor, das sich bald mehr in der Form des Bittens, bald mehr in derjenigen des Forderns äußert. Die Art, in welcher sie Wünsche vorbringen, hat etwas beharrlich Saugendes an sich; sie lassen sich ebenso wenig durch die Sprache der Tatsachen, wie durch sachliche Einwände abweisen, sondern fahren fort zu drängen und zu insistieren. Sie neigen dazu, sich an andere Personen förmlich festzusaugen. Besonders empfindlich sind sie gegen jedes Alleinsein, auch wenn es nur kurze Zeit währt. In ganz besonderem Maße tritt die Ungeduld bei ihnen hervor. Bei gewissen Personen (...) findet sich dem geschilderten Verhalten ein grausamer Zug beigemischt, der ihrer Einstellung zu den anderen Menschen etwas Vampyrhaftes verleiht. (K. Abraham, 1925, S. 44).

Zeigen die Personen des ersten Typs eine gewisse Noblesse und Großzügigkeit, zeigen sie sich heiter und umgänglich, so sind die des zweiten Typus feindselig und bissig, reagieren auf eine Verweigerung dessen, was sie haben wollen, mit Wut und sind auf alle, die es besser haben, von intensivem Neid erfüllt. Für den Soziologen wichtig ist noch die von Abraham vermerkte Tatsache, dass Personen mit oraler Charakterbildung leicht dem Neuen zugänglich sind, „während zum analen Charakter ein konservatives, allen Neuerungen feindliches Verhalten gehört (...)“ (K. Abraham, 1925, S. 47).

Die Analerotik fängt keineswegs erst nach der Oralerotik an eine Rolle zu spielen. Wohl schon von vornherein ist der ungehemmte Austritt der Körperprodukte für das Kind mit einer lustvollen Reizung der Afterschleimhaut verbunden. Ebenso sind die Produkte der Entleerung selbst, ihr Anblick, ihr Geruch, die Berührung mit der Oberfläche des Rumpfes und endlich das Berühren mit den Händen eine Quelle intensiver Lustempfindungen. Das Kind ist stolz auf den Kot, welcher sein erster „Besitz“, der Ausdruck seiner ersten Produktivität ist. Eine wesentliche Veränderung bringt die etwa gleichzeitig mit der Entwöhnung des Kindes von saugender Nahrungsaufnahme vor sich gehende Erziehung zur körperlichen Reinlichkeit, für deren [I-065] Gelingen die sich allmählich ausbildende Funktion der Schließmuskeln der Blase und des Darms die Voraussetzung bildet. Indem sich das Kind den Forderungen der Erziehung anpasst und lernt, seinen Stuhl zurückzuhalten bzw. ihn zur rechten Zeit herzugeben, wird die Retention des Stuhles und werden die damit verbundenen physiologischen Vorgänge zu einer neuen Lustquelle. Gleichzeitig wird die ursprüngliche Liebe zum Kot teilweise durch Ekelgefühle abgewehrt bzw. ersetzt; teilweise wird allerdings durch das Verhalten der Umwelt der primitive Stolz auf den Kot bzw. seine pünktliche Entleerung nur noch vermehrt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120531
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm psychoanalytische Charakterologie Charakter Psychoanalyse Sozialpsychologie
Zurück

Titel: Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie