Zusammenfassung
Noch im Freudschen triebtheoretischen Erklärungsrahmen argumentierend, versucht hier Fromm erstmals zu zeigen, „dass wir die Menschen nicht aus ihren Ideen und Ideologien verstehen können, sondern dass wir Ideen und Ideologien nur verstehen können, wenn wir die Menschen verstehen, die sie geschaffen haben und an sie glauben.“ In diesem Buch zeigt Fromm beispielhaft, wie die Lebenspraxis ihren Niederschlag in den psychischen Antriebsstrukturen findet und sich dann in religiösen Bekenntnissen und Idealen Ausdruck verschafft.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion
- Inhalt
- 1. Methodik und Problemstellung
- 2. Die sozialpsychologische Funktion der Religion
- 3. Das Urchristentum und seine Vorstellung von Jesus
- 4. Die Wandlung des Christentums und das homo-ousianische Dogma
- 5. Die Wandlungen des Dogmas bis zum Nizänischen Konzil
- 6. Ein anderer Deutungsversuch
- 7. Zusammenfassung
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Die Entwicklung des Christusdogmas.
Eine psychoanalytische Studie
zur sozialpsychologischen Funktion der Religion
Erich Fromm
(1930a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.
Erstveröffentlichung unter dem Titel Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, Wien (Internationaler Psychoanalytischer Verlag), Band 16 (1930), S. 305-373. Wieder veröffentlicht 1965 in dem Band Das Christusdogma und andere Essays, beim Szczesny Verlag in München und 1980 in Band VI (S. 11-68) der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt).
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 11-68.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1930 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Inhalt
- Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion
- 1. Methodik und Problemstellung
- 2. Die sozialpsychologische Funktion der Religion
- 3. Das Urchristentum und seine Vorstellung von Jesus
- 4. Die Wandlung des Christentums und das homo-ousianische Dogma
- 5. Die Wandlungen des Dogmas bis zum Nizänischen Konzil
- 6. Ein anderer Deutungsversuch
- 7. Zusammenfassung
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
1. Methodik und Problemstellung
Es ist eine der nicht unwesentlichen Leistungen der Psychoanalyse, dass sie die falsche prinzipielle Unterscheidung zwischen einer Sozialpsychologie und einer Psychologie des Individuums (Personalpsychologie) überwunden hat.[1] Freud hat einerseits betont, dass es eine Personalpsychologie, deren Objekt der isolierte, aus dem sozialen Zusammenhang gelöste Mensch ist, nicht gibt, weil es eben diesen isolierten Menschen in Wirklichkeit nirgends gibt. Er kennt keinen homo psychologicus, keinen psychologischen Robinson Crusoe, wie er etwa als ökonomischer der klassischen Nationalökonomie vorgeschwebt hat. Im Gegenteil ist ja eine der wesentlichsten Entdeckungen Freuds die, dass er die psychische Entwicklung des Individuums gerade aus seinen frühesten sozialen Beziehungen, denen zu Eltern und Geschwistern, verstehen gelernt hat.
Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne. (S. Freud, 1921c, S. 73.)
Anderseits aber hat Freud gründlich mit der Illusion einer Sozialpsychologie gebrochen, deren Objekt eine Gruppe als solche ist. Sowenig er einen isolierten Menschen als Objekt der Psychologie kennt, sowenig einen „sozialen Trieb“. Das, was man als solchen bezeichnet hat, ist für ihn „kein ursprünglicher und unzerlegbarer“ Trieb, sondern er sieht „die Anfänge seiner Bildung in einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie“ (S. Freud, 1921c, S. 74) und er hat gezeigt, dass die in der Gruppe wirksamen psychischen Erscheinungen aus den im Einzelmenschen wirksamen psychischen Mechanismen heraus zu verstehen sind und nicht etwa aus einer „Gruppenseele“ als solcher.[2] [VI-014] Der Unterschied zwischen Personalpsychologie und Sozialpsychologie erweist sich als ein quantitativer, nicht als ein qualitativer. Die Personalpsychologie berücksichtigt alle Determinanten, die auf das Schicksal des Einzelnen eingewirkt haben und kommt so zu einem maximal vollständigen Bild von dessen individueller psychischer Struktur. Je mehr wir den Gegenstand der psychologischen Untersuchung verbreitern, d.h. je größer die Zahl der Menschen ist, deren Gemeinsamkeiten es rechtfertigen, sie als Gruppe zum Objekt einer psychologischen Untersuchung zu machen, desto mehr müssen wir an Umfang der Einsicht in das Ganze der seelischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes verzichten. In diesem Sinne etwa müssen wir „Psychologie des Kindes“ als Sozialpsychologie bezeichnen: Es wird hier eine Gruppe von Menschen untersucht, deren Schicksal in einer Reihe von Beziehungen, die psychologisch relevant sind, gemeinsam ist. Je mehr wir den Umfang des Objektes einschränken, also etwa durch Beschränkung auf die Psychologie des einzelnen oder mittleren Kindes, desto größer wird der Umfang unserer Einsicht in die Struktur des einzelnen Kindes dieser Gruppe. Dasselbe gilt für alle sozialpsychologischen Untersuchungen.
