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Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Der Beitrag "Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie" ist wohl der bedeutendste Aufsatz für die Entwicklung des sozialpsychologischen Denkens von Erich Fromm. In ihm versuchte Fromm erstmals systematisch, die Beziehung von Individuum und Gesellschaft neu zu denken. Seine bahnbrechende Idee war dabei, dass es in jedem einzelnen Menschen – vermittelt durch die Familie als der „Agentur der Gesellschaft“ – auch zu einer psychischen Strukturbildung kommt, durch die die vielen Einzelnen das mit Lust und Leidenschaft erstreben, was dem gesellschaftlichen Zusammenleben und „Kitt“ förderlich ist. Diese psychische Strukturbildung – der „gesellschaftlich typische Charakter“ – ist das Bindeglied zwischen den Erfordernissen des Lebens und Zusammenlebens und den Ideen und Werten einer Gesellschaft – sozusagen das „missing link“ zwischen Basis und Überbau.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über Methode und Aufgabe
einer Analytischen Sozialpsychologie.
Bemerkungen über Psychoanalyse
und historischen Materialismus

Erich Fromm
(1932a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus in: Zeitschrift für Sozialforschung, Leipzig 1 (1932) S. 28-54. Erneut veröffentlicht 1970 in dem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Wiederabdruck 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) GA I, S. 37-57.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band I, S. 37-57.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1932 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Die Psychoanalyse ist eine naturwissenschaftliche, materialistische Psychologie.[1] Sie hat als Motor menschlichen Verhaltens Triebregungen und Bedürfnisse nachgewiesen, die von den physiologisch verankerten, selbst nicht unmittelbar beobachtbaren „Trieben“ gespeist werden. Sie hat aufgezeigt, dass die bewusste Seelentätigkeit nur einen relativ kleinen Sektor des Seelenlebens ausmacht, dass viele entscheidende Antriebe seelischen Verhaltens dem Menschen nicht bewusst sind. Sie hat insbesondere private und kollektive Ideologien als Ausdruck bestimmter, trieblich verankerter Wünsche und Bedürfnisse entlarvt und auch in den „moralischen“ und ideellen Motiven verhüllte und rationalisierte Äußerungen von Trieben entdeckt.[2]

Freud hat zunächst, ganz entsprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam sind: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe.[3] Die den Sexualtrieben innewohnende Energie hat er als Libido bezeichnet, [I-038] seelische Vorgänge, die von dieser Energie gespeist sind, als libidinöse.[4] Unter Sexualtrieben hat Freud in berechtigter Erweiterung der üblichen Verwendung dieses Begriffes alle, analog den genitalen Impulsen, körperlich bedingten und an Körperstellen („erogenen Zonen“) haftenden Spannungen, die nach lustbringender Abfuhr verlangen, verstanden.

Als Hauptprinzip der Seelentätigkeit nimmt Freud das „Lustprinzip“ an, die Tendenz zu maximaler, lustbringender Abfuhr der Triebspannungen. Dieses Lustprinzip wird durch das „Realitätsprinzip“ modifiziert, das unter dem Einfluss der Beobachtung der Realität Verzicht oder Aufschub von Lust zugunsten der Vermeidung größerer Unlust oder der Gewinnung künftiger größerer Lust fordert.

Die Eigenart der spezifischen Triebstruktur eines Menschen sieht Freud durch zwei Faktoren bedingt: die mitgebrachte Konstitution und das Lebensschicksal, vor allem das Schicksal seiner frühen Kindheit. Er geht davon aus, dass mitgebrachte Konstitution und Erleben eine „Ergänzungsreihe“ bilden und dass die spezifisch analytische Aufgabe die Erforschung des Einflusses des Erlebens auf die gegebene Triebkonstitution ist. Die analytische Methode ist also eine exquisit historische: Sie fordert Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal. Diese Methode hat ihre Gültigkeit sowohl für das Seelenleben des Gesunden wie das des Kranken, der neurotischen Persönlichkeit. Das, was den neurotischen Menschen vom „normalen“ unterscheidet, ist die Tatsache, dass bei diesem sich die Triebstruktur optimal seinen realen Lebensnotwendigkeiten angepasst hat, während bei jenem die Triebentwicklung auf gewisse Hindernisse gestoßen ist, die eine genügende Anpassung der Triebe an die Realität verhinderten.

