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Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Die Bedeutung der Psychoanalyse für das Verständnis unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit wurde von Erich Fromm in den Jahren um 1930 vor allem für die Bereiche Religion, Gesellschaft und Strafjustiz reflektiert. Die Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse für den Bereich der Strafjustiz hat Fromm nicht sehr lange beschäftigt, dafür jedoch umso intensiver. Der ideenreichste Beitrag ist sicher "Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft" aus dem Jahr 1931. In ihm analysiert Fromm, welche Funktion das Strafen für den Zusammenhalt der Gesellschaft hat. Der Beitrag ist angesichts der Diskussion um die Bedeutung des Strafens und der Strafandrohung als Prävention noch immer aktuell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zur Psychologie des Verbrechers
und der strafenden Gesellschaft

Erich Fromm
(1931a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft; zuerst erschienen in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, Wien, 17 (1931) S. 226-251. Erneut veröffentlicht 1970 in dem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Wiederabdruck 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA I, S. 11-20.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA I, S. 11-20.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1931 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Franz von Liszt hat vor über dreißig Jahren folgende Definition der Ursachen des Verbrechens aufgestellt (1905, Band 2, S. 234): „Jedes Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart des Verbrechers einerseits und den den Verbrecher im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen anderseits.“ Mit dieser allgemeinen Beschreibung der Verbrechensmotive kann sich auch der Psychoanalytiker einverstanden erklären, wenn er dabei betont, dass für ihn die „Eigenart des Verbrechens“ wesentlich in seiner Triebkonstellation und hier vorwiegend in deren unbewusstem Sektor begründet liegt.[1] Die Schwierigkeiten und Gegensätze fangen da an, wo es sich darum handelt zu bestimmen, welches im Einzelnen die Faktoren sind, die die Eigenart als Verbrecher bestimmen und welches das – qualitative und quantitative – Verhältnis dieser individuellen Faktoren zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren ist.

Die Kriminalstatistik hat einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Faktoren und Kriminalität schon seit langer Zeit sehen gelehrt: die Abhängigkeit der Eigentumsdelikte von der wirtschaftlichen Lage der Volksmasse, wie sie sich sowohl in der Abhängigkeit der Zahl der Eigentumsdelikte vom Steigen und Fallen der Getreidepreise, als auch vom Wechsel der Jahreszeiten ausdrückt. Der Zusammenhang zwischen Getreidepreisen und Kriminalität ist in einer Reihe von Untersuchungen zweifelsfrei bewiesen worden (vgl. L. Fuld, 1881; H. Berg, 1902; H. Müller, 1899; H. Herz, 1905). Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs zitieren wir die von H. Herz gefundenen Zahlen für Österreich-Ungarn vom Jahre 1905.

Tab1

Herz bemerkt in dieser Statistik zusammenfassend:

Die Lebensmittelpreise wirken nicht in gleicher Weise auf die gesamte Vermögenskriminalität zurück. Die atavistischen Kriminalitätsformen, die sich zumeist in roher Ausnützung einer gebotenen Gelegenheit und Gewalttätigkeiten äußern: Diebstahl und Raub stehen in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnisse von den Lebensmittelpreisen. Die den modernen Verhältnissen besser angepassten Delikte, (...) die an Stelle der Gewaltmaßregeln Lüge und Fälschung setzen, überwinden dieses primitive Abhängigkeitsverhältnis (...). (H. Herz, 1905, S. 292.)

Zum prinzipiell gleichen Ergebnis der Abhängigkeit der Vermögensdelikte von den Getreidepreisen – es kommt dabei nur auf das Steigen [I-012] und Fallen, nicht auf die absolute Höhe des Preises an – gelangen auch die früheren Untersuchungen über die deutschen Verhältnisse. Die Sittlichkeits- und Aggressionsdelikte hingegen entbehren dieses direkten Zusammenhanges mit den Lebensmittelpreisen. (Vgl. G. Aschaffenburg, 1923, S. 114°ff.)

Den gleichen Zusammenhang zwischen Kriminalität und wirtschaftlicher Lage zeigt auch die Statistik der Verbrechenshäufigkeit in den verschiedenen Jahreszeiten. Ein klares Bild gibt hier die deutsche Kriminalstatistik.