Je größer also die Zahl der Objekte einer psychologischen Untersuchung ist, desto geringer ist die Einsicht in die Ganzheit der psychischen Struktur des Einzelnen innerhalb der zu untersuchenden Gruppe. Wenn dies nicht erkannt wird, kommt es leicht bei der Beurteilung der Ergebnisse sozialpsychologischer Untersuchungen zu Missverständnissen. Man erwartet, etwas von der individuellen psychischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes zu hören, während die sozialpsychologische Untersuchung immer nur etwas über die allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Charaktere aussagen kann und die individuelle psychische Situation des Einzelnen diesseits jener Gemeinsamkeiten nicht berücksichtigt. Die Darstellung der besonderen psychischen Eigenart des Einzelnen kann niemals Aufgabe der Sozialpsychologie sein und ist immer nur möglich, wenn eine weitgehende Kenntnis des Lebensschicksals des Individuums vorhanden ist. Wenn also z.B. in einer sozialpsychologischen Untersuchung festgestellt wird, dass eine Gruppe eine Regression von einer vaterfeindlichen Einstellung zu einer passiv-gefügigen Haltung vornimmt, so bedeutet diese Aussage etwas anderes, als wenn in einer personalpsychologischen Untersuchung dies vom Einzelnen ausgesagt wird. Während es hier hieße, dass diese Regression für die gesamte Sohneseinstellung des Individuums gilt, heißt es dort, dass sie einen durchschnittlich allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen Zug darstellt, der an bestimmter, näher anzugebender Stelle in Erscheinung tritt, aber im Leben des Einzelnen, neben anderen durch sein individuelles Schicksal bestimmten Tendenzen, gegebenenfalls eine untergeordnete Rolle spielen kann. Der Wert sozialpsychologischer Einsicht kann also nicht darin liegen, dass wir einen Einblick in die psychische Eigenart des einzelnen Gruppenmitgliedes bekommen, sondern nur darin, dass wir [VI-015] diese gemeinsamen psychischen Tendenzen feststellen, deren überragende Bedeutung darin liegt, dass sie als gemeinsame eine entscheidende Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung spielen.
Die Überwindung einer prinzipiellen Gegenüberstellung von Personal- und Sozialpsychologie, wie sie von der Psychoanalyse geleistet wurde, führt als Konsequenz zur Einsicht, dass die Methode einer sozialpsychologischen Untersuchung grundsätzlich und im wesentlichen keine andere sein kann als die, welche die Psychoanalyse bei der Erforschung der Psyche des Einzelnen anwendet. Es wird also gut sein, sich kurz auf das Wesentliche dieser Methode, insoweit es für unser Problem hier von Bedeutung ist, zu besinnen.
Freud geht davon aus, dass in der Verursachung der Neurosen – und dasselbe gilt für die Triebstruktur des Gesunden – mitgebrachte Sexualkonstitution und Erleben eine Ergänzungsreihe bilden.
An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libidoentwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie sorgfältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären gewiss der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr von schädigenden Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexualkonstitution hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Verhältnisse der Libido andere gewesen wären. (S. Freud, 1916-17, S. 360.)
Der konstitutionelle Anteil an der psychischen Struktur des gesunden oder kranken Menschen bleibt bei der psychischen Erforschung der Einzelnen für die Psychoanalyse – und beim heutigen Stande der Wissenschaft weitgehend für diese überhaupt – eine zu beachtende, aber unbekannte und nicht näher bestimmbare Größe. Das, worum sich die Psychoanalyse kümmert, ist das Erleben, und die Erforschung seines Einflusses auf die Triebentwicklung bei einer gegebenen psychischen Konstitution ist ihr Hauptziel. Sie weiß zwar, dass die Triebentwicklung des Einzelnen mehr oder weniger von seiner Konstitution bestimmt ist, diese Einsicht ist eine Voraussetzung der psychoanalytischen Arbeit, aber diese selbst gilt ausschließlich der Erforschung der Frage nach der Einwirkung des Lebensschicksals auf die Triebentwicklung. In der Praxis bedeutet das, dass für die psychoanalytische Methode eine maximale Kenntnis des Lebensschicksals des Einzelnen, vor allem seiner frühkindlichen Erlebnisse, aber durchaus nicht nur dieser, eine wesentliche Bedingung ist. Sie sucht den Zusammenhang zwischen der Spezifität der Schicksale und der Spezifität der Triebentwicklung. Da, wo man die Lebensschicksale des Einzelnen nicht weitgehend kennt, ist jede Analyse unmöglich. Man kann wohl bei bestimmten typischen Verhaltensweisen, denen bestimmte typische Schicksale erfahrungsgemäß zugeordnet sind, auf Grund eines Analogieschlusses die entsprechenden Schicksale vermuten, aber alle solche Analogieschlüsse enthalten doch einen mehr oder weniger großen Unsicherheitsfaktor, und es kommt ihnen nur eine sehr beschränkte wissenschaftliche Geltung zu. Die [VI-016] Methode der Psychoanalyse des Einzelnen ist also eine exquisit historische: Verständnis der Triebentwicklung aus der Kenntnis des Lebensschicksals.