Um die Tatsache der Anpassung und Modifizierbarkeit der Sexualtriebe an die Realität ganz verständlich machen zu können, ist es notwendig, auf gewisse Eigenschaften der Sexualtriebe hinzuweisen, Eigenschaften, die sie gerade von den Selbsterhaltungstrieben unterscheiden.

Die Sexualtriebe sind im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben aufschiebbar, während jene imperativischer Natur sind, d.h. eine längere Nichtbefriedigung den Tod herbeiführt, bzw. seelisch absolut unerträglich ist. Diese Tatsache bewirkt, dass die Selbsterhaltungstriebe ein Primat vor den Sexualtrieben haben; nicht in dem Sinn, dass sie an sich eine größere Rolle spielen, aber so, dass im Falle des Konflikts sie die eindringlicheren sind, dass sie sich, solange sie noch unbefriedigt sind, als die stärkeren erweisen.

Damit ist eng verknüpft, dass die Regungen der Sexualtriebe verdrängbar sind, während die sich aus den Selbsterhaltungstrieben ergebenden Wünsche nicht aus dem Bewusstsein entfernt werden und im Unbewussten deponiert bleiben können. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen beiden Triebgruppen ist die Tatsache, dass die Sexualtriebe sublimierbar sind, d.h. dass an die Stelle der direkten Befriedigung eines sexuellen Wunsches eine vom ursprünglichen Sexualziel entfernte, mit Leistungen des Ich amalgamierte Befriedigung treten kann. Die Selbsterhaltungstriebe sind solcher Sublimierung nicht fähig.

Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Tatsache, dass die Befriedigung der Selbsterhaltungsimpulse immer wirklicher Mittel bedarf, dass aber die Befriedigung der [I-039] Sexualtriebe oft in Phantasien, ohne Aufwendung realer Mittel, vor sich gehen kann. Konkret gesprochen heißt das: Den Hunger der Menschen kann man nur mit Brot befriedigen, aber etwa ihre Wünsche, geliebt zu werden, mit einer Phantasie von einem gütigen, liebenden Gott oder ihre sadistischen Tendenzen mit blutigen Volksschauspielen.

Wesentlich ist endlich, dass die verschiedenen Äußerungsformen der Sexualtriebe – wiederum im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben – in hohem Grade untereinander vertauschbar und verschiebbar sind. Bei Nichtbefriedigung einer Triebregung kann diese durch eine andere ersetzt werden, deren Befriedigung – aus inneren oder äußeren Gründen – möglich ist. Diese Verwandelbarkeit und Vertauschbarkeit innerhalb der Sexualtriebe ist einer der Schlüssel zum Verständnis des neurotischen wie des gesunden Seelenlebens und ein Kernstück der psychoanalytischen Theorie. Sie ist aber auch eine gesellschaftliche Tatsache von höchster Bedeutung. Sie erlaubt es, dass gerade diejenigen Befriedigungen den Massen geboten und von ihnen akzeptiert werden, die aus sozialen Gründen zur Verfügung stehen bzw. von der herrschenden Klasse erwünscht sind.[5]