Die Kriminalität Deutschlands nach Jahr und Monat der Begehung der strafbaren Handlungen
(Statistik des Deutschen Reiches, N. F. Bd. 83, II, S. 52)

Wenn im Jahre auf 1 Tag 100 strafbare Handlungen entfallen, so kommen auf 1 Tag im Monat:

Tab2

(nach G. Aschaffenburg, 1923, S. 16)[I-014]

Das Ansteigen der Unzuchtsverbrechen beginnt in Deutschland (...) im März und erreicht im schnellen Anstieg seinen Höhepunkt im Juli, um dann schnell wieder abzufallen; die Monate Oktober und März liegen erheblich unter dem errechneten Durchschnitt. Eine ganz ähnliche Kurve zeigt die „Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Handlungen“, nur dass bei dieser Verfehlung die größte Begehenshäufigkeit bereits auf den Juni fällt. Die Unterschiede sind ganz ungeheuerliche. Der Juli übertrifft die Wintermonate um mehr als das Doppelte. (...)

Ein völlig anderes Bild zeigt die Jahresverteilung der Eigentumsverbrechen. Eine Ausnahme machen nur die Sachbeschädigungen; sie stehen psychologisch den Körperverletzungen weit näher als den Verbrechen gegen das Eigentum, zu denen die Systematik unseres Strafgesetzbuches sie rechnet, und zeigen demnach auch ein ganz ähnliches Verhalten wie jene, wenn auch die Unterschiede zwischen Sommer und Winter etwas weniger ausgeprägt sind. Die Diebstähle und der Betrug dagegen erreichen während der Monate März bis September nie das Durchschnitts-Tagesmittel von hundert. Von da ab tritt eine schnelle Zunahme ihrer Häufigkeit ein, die den ganzen Winter hindurch anhält. (G. Aschaffenburg, 1923, S. 16 und 30).

Auch hier bietet also die Statistik ein ganz eindeutiges Bild. Die Verbrechen, bei denen libidinöse Motive eine entscheidende Rolle spielen (Sittlichkeits- und Aggressionsdelikte), haben den Höhepunkt ihrer Häufigkeitskurve im Frühjahr und Sommer, die Delikte, bei denen die wirtschaftliche Not einen ausschlaggebenden Faktor darstellt, in der Zeit eben der größten wirtschaftlichen Not, im Winter. Besonders instruktiv wird dieser Zusammenhang noch durch die von G. Aschaffenburg (1923, S. 18) vermerkte Tatsache, dass der Höhepunkt der Kurve der – ehelichen und unehelichen – Schwängerungen in Deutschland und ganz Europa im Mai, der der Selbstmorde im Juni und der der Sittlichkeitsverbrechen ebenfalls im Juni liegt.

Die Statistik zeigt uns einen groben Erfahrungszusammenhang, der uns – theoretisch gesehen – als Selbstverständlichkeit erscheint: Für die Gesamtheit der Eigentumsdelikte geben – durchschnittlicherweise – wirtschaftliche Motive, für die Sexual- und Aggressionsdelikte sexuelle Motive den Ausschlag. Die Statistik lässt aber naturgemäß nur durchschnittliche Zusammenhänge erkennen und gibt keine Anhaltspunkte für die Beurteilung des Verhältnisses rationaler und irrationaler Faktoren beim einzelnen Delikt. Es ist eine der Aufgaben einer analytischen Kriminalpsychologie, das – qualitative und quantitative – Verhältnis der rational-egoistischen und der irrational-sexuellen Motive beim einzelnen Verbrechen und besonders den indirekten Einfluss sexueller Faktoren auf Eigentumsdelikte ebenso wie den indirekten Einfluss wirtschaftlicher Faktoren auf Triebdelikte zu untersuchen. Vor allem mit der zweiten Frage, der unmittelbaren Wirkung der sozial-ökonomischen Situation auf die zu Delikten führenden sexuellen Impulse sollen sich die folgenden Ausführungen beschäftigen.

Der zweckmäßigste Gesichtspunkt der Ordnung der Verbrechen nach ihren Motiven dürfte der sein, sie sich als eine Ergänzungsreihe vorzustellen, an deren einem Ende die extremen Fälle des durch Not bedingten, von den Selbsterhaltungstrieben gespeisten „Notverbrechens“ stehen, an deren anderem Ende das reine „Triebverbrechen“, das, unabhängig von der realen und wirtschaftlichen Situation, lediglich aus den sexuellen Impulsen des Handelnden motiviert, zu finden ist.

Die Anordnung der Verbrechen in einer Ergänzungsreihe dürfte zweckmäßiger sein als die von F. Alexander und H. Staub (1928) aufgestellte Kriminaldiagnostik, die zwar in ihrer Aufstellung fester Gruppen der Systematik des heutigen Strafgesetzes angepasst ist und deshalb größere praktische Verwendungsmöglichkeiten zu versprechen scheint, dafür aber die Gefahr in sich birgt, verschiedene voneinander getrennte Verbrechensgruppen anzunehmen, wo es sich in Wirklichkeit um eine kontinuierliche Reihe handelt, bei der nicht mehr als das Zu- und Abnehmen bestimmter Tendenzen innerhalb der Reihe festzustellen ist.