Die Methode der Anwendung der Psychoanalyse auf Gruppen kann keine andere sein. Auch die gemeinsamen psychischen Haltungen der Angehörigen einer Gruppe sind nur zu verstehen aus den ihnen gemeinsamen Lebensschicksalen. Die psychoanalytische Sozialpsychologie kann nur eine ebenso historische Methode haben wie die psychoanalytische Personalpsychologie. So wie diese aus der Kenntnis der Lebensschicksale des Einzelnen seine Triebkonstellation zu verstehen sucht, kann auch die Sozialpsychologie nur durch die genaue Kenntnis des Lebensschicksals eine Einsicht in die Triebstruktur der zu untersuchenden Gruppe gewinnen. Dabei besteht für den notwendigen Umfang der Kenntnis der Lebensschicksale ihrer Objekte dieselbe quantitative Differenz, wie sie oben für den Umfang des sozialpsychologisch erforschbaren Sektors der Einzelseele dargelegt wurde. So wie die Sozialpsychologie nur Aussagen über die allen gemeinsamen psychischen Haltungen machen kann, bedarf sie auch nur der Kenntnis der allen gemeinsamen und für alle charakteristischen Lebensschicksale. Nicht mehr, aber bestimmt auch nicht weniger.
Wenn auch die Methode der Sozialpsychologie grundsätzlich keine andere ist als die der Personalpsychologie, so gibt es doch eine Differenz, auf die hinzuweisen notwendig ist.
Die psychoanalytische Forschung hat es vorwiegend mit neurotischen, d.h. kranken Individuen zu tun, die sozialpsychologische Forschung mit Massen, beziehungsweise gesellschaftlichen Gruppen von normalen, d.h. nicht neurotisch erkrankten Personen.
Der neurotische Mensch ist charakterisiert dadurch, dass es ihm nicht gelungen ist, sich psychisch der ihn umgebenden Realität anzupassen, sondern dass er durch Fixierung gewisser Triebregungen, bestimmter psychischer Mechanismen, die in einer frühen Periode seiner Kindheit einmal angepasst und entsprechend waren, in Konflikte mit der Realität kommt, die in der Neurose ihren Ausdruck finden. Die seelische Struktur des Neurotikers ist eben deshalb ohne die Kenntnis seiner frühkindlichen Erlebnisse fast ganz unverständlich, weil infolge seiner Neurose als Ausdruck seiner mangelnden Angepasstheit, beziehungsweise des besonderen Umfangs infantiler Fixierungen, auch seine Situation als Erwachsener im wesentlichen von jener Situation als Kind determiniert ist. Auch für den Normalen sind die frühkindlichen Erlebnisse von entscheidender Bedeutung. Sein Charakter (im weitesten Sinn) ist von ihnen bestimmt und in seiner Totalität ohne sie unverständlich. Aber weil er sich in viel höherem Maße seelisch an seine Realität angepasst hat als der Neurotiker, ist auch ein weit größerer Sektor seiner seelischen Struktur aus der realen Lebenssituation, in der er sich befindet, verständlich als bei diesem. Da die Sozialpsychologie nicht den Anspruch erhebt, die Totalität der psychischen Struktur des Gruppenmitgliedes zu verstehen, sondern nur die den Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Einstellungen, kann sie also, weil sie es mit Normalen, d.h. mit Menschen zu tun hat, auf deren seelische Situation die Realität einen ungleich höheren Einfluss hat als auf den Neurotiker, auch auf die Kenntnis der individuellen Kindheitserlebnisse der einzelnen Mitglieder der zu untersuchenden Gruppe verzichten und aus der Kenntnis der [VI-017] realen gesellschaftlich bedingten Lebenssituation, in die diese Menschen nach den ersten Kindheitsjahren gestellt sind, Verständnis für die ihnen gemeinsamen psychischen Haltungen gewinnen.
Die Problemstellung der sozialpsychologischen Untersuchung entspricht der Methodik. Sie will erforschen, in welcher Weise gewisse, den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsame, psychische Haltungen ihren gemeinsamen Lebensschicksalen zugeordnet sind.[3] Sowenig es beim Einzelnen ein Produkt des Zufalls ist, ob diese oder jene Triebrichtung dominiert, ob der Ödipuskomplex diesen oder jenen Ausgang findet, ebenso wenig ist es ein Zufall, ob in der gesellschaftlichen Entwicklung, sei es im zeitlichen Ablauf bei der gleichen, sei es gleichzeitig bei verschiedenen Schichten, Veränderungen der psychischen Eigenart stattfinden. Das Problem der sozialpsychologischen Untersuchung ist es aufzuzeigen, warum solche Veränderungen stattfinden und wie sie sich aus dem gemeinsamen Lebensschicksal der Gruppenangehörigen verstehen lassen. Auch die sozialpsychologische Untersuchung rechnet dabei mit den Gegebenheiten der psychischen Konstitution ihrer Objekte und übersieht nicht, dass das Erleben nur die eine Seite der „Ergänzungsreihe“ darstellt. Aber in der Aufzeigung der Einwirkung des Lebensschicksals auf die psychische Struktur, beziehungsweise deren Rückwirkung auf das Lebensschicksal, besteht das eigentliche analytische Problem für die Sozialpsychologie ebenso gut wie für die Personalpsychologie.
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem eng umgrenzten Problem der Sozialpsychologie, mit der Frage nach den Motiven der Wandlung der Vorstellungen vom Verhältnis Gott-Vaters zu Jesus von der Zeit des Beginns des Christentums bis zur Formulierung des Nizänischen Dogmas im vierten Jahrhundert. Entsprechend den oben allgemein formulierten Prinzipien will diese Untersuchung aufzeigen, inwiefern die Veränderung gewisser Glaubensvorstellungen ein Ausdruck der psychischen Veränderung der dahinterstehenden Menschen ist und diese Veränderungen wiederum von den Lebensschicksalen dieser Menschen bedingt sind. Sie will die Ideen aus den Menschen und ihren Schicksalen, nicht die Menschen aus dem Schicksal ihrer Ideen verstehen und zeigen, dass das Vermächtnis der dogmatischen Entwicklung nur möglich ist bei genügender Kenntnis des Unbewussten, auf das die äußere Realität einwirkt und das seinerseits die Bewusstseinsinhalte determiniert.