Zusammenfassend ergibt sich also, dass die Sexualtriebe infolge ihrer Aufschiebbarkeit, Verdrängbarkeit, Sublimierbarkeit und Verwandelbarkeit einen viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter haben als die Selbsterhaltungstriebe. Sie lehnen sich diesen an, folgen ihren Spuren (Vgl. S. Freud, 1905d). Die Tatsache der größeren Geschmeidigkeit und Wandlungsfähigkeit der Sexualtriebe bedeutet aber nicht, dass sie auf die Dauer unbefriedigt bleiben können. Es gibt nicht nur ein physisches, sondern auch ein psychisches Existenzminimum, d.h. ein notwendiges Mindestmaß der Befriedigung der Sexualtriebe. Die hier charakterisierten Unterschiede zwischen Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben bedeuten vielmehr nur, dass sich die Sexualtriebe in hohem Maße den Befriedigungsmöglichkeiten, d.h. den realen Lebensumständen anpassen können. Sie entwickeln sich schon im Sinne dieser Anpassung, und nur bei neurotischen Individuen liegen Störungen der Anpassungsfähigkeit vor. Die Psychoanalyse hat gerade diese Modifizierbarkeit der Sexualtriebe aufgezeigt, sie hat gelehrt, die individuelle Triebstruktur aus dem Lebensschicksal bzw. aus der Beeinflussung der mitgebrachten Triebanlage durch das Lebensschicksal zu verstehen. Die aktive und passive Anpassung biologischer Tatbestände, der Triebe, an soziale ist die Kernauffassung der Psychoanalyse, und jede personalpsychologische Untersuchung geht von dieser Grundauffassung aus.

Freud hat sich ursprünglich – und auch späterhin vorwiegend – mit der Psychologie des Individuums beschäftigt. Nachdem aber einmal in den Trieben die Motive menschlichen Verhaltens, im Unbewussten die geheime Quelle der Ideologien und Verhaltungsweisen entdeckt waren, konnte es nicht ausbleiben, dass die analytischen Autoren den Versuch machten, vom Problem des Individuums zu dem der [I-040] Gesellschaft, von der Personalpsychologie zur Sozialpsychologie vorzustoßen. Es musste der Versuch unternommen werden, mit den Mitteln der Psychoanalyse den geheimen Sinn und Grund der im gesellschaftlichen Leben so augenfälligen irrationalen Verhaltungsweisen, wie sie sich in der Religion und in Volksbräuchen, aber auch in der Politik und Erziehung äußern, zu finden. Gewiss mussten damit Schwierigkeiten entstehen, die vermieden wurden, solange man sich auf das Gebiet der Personalpsychologie beschränkte.

Aber diese Schwierigkeiten ändern nichts daran, dass die Fragestellung eine völlig korrekte, legitime wissenschaftliche Konsequenz aus der Ausgangsposition der Psychoanalyse darstellt. Wenn sie im Triebleben, im Unbewussten, den Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens gefunden hat, so muss sie auch berechtigt und imstande sein, Wesentliches über die Hintergründe gesellschaftlichen Verhaltens auszusagen. Denn auch die „Gesellschaft“ besteht aus einzelnen lebendigen Individuen, die keinen anderen psychologischen Gesetzen unterliegen können als denen, die die Psychoanalyse im Individuum entdeckt hat.

Es scheint uns deshalb auch unrichtig zu sein, wenn man, wie W. Reich das tut, der Psychoanalyse das Gebiet der Personalpsychologie reserviert und ihre Verwendbarkeit für gesellschaftliche Erscheinungen wie Politik, Klassenbewusstsein etc. grundsätzlich bestreitet.[6] Die Tatsache, dass eine Erscheinung in der Gesellschaftslehre behandelt wird, heißt keineswegs, dass sie nicht Objekt der Psychoanalyse sein kann (sowenig wie es richtig ist, dass ein Gegenstand, den man unter physikalischen Gesichtspunkten untersucht, nicht auch unter chemischen untersucht werden dürfe). Es bedeutet nur, dass sie nur insoweit – aber auch ganz insoweit – bei der Erscheinung psychische Tatsachen eine Rolle spielen, Objekt der Psychologie ist und speziell der Sozialpsychologie, die die gesellschaftlichen Hintergründe und Funktionen der psychischen Erscheinung festzustellen hat. Die These, die Psychologie habe es nur mit dem Einzelnen, die Soziologie mit der Gesellschaft zu tun, ist falsch. Denn sosehr es die Psychologie immer mit dem vergesellschafteten Individuum zu tun hat, sosehr hat es die Soziologie mit einer Vielfalt von einzelnen zu tun, deren seelische Struktur und Mechanismen von der Soziologie berücksichtigt werden müssen. Es wird später davon die Rede sein, welche Rolle psychische Tatbestände gerade bei gesellschaftlichen Erscheinungen spielen und dass gerade hier der methodische Ort einer analytischen Sozialpsychologie ist. [I-041]