Dem einen Endpunkt der Ergänzungsreihe, dem „Notverbrechen“, am nächsten steht die große Zahl banaler Eigentumsdelikte, die nicht der Beseitigung äußerster und elementarster Not dienen, d.h. also nicht oder nicht ausschließlich durch die Selbsterhaltungstriebe motiviert sind. Das Motiv dieser Delikte ist vielmehr der Wunsch, sich durch das Delikt die Möglichkeit zu einem – mehr oder weniger – erhöhten Lebensgenuss zu schaffen, also in der libidinösen Beimengung zu den egoistischen Strebungen, in den narzisstischen Bedürfnissen. Diese Bedürfnisse sind an sich völlig normal, sie sind auch völlig bewusst, das Eigentumsdelikt hat hier nicht in erster Linie einen symbolischen Charakter, das Motiv des Verbrechens ist durchaus kein pathologisches. Statt zu fragen, warum begehen eine Reihe von Menschen, deren ökonomische Situation ihnen die legale Befriedigung an sich normaler Bedürfnisse nicht erlaubt, Delikte, die die Befriedigung dieser Bedürfnisse ermöglichen sollen, wäre richtiger, die Frage umgekehrt zu stellen: Warum begehen die meisten [I-015] Menschen in eben dieser ökonomischen Situation keine Delikte, um sich die Befriedigung solcher Bedürfnisse zu verschaffen, die einer Reihe von Mitgliedern der Gesellschaft auf legalem Wege möglich ist. Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach. Die Gesellschaft erreicht es durch die Art der Erziehung und durch eine Reihe von anderen gesellschaftlichen Institutionen, der besitzlosen Masse Ideale einzupflanzen, die es den meisten möglich machen, die Armut der Unehrlichkeit vorzuziehen. Die Kriminellen sind diejenigen, bei denen diese Über-Ich-Bildung gar nicht oder nur mangelhaft geglückt ist. Daneben gibt selbstverständlich auch die Angst vor den Repressalien der Gesellschaft einen wesentlichen Grund dafür ab, verbotene Früchte nicht zu essen. Dieses Motiv der Angst spielt eine umso größere Rolle, je mehr das Delikt der Befriedigung bewusster egoistisch-narzisstischer Bedürfnisse dient, und je weniger es der verhüllte, symbolische Ausdruck unbewusster rein sexueller Regungen ist.

Es wäre jedoch einseitig, zu verkennen, dass auch bei diesen banalen Eigentumsdelikten, soweit sie über die Befriedigung elementarer Selbsterhaltungsbedürfnisse hinausgehen, ein Motiv immer noch eine große Rolle spielt, weil es eben bei allen Delikten neben anderen Motiven eine entscheidende Rolle spielt: die feindseligen, vor allem auf das Wegnehmen und Zerstören gerichteten Impulse, wie wir sie in der Analyse von Kindern und Erwachsenen mit großer Regelmäßigkeit antreffen. Es soll hier nicht auf das schwierige Problem der Qualität und Genese dieser Raub- und Zerstörungsimpulse beim Einzelnen eingegangen werden; wir wollen uns mit der Feststellung begnügen, dass sie bei allen Delikten ein entscheidendes und häufig, der Stärke nach, unbewusstes Motiv bilden.

Verhältnismäßig leicht durchschaubar sind auch die Delikte am anderen Ende der Ergänzungsreihe, die reinen Triebverbrechen, bei denen nur die individuelle Konstitution, beziehungsweise individuell bedingte Kindheitserlebnisse für die Verbrechensbildung ausschlaggebend sind. Der extremste Fall am Ende der Reihe sind die Geisteskranken beziehungsweise die durch organische Störungen in ihrer Geistes- und Gemütstätigkeit gestörten Kriminellen. Schwer durchschaubar sind die Delikte in der Mitte der Ergänzungsreihe, d.h. also Eigentumsdelikte, die über die Befriedigung egoistisch-narzisstischer Bedürfnisse hinaus Ausdruck unbewusster sexueller Impulse sind, und solche Sexual- und Aggressionsdelikte, bei deren Entstehen gesellschaftlich-wirtschaftliche Faktoren eine, wenn auch mittelbare, Rolle spielen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120517
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Gesellschaft Verbrechen Strafen Justiz Sozialpsychologie
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