Die Methode dieser Arbeit bringt es mit sich, dass der Darstellung der Lebensschicksale der zu untersuchenden Menschen, ihrer geistigen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Situation, kurz ihrer „psychischen Oberfläche“ ein verhältnismäßig großer Raum gewidmet sein muss. Wenn der Leser dies als ein Missverhältnis empfinden wird, so möge er daran denken, dass auch in einer psychoanalytischen Krankengeschichte der Darstellung des äußeren Schicksals, der Erlebnisse des Kranken, ein verhältnismäßig großer Raum zukommt. Wenn in dieser Arbeit die Darstellung der gesamten Kultursituation der zu analysierenden Massen und ihrer äußeren Schicksale noch entschiedener hervortritt als in der Schilderung der Realsituation in einer Krankengeschichte, so liegt es darin begründet, dass naturgemäß die historische Rekonstruktion, wenn sie nur einigermaßen ausführlich und plastisch sein soll, unvergleichlich komplizierter und umfangreicher ist als die Wiedergabe einfacher Tatsachen, wie sie sich im Leben eines Einzelnen zutragen. Wir glauben aber, dass [VI-018] dieser Nachteil in Kauf zu nehmen ist, weil nur so ein wirkliches analytisches Verständnis historischer Phänomene erzielt werden kann.
Diese Untersuchung behandelt einen Gegenstand, der von einem der prominentesten Vertreter der analytischen Religionsforschung, von Theodor Reik in seiner Studie Dogma und Zwangsidee (Th. Reik, 1927; vgl. 1919; 1923; ferner: E. Jones, 1931; A. J. Storfer, 1913) behandelt wurde. Die inhaltlichen Differenzen, die sich aus der verschiedenen Methodik mit Notwendigkeit ergeben, werden, wie die methodischen Differenzen selbst, erst am Schlusse dieser Arbeit kurz behandelt werden.
Es soll in dieser Arbeit die Veränderung bestimmter Bewusstseinsinhalte, der dogmatischen Vorstellungen, aus der Veränderung unbewusster seelischer Regungen erklärt und verstanden werden. Ganz entsprechend, wie wir das beim methodischen Problem getan haben, wollen wir uns auch hier in Kürze auf die für unsere Frage wichtigsten Ergebnisse der Psychoanalyse besinnen.
2. Die sozialpsychologische Funktion der Religion
Die Psychoanalyse ist eine Triebpsychologie[4], d.h. sie sieht die Lebensäußerungen des Menschen bedingt und bestimmt von Triebregungen, die sie als Ausfluss gewisser physiologisch verankerter, aber selbst nicht unmittelbar zu beobachtender Triebe ansieht. Freud hat zunächst, ganz entsprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam sind: die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe. Unter dem Eindruck der Tatsache des libidinösen Charakters, der auch den Selbsterhaltungstrieben innewohnt, und der besonderen Bedeutung destruktiver Tendenzen im seelischen Apparat des Menschen, hat er eine andere Gruppierung der Grundtriebe vorgenommen, den lebenserhaltenden (erotischen) die Zerstörungstriebe gegenübergestellt, ein Zusammenhang, auf den wir hier nicht näher einzugehen brauchen.[5] Wichtig ist für uns die Feststellung einiger Qualitäten der Sexualtriebe, die sie von den Ichtrieben unterscheiden. Die Sexualtriebe sind nicht imperativischer Natur, es ist möglich, ihre Anforderungen unbefriedigt zu lassen, ohne dass eine Bedrohung des Lebens damit verbunden wäre, wie das bei dauernder Nichtbefriedigung von Hunger, Durst und Schlafbedürfnis der Fall ist. Die Sexualtriebe gestatten fernerhin bis zu einem gewissen, nicht unerheblichen Grade eine Befriedigung in Phantasien und mit den Mitteln der eigenen Leiblichkeit, sie sind infolgedessen weit unabhängiger von der Realität als die Ichtriebe. Eng damit hängt ein weiteres zusammen: die leichte Verschiebbarkeit und Vertauschbarkeit unter den einzelnen Sexualtrieben. Die Versagung der Befriedigung einer Triebregung kann verhältnismäßig leicht durch den Ersatz einer anderen befriedigbaren Triebregung wettgemacht werden; diese Geschmeidigkeit und Beweglichkeit innerhalb der Sexualtriebe ist die Grundlage der außerordentlichen Variabilität der psychischen Struktur, und in ihr ist die Möglichkeit dafür begründet, dass das Lebensschicksal so bestimmend und verändernd auf die Triebstruktur einwirken kann. Als den Regulator des seelischen Apparates sieht Freud das durch das Realitätsprinzip modifizierte Lustprinzip an. Er sagt:
Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf [VI-020] ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird „Glück“ nur auf das Letztere bezogen. Entsprechend dieser Zweiteilung der Ziele entfaltet sich die Tätigkeit der Menschen nach zwei Richtungen, je nachdem sie das eine oder das andere dieser Ziele – vorwiegend oder selbst ausschließlich – zu verwirklichen sucht. (S. Freud, 1930a, S. 433.)