Die Soziologie, mit der die Psychoanalyse die meisten Berührungspunkte, aber auch die meisten Gegensätze zu haben scheint, ist der historische Materialismus.

Die meisten Berührungspunkte – denn sie sind beide materialistische Wissenschaften. Sie gehen nicht von „Ideen“, sondern vom irdischen Leben, von Bedürfnissen aus. Sie berühren sich im Besonderen in ihrer gemeinsamen Einschätzung des Bewusstseins, das ihnen weniger Motor menschlichen Verhaltens als Spiegelbild anderer geheimer Kräfte zu sein scheint. Aber hier, bei der Frage nach dem Wesen dieser eigentlichen, das Bewusstsein bestimmenden Faktoren scheint ein unversöhnlicher Gegensatz zu bestehen. Der historische Materialismus sieht im Bewusstsein einen Ausdruck des gesellschaftlichen Seins, die Psychoanalyse einen des Unbewussten, der Triebe. Es entsteht die unabweisbare Frage, ob diese beiden Thesen in einem Widerspruch zueinander stehen und, wenn nicht, in welcher Weise sie sich zueinander verhalten und endlich, ob und warum eine Benutzung psychoanalytischer Methoden für den historischen Materialismus eine Bereicherung darstellt.

Bevor wir uns der Diskussion dieser Fragen selbst zuwenden, erscheint es nötig zu erörtern, welche Voraussetzungen denn die Psychoanalyse zu einer Verwendung für gesellschaftliche Probleme mitbringt. (Zum Methodologischen vgl. E. Fromm, Die Entwicklung des Christusdogmas, 1930a; S. Bernfeld, 1926; W. Reich, 1929.)

Freud hat niemals den isolierten, aus dem sozialen Zusammenhang gelösten Menschen als Objekt der Psychologie angenommen.

Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne. (S. Freud, 1921c, S. 73).

Freud hat aber auch gründlich mit der Illusion einer Sozialpsychologie aufgeräumt, deren Objekt eine Gruppe als solche, die Gesellschaft oder sonst ein soziales Gebilde mit einer entsprechenden „Massenseele“ oder „Gesellschaftsseele“ ist. Er geht vielmehr immer von der Tatsache aus, dass jede Gruppe nur aus Individuen besteht und nur Individuen als solche Subjekt psychischer Eigenschaften sind. (Zu dieser Frage vgl. die klärenden Bemerkungen von G. Simmel, 1908, S. 287°f.) Ebenso wenig hat Freud einen „sozialen Trieb“ angenommen. Das, was man als solchen bezeichnet, ist für ihn „kein ursprünglicher und unzerlegbarer“ Trieb; er sieht „die Anfänge seiner Bildung in einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie“. Es ergibt sich als Konsequenz seiner Anschauungen, dass die sozialen Eigenschaften dem Einfluss bestimmter Umweltverhältnisse, gewisser Lebensbedingungen auf die Triebstruktur ihre Entstehung, ihre Verstärkung wie ihre Abschwächung verdanken.

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120524
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm sozialpsychologisches Denken Sozialpsychologie Individuum Gesellschaft Familie Psychoanalyse
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