Das Streben des Individuums geht also dahin, bei gegebenen Verhältnissen ein Maximum von Triebbefriedigung und ein Minimum von Unlust zu erfahren, um der Unlustvermeidungen willen kann es Verschiebungen innerhalb der verschiedenen Triebregungen oder auch Verzichte vornehmen, während ein entsprechender Verzicht bei den Ichtrieben unmöglich ist.
Die Eigenart der Triebstruktur eines Individuums hängt ab von seiner psychischen Konstitution und in erster Linie von seinem frühinfantilen Erleben. Die äußere Realität, die ihm die Befriedigung gewisser Triebregungen garantiert, ihn andererseits zum Verzicht auf gewisse andere zwingt, ist bestimmt durch die jeweilige gesellschaftliche Situation, in der der Betreffende lebt. Diese gesellschaftliche Realität ist eine doppelte: die weitere, für alle Mitglieder der Gesellschaft geltende, und die engere Klassenrealität innerhalb der Gesellschaft, die nur für die Angehörigen der betreffenden Klasse Geltung hat.
Die Gesellschaft hat für die seelische Situation des Einzelnen eine doppelte Funktion: eine versagende und eine befriedigende. Die Triebverzichte, die der Mensch vornimmt, entstammen nur zum kleinsten Teil seiner eigenen Einsicht in die Gefährlichkeit und Schädlichkeit der entsprechenden Befriedigung. Zum größten Teil sind es Verzichte, die ihm die Gesellschaft auferlegt, und zwar erstens solche, bei denen die gesellschaftliche Einsicht von einer dem Einzelnen nicht übersehbaren wirklichen Gefahr, die für ihn selber mit der Triebbefriedigung verbunden wäre, zum Verbot führt, zweitens solche Triebverzichte, mit deren Befriedigung zwar keine Gefahr für den Einzelnen, aber eine Schädigung der Gesamtheit verbunden wäre, und endlich solche, bei denen der Triebverzicht nicht im Interesse der Gesamtheit, sondern nur in dem einer anderen Klasse, welcher der, dem verboten wird, nicht angehört, liegt.
Nicht minder deutlich als diese verbietende Funktion der Gesellschaft ist ihre befriedigende. Das Individuum findet sich überhaupt nur mit ihr ab, weil es durch ihre Hilfe auf ein gewisses Maß an Lustgewinn und Unlustvermeidung rechnen kann. Vor allem und zunächst mit Bezug auf die Befriedigung seiner elementaren Selbsterhaltungsbedürfnisse, dann aber weiter auch mit Bezug auf die der libidinösen Bedürfnisse.
Das bisher Gesagte berücksichtigt nicht die eigenartige Strukturiertheit aller bisherigen Gesellschaft. Es ist ja nicht so, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich gemeinsam beraten und feststellen, was die Gesellschaft erlauben kann und was sie verbieten muss. Es ist vielmehr so, dass, solange die Produktivkräfte, beziehungsweise die Ergebnisse der menschlichen Arbeit (sei es durch Mängel der Technik oder solche der gesellschaftlichen Organisation) nicht ausreichen, allen außer dem Schutz vor äußeren Gefahren und der Befriedigung der elementaren Ichbedürfnisse auch noch ein ausreichendes Maß an Befriedigung kultureller Bedürfnisse zu gewähren, sich die [VI-021] Stärksten zusammentun, für eine maximale Befriedigung ihrer Bedürfnisse zunächst sorgen, und dass das Maß an Befriedigung, das sie den Beherrschten gewähren, einerseits abhängt vom Stande der allgemein zur Verfügung stehenden Befriedigungsmöglichkeiten oder, anders ausgedrückt, von dem Maß dessen, was sich die Herrschenden zugunsten der Beherrschten entziehen müssen, anderseits davon, dass den Beherrschten das Minimum an Befriedigung gewährt werden muss, bei dem sie noch als mitarbeitende Glieder der Gesellschaft zu fungieren bereit und imstande sind. Die gesellschaftliche Stabilität beruht nur zum kleineren Teil auf Mitteln der äußeren Gewalt, zum größeren Teil beruht sie darauf, dass die Menschen sich in einer solchen seelischen Verfassung befinden, die sie innerlich in einer bestehenden gesellschaftlichen Situation verwurzelt. Dazu ist, wie wir oben sahen, ein Minimum an Befriedigung der natürlichen und kulturellen Triebbedürfnisse nötig. Aber für die psychische Fügsamkeit der Masse ist noch etwas anderes übrig, was mit der eigenartigen Strukturiertheit der Gesellschaft in Klassen zusammenhängt.
Freud hat darauf hingewiesen, dass die Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit des Menschen der Natur gegenüber eine Wiederholung der Situation ist, in der sich der Erwachsene einst als Kind befand, wo er Schutz und Hilfe gegen fremde Übermächte nicht entbehren konnte und wo seine Liebesregungen, den Wegen der narzisstischen Regungen folgend, sich zunächst an die Objekte heften, die ihm ersten Schutz und Befriedigung gewähren, an die Mutter und an den Vater. In dem Maße, als die Gesellschaft der Natur hilflos gegenübersteht, muss sich für das einzelne Mitglied der Gesellschaft auch als Erwachsener die psychische Situation der Kindheit wiederholen. Es überträgt einen Teil der kindlichen Liebe und Angst, aber auch der Abneigung auf eine Phantasiegestalt, auf Gott. Daneben aber auch auf Gestalten der Realität, nämlich auf die Repräsentanten der herrschenden Klasse. In der Strukturiertheit der Gesellschaft in Klassen wiederholt sich für den Einzelnen die infantile Situation. Er sieht in den Herrschenden die Mächtigen, Starken, Weisen, Ehrfurchtgebietenden, glaubt daran, dass sie es gut mit ihm meinen und nur sein Bestes wollen, weiß, dass jede Auflehnung gegen sie bestraft wird, und ist befriedigt, wenn er durch Gefügigkeit ihr Lob erringen kann. Es sind ganz die gleichen Gefühle, die er als Kind dem Vater gegenüber hatte, und es versteht sich, dass er ebenso geneigt ist, kritiklos an das zu glauben, was ihm von den Herrschenden als richtig und wahr dargestellt wird, wie er als Kind gewohnt war, dem Vater für jede Behauptung kritiklos Glauben zu schenken. Die Figur Gottes bildet die Ergänzung dieser Situation. Gott ist immer der Verbündete der Herrschenden. Wenn diese, da sie immerhin reale Persönlichkeiten sind, der Kritik eine Angriffsfläche bieten, so können sie sich auf Gott stützen, der infolge seiner Irrealität nur der Kritik spottet und durch seine Autorität die der herrschenden Klasse festigt.
In dieser psychologischen Situation, der der infantilen Gebundenheit der Beherrschten an die Herrschenden, liegt eine der wesentlichsten Garantien der gesellschaftlichen Stabilität. Die Beherrschten sind bereit, zugunsten der Herrschenden auf die Befriedigung gewisser Triebregungen zu verzichten, sie sind bereit, deren Strafandrohungen zu respektieren und an die Weisheit ihrer Anordnungen zu glauben, weil sie sich ihnen gegenüber in der gleichen Situation befinden, in der sie als hilflose [VI-022] Kinder einst dem Vater gegenüberstanden und weil die gleichen Mechanismen hier wie dort stattgaben. Diese psychische Situation bekommt ihre Festigkeit durch eine große Reihe schwerwiegender und komplizierter Maßnahmen seitens der Herrschenden, die alle die Funktion haben, die Masse in ihrer infantilen psychischen Abhängigkeit zu erhalten und zu bestärken, die herrschende Klasse dem Unbewussten der Masse als Vaterfigur suggestiv aufzunötigen. Eines der wesentlichsten Mittel zu diesem Zweck ist die Religion.[6] Sie hat die Aufgabe, die psychische Selbständigkeit der Masse zu verhindern, sie intellektuell einzuschüchtern, sie in die gesellschaftlich notwendige infantile Gefügigkeit den Herrschenden gegenüber zu bringen. Sie hat aber gleichzeitig noch eine wesentliche andere Funktion, sie soll nämlich den Massen ein gewisses Maß an Befriedigung bieten, das ihnen das Leben soweit erträglich macht, dass sie nicht den Umschlag von der Position des gehorsamen in die des aufrührerischen Sohnes vornehmen.
Welcher Art sind diese Befriedigungen? Gewiss nicht solche der Selbsterhaltungstriebe, kein Mehr an Essen, Trinken und realen Genüssen. Insoweit es sich um solche handelt, sind sie nur in der Realität zu gewähren, dazu braucht man keine Religion, und gerade diese soll ja dazu dienen, der Masse den Verzicht auf so viele Versagungen, die die Realität ihnen bietet, leichter zu machen. Die Befriedigungen, die die Religion zu bieten hat, sind libidinöser Natur, es sind Befriedigungen, die sich im wesentlichen in der Phantasie des zu Befriedigenden abspielen, und sie können es sein, weil die libidinösen Impulse im Gegensatz zu den Ichtrieben eine Befriedigung in Phantasien gestatten.
Wir sind hier bei der Frage nach einer der psychischen Funktionen der Religion angelangt und wir wollen uns kurz auf die wichtigsten Ergebnisse der Forschungen Freuds besinnen. Freud hat in Totem und Tabu (S. Freud, 1912-13) gezeigt, dass der Tiergott des Totemismus der erhöhte Vater ist, dass sich im Verbot, das Totemtier zu töten und zu verzehren und der dazu im Gegensatz stehenden feierlichen Sitte, das Verbotene einmal im Jahr doch zu begehen, die ambivalente Einstellung wiederholt, die der Mensch als Kind seinem Vater gegenüber erworben hat, der gleichzeitig helfender Beschützer und unterdrückender Rivale ist. Es ist besonders von Reik gezeigt worden, dass diese Übertragung der dem Vater geltenden infantilen Einstellung auf Gott auch in den großen Kulturreligionen stattfindet, dass die Gefühlseinstellung des gläubigen Christen oder Juden zu seinem Gotte dieselben Züge der Ambivalenz aufzeigt, wie sie beim Kind dem Vater gegenüber geherrscht haben. Die eben dargelegte erste Fragestellung Freuds und seiner Schüler war die nach der psychischen Beschaffenheit der religiösen Einstellung zu Gott, und die Antwort lautete, dass in der Einstellung des Erwachsenen zu Gott sich die infantile Einstellung des Kindes zum Vater wiederholt. Diese infantile psychische Situation stellt Vorbild und Möglichkeit der religiösen Situation dar. In Die Zukunft einer Illusion ist Freud über diese Fragestellung hinaus zu einer weiteren übergegangen. Er fragt nicht mehr nur, wie ist Religion psychologisch möglich, sondern er fragt weiter, warum ist Religion oder war sie bisher nötig. Er gibt auf diese Frage eine Antwort, die gleichzeitig psychische und soziale Tatsachen berücksichtigt. Er spricht der Religion die Wirkung eines Narkotikums zu, das geeignet ist, den Menschen in seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit den Naturkräften [VI-023] gegenüber einigen Trost zu gewähren.
Denn diese Situation ist nichts Neues, sie hat ein infantiles Vorbild, ist eigentlich nur die Fortsetzung des früheren, denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon einmal befunden, als kleines Kind einem Elternpaar gegenüber, das man Grund hatte zu fürchten, zumal den Vater, dessen Schutzes man aber auch sicher war gegen die Gefahren, die man damals kannte. So lag es nahe, die beiden Situationen einander anzugleichen. Auch kam wie im Traumleben der Wunsch dabei auf seine Rechnung. Eine Todesahnung befällt den Schlafenden, will ihn in das Grab versetzen, aber die Traumarbeit weiß die Bedingung auszuwählen, unter der auch dies gefürchtete Ereignis zur Wunscherfüllung wird; der Träumer sieht sich in einem alten Etruskergrab, in das er selig über die Befriedigung seiner archäologischen Interessen hinabgestiegen war. Ähnlich macht der Mensch die Naturkräfte nicht einfach zu Menschen, mit denen er wie mit seinesgleichen verfahren kann, das würde auch dem überwältigenden Eindruck nicht gerecht werden, den er von ihnen hat, sondern er gibt ihnen Vatercharakter, macht sie zu Göttern, folgt dabei nicht nur einem infantilen, sondern auch, wie ich versucht habe zu zeigen, einem phylogenetischen Vorbild. Mit der Zeit werden die ersten Beobachtungen von Regel- und Gesetzmäßigkeit an den Naturerscheinungen gemacht, die Naturkräfte verlieren damit ihre menschlichen Züge. Aber die Hilflosigkeit der Menschen bleibt und damit ihre Vatersehnsucht und die Götter. Die Götter behalten ihre dreifache Aufgabe, die Schrecken der Natur zu bannen, mit der Grausamkeit des Schicksals, besonders wie es sich im Tode zeigt, zu versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auferlegt werden. (S. Freud, 1927c, S. 338°f.)
Freud beantwortet auch die Frage danach, worin die innere Kraft der religiösen Lehren besteht, welchem Umstand sie ihre von der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirksamkeit verdanken. „Die religiösen Vorstellungen“, sagt er,
sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit fürs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren – Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wissbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie[7] ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden. (S. Freud, 1927c, S. 352°f.) [VI-024]
Freud sieht also die Möglichkeit der religiösen Einstellung in der infantilen Situation, ihre (relative) Notwendigkeit in der Tatsache der Ohnmacht und Hilflosigkeit des Menschen gegenüber der Natur, und er zieht die Konsequenz, bei wachsender Beherrschung der Natur durch die Menschen die Religion als eine überflüssig werdende Illusion anzusehen.
Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen: Der Mensch strebt nach einem Maximum an Lustgewinn, die gesellschaftliche Realität zwingt ihn zu vielen Triebverzichten und die Gesellschaft versucht, den Einzelnen für diese Triebverzichte durch andere, für die Gesellschaft, beziehungsweise die herrschende Klasse, unschädliche Befriedigungen zu entschädigen.
Diese Befriedigungen sind solche, die sich im wesentlichen in Phantasien vollziehen, und zwar in kollektiven, allen gemeinsamen; wir können sie als gemeinsame Phantasiebefriedigungen bezeichnen. Sie erfüllen eine wichtige Funktion in der gesellschaftlichen Realität. Insoweit diese Realbefriedigungen nicht gestattet sind, treten die Phantasiebefriedigungen als Ersatz ein und werden zu einer mächtigen Stütze der gesellschaftlichen Stabilität. Je größer die Versagungen sind, die die Menschen in der Realität erleiden, desto stärker muss dafür Sorge getragen werden, dass sie sich durch Phantasiebefriedigung für die realen Versagungen entschädigen können. Die Phantasiebefriedigungen haben die doppelte Funktion jedes Narkotikums, sie sind schmerzlindernd, aber gleichzeitig auch ein Hindernis der aktiven Einwirkung auf die Realität. Die gemeinsamen Phantasiebefriedigungen haben gegenüber den individuellen Tagträumen einen wesentlichen Vorzug darin, dass sie infolge ihrer Gemeinsamkeit für das Bewusstsein wirken wie eine Einsicht von realen Tatsachen. Eine Illusion, die von allen phantasiert wird, wird zur Realität. Die älteste dieser kollektiven Phantasiebefriedigungen ist die Religion. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft werden die Phantasien komplizierter und in höherem Maße rational bearbeitet. Die Religion selbst wird differenzierter, neben sie treten Dichtung, bildende Kunst, Philosophie und Moral als Inhalte der kollektiven Phantasien.
Inhalt und Umfang der Phantasiebefriedigungen werden bestimmt einerseits von der psychischen Konstitution, anderseits von der sozialen Realität. Die soziale Realität ist dadurch charakterisiert, dass sie in der bisherigen Geschichte der Menschheit immer eine Klassenrealität war, d.h., dass sich immer eine herrschende, psychisch die Vaterrolle einnehmende, und eine beherrschte, die Kindesrolle einnehmende Klasse gegenüberstanden. Das bedeutet, dass die Richtung der Triebbedürfnisse und Befriedigungen der Masse nicht nur bestimmt wird von der allgemeinen gesellschaftlichen Situation, d.h. vom jeweiligen Grad der Beherrschung der Natur durch die Menschen, sondern speziell von der Klassensituation, die erfordert, dass der Angehörige der beherrschten Klasse sich in einem für die gesellschaftliche Stabilität zweckmäßigen psychischen Abhängigkeitsverhältnis zur herrschenden Klasse befindet. Die Religion hat also eine dreifache Funktion: für alle Menschen die des Trostes für die allen vom Leben aufgezwungenen Versagungen, für die große Masse die der suggestiven Beeinflussung im Sinne ihres psychischen Abfindens mit ihrer Klassensituation und für die herrschende Klasse die der Entlastung vom Schuldgefühl gegenüber der Not der von ihr Unterdrückten. [VI-025] Die folgende Untersuchung soll an einem ganz kleinen Ausschnitt der religiösen Entwicklung das allgemein Gesagte im einzelnen nachweisen. Es wird versucht zu zeigen, welchen Einfluss die äußere Realität in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Gruppe Menschen hatte, wie sich deren psychische Situation in bestimmten Glaubensvorstellungen, d.h. in gewissen kollektiven Phantasien ausdrückte, weiterhin welche psychische Veränderung durch die Veränderung der äußeren Situation herbeigeführt wurde, und wie diese psychische Veränderung auf dem Wege über das Unbewusste in neuen, bestimmte Triebregungen befriedigenden, religiösen Phantasien Ausdruck findet, und es wird dabei deutlich werden, wie eng der Wandel in den religiösen Vorstellungen verknüpft ist, einerseits mit der Wiederbelebung verschiedener infantiler Beziehungsmöglichkeiten zum Vater beziehungsweise zur Mutter, anderseits mit der Veränderung der Einstellung zur herrschenden Klasse und ihren Vertretern, beziehungsweise der sozialen und ökonomischen Situation.
Der Gang der Untersuchung ist durch die methodischen Voraussetzungen, von denen bisher gesprochen wurde, bestimmt. Es soll das Dogma aus den Menschen, nicht die Menschen aus dem Dogma verstanden werden. Wir werden also zunächst versuchen, eine Darstellung der Gesamtsituation jener Schicht zu geben, aus der der urchristliche Glaube entstanden ist, und den psychologischen Sinn dieses Glaubens aus der psychischen Gesamtsituation dieser Menschen zu verstehen suchen. Es wird dann weiter dargestellt werden, welche ganz anderen Menschen in einer anderen psychischen Situation die Träger des Christentums dreihundert Jahre später waren, um dann wiederum den unbewussten Sinn des Christusdogmas, wie es sich als Endprodukt einer dreihundertjährigen Entwicklung herauskristallisierte, aus der Situation jener Menschen heraus zu verstehen. Es werden in dieser Arbeit im wesentlichen nur das Anfangs- und Endprodukt der dogmatischen Entwicklung, der urchristliche Glaube, und das Nizänische Dogma behandelt werden. Die Untersuchung der verschiedenen Stufen der dogmatischen Entwicklung wird auf einige wenige Andeutungen beschränkt sein und soll einer besonderen Arbeit vorbehalten bleiben.[8]
3. Das Urchristentum und seine Vorstellung von Jesus
Jeder Versuch, die Entstehung des Christentums zu verstehen, muss mit der Untersuchung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geistigen und psychischen Situation seiner ersten Träger beginnen. (Zur wirtschaftlichen Entwicklung vgl. bes.: M. Rostovtzeff, 1926; M. Weber, 1924; E. Meyer, 1924; K. Kautsky, 1923.)
Palästina war ein Teil des römischen Imperiums und unterlag den Bedingungen von dessen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Das Augusteische Prinzipat hatte das Ende der Herrschaft einer feudalen Oligarchie bedeutet und dem städtischen Bürgertum zum Siege verholfen. Der wachsende internationale Verkehr bedeutete keine Verbesserung für die großen Massen, keine stärkere Befriedigung der Alltagsbedürfnisse, sondern interessiert war an ihm nur die dünne Schicht der besitzenden Klasse. Ein erwerbsloses Hungerproletariat von vorher nie gekanntem Umfange füllte die Städte. Jerusalem war wohl nächst Rom die Stadt, die relativ am meisten Proletariat dieser Art enthielt. Die Handwerker, die in der Regel nur Heimarbeiter waren, gehörten zum großen Teil zum Proletariat und kamen leicht dazu, mit den Bettlern, Lastträgern und Bauern gemeinsame Sache zu machen. Dabei war die Lage des jerusalemitischen Proletariats noch schlimmer als die des römischen. Besaß es doch nicht das römische Bürgerrecht und wurde nicht von den Kaisern durch die großen Getreideverteilungen und die prunkvollen Spiele und Schaustellungen mit den notwendigsten Bedürfnissen für Magen und Herz versorgt.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120500
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (August)
- Schlagworte
- Fromm Christusdogma Sozialpsychologie Religion Psychoanalyse