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Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen

Greatness and Limitations of Freud’s Thought

©2015 94 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch erläutert der Psychoanalytiker und Soziologe Erich Fromm die wichtigsten Erkenntnisse und Leistungen des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freud. Gleichzeitig zeigt er, wie dessen bürgerliches Denken einige seiner Entdeckungen wieder verdeckte und warum die einstmals radikale Theorie der Psychoanalyse Gefahr läuft, sich zu einer Theorie der Anpassung zu entwickeln, wenn sie sich Weiterentwicklungen verschließt.

Im Mittelpunkt seiner kritischen Neubetrachtung der Psychoanalyse steht die Freudsche Triebtheorie und die Bedeutung des Ödipuskomplexes, aber auch die Traumtheorie und Traumdeutung, die Charaktertheorie und der Narzissmus, die Fromm selbst weiterentwickelt hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen

(Greatness and Limitations of Freud’s Thought)

Erich Fromm
(1979a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, Stuttgart 1979 (Deutsche Verlags-Anstalt); der amerikanische Originaltitel lautet Greatness and Limitations of Freud’s Thought und ist erst 1980, ein Jahr nach der Publikation der deutschen Übersetzung, bei Harper & Row in New York erschienen.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VIII, S. 259-362.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1979 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Einleitung

Um die außerordentliche Bedeutung der psychoanalytischen Entdeckungen Sigmund Freuds voll zu würdigen, muss man das Prinzip verstehen, auf das sie sich gründen.[1] Man kann dieses Prinzip nicht adäquater ausdrücken als mit dem Satz des Evangeliums: „Und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Jo 8,32). Der Gedanke, dass die Wahrheit errettet und heilt, ist in der Tat eine alte Einsicht, welche die großen Meister des Lebens verkündet haben. Niemand hat das vielleicht mit einem solchen Radikalismus und einer solchen Klarheit getan wie Buddha, aber es ist ein Gedanke, den auch Judentum und Christentum, Sokrates, Spinoza, Hegel und Marx teilen.

Für das buddhistische Denken ist die Unwissenheit zusammen mit Hass und Gier eines der Übel, von denen sich der Mensch freimachen muss, wenn er nicht im Zustand des Begehrens verbleiben will, das unausweichlich Leiden verursacht. Der Buddhismus bekämpft nicht die Freude, ja nicht einmal das Vergnügen in der Welt, vorausgesetzt, dass sie nicht in der Gier ihren Ursprung haben. Der gierige Mensch kann kein freier und daher auch kein glücklicher Mensch sein. Er ist der Sklave von Dingen, die ihn beherrschen. Dieser Prozess des Erwachens aus Illusionen ist die Vorbedingung für die Freiheit und die Befreiung vom Leiden, das die Gier unausweichlich hervorruft. Die Des-Illusionierung, die Ent-Täuschung ist die Voraussetzung für ein Leben, das der vollen Entwicklung des Menschen oder – um mit Spinoza zu reden – dem Modell der menschlichen Natur am nächsten kommt. Weniger zentral und radikal, weil mit der Idee eines Gott-Idols behaftet, ist der Begriff der Wahrheit und das Bedürfnis nach der Befreiung von Illusionen in der christlichen und jüdischen Tradition. Aber als diese Religionen einen Kompromiss mit der Macht eingingen, konnten sie nicht umhin, die Wahrheit zu verraten. In den revolutionären Sekten konnte die Wahrheit dann wieder einen hervorragenden Platz einnehmen, weil deren ganze Energie sich darauf richtete, die Widersprüche zwischen dem christlichen Denken und der christlichen Praxis aufzudecken.

Spinozas Lehren sind in vielem den Lehren Buddhas ähnlich. Der Mensch, der sich von irrationalen Trieben (passiven Affekten) hinreißen lässt, ist notwendigerweise jemand, der sich von sich selbst und der Welt falsche Vorstellungen macht, der also mit Illusionen lebt. Menschen, die sich von ihrer Vernunft leiten lassen, haben aufgehört, [VIII-262] sich von ihren Sinnen verführen zu lassen. Sie handeln entsprechend den beiden „aktiven Affekten“, nämlich Vernunft und Mut. Marx steht in der Tradition jener, für die die Wahrheit die Voraussetzung für Erlösung ist. Sein Werk diente nicht primär dazu, das Bild einer guten Gesellschaft zu entwerfen, es war eine rückhaltlose Kritik an den Illusionen, die den Menschen daran hindern, die gute Gesellschaft aufzubauen. Er sagt: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“ (K. Marx, 1971, S. 208).

Freud hätte das ebenso formulieren können, und dieser Satz ist ein passendes Motto für eine Therapie, die sich auf die psychoanalytische Theorie gründet. Freud hat den Begriff der Wahrheit allerdings ungemein erweitert. Für ihn ist Wahrheit nicht mehr das, was ich bewusst glaube oder denke, sondern das, was ich verdränge, weil ich es nicht denken möchte.

Die Größe von Freuds Entdeckung liegt darin, dass er eine Methode aufgezeigt hat, wie man zur Wahrheit jenseits dessen gelangt, was der Einzelne für die Wahrheit hält. Er war dazu in der Lage, weil er die Auswirkungen der Verdrängung und dementsprechend die Rationalisierungen entdeckte. Er hat empirisch nachgewiesen, dass der Weg zur Heilung eines Menschen in dessen wahrer Einsicht in seine seelische Struktur liegt und dass dadurch die Verdrängung aufgehoben werden kann. Diese Anwendung des Prinzips, dass die Wahrheit befreit und heilt, ist die große und vielleicht sogar die größte Leistung Freuds – wenn auch dieses Prinzip bei seiner praktischen Anwendung oft entstellt wurde und oft neue Illusionen erzeugt hat.

In diesem Buch will ich die meiner Meinung nach wichtigsten Entdeckungen Freuds im Einzelnen aufweisen. Gleichzeitig werde ich zeigen, wo und in welcher Weise das für Freud charakteristische bürgerliche Denken seine Entdeckungen eingeschränkt und manchmal wieder verdeckt hat. Da meine Auseinandersetzung mit dem Freudschen Denken ihre eigene Kontinuität hat, liegt es nahe, dass ich in den folgenden Kapiteln auch auf frühere Äußerungen zurückgreife.

1. Die Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis

a) Warum jede neue Theorie fehlerhaft sein muss

Der Versuch, Freuds theoretisches System wie auch das eines jeden anderen kreativen systematischen Denkers zu verstehen, kann nur zum Erfolg führen, wenn wir erkennen, dass und weshalb jedes System, so wie es von seinem Urheber entwickelt und dargeboten wird, notwendigerweise auch Irrtümer enthält. Dies beruht nicht auf einem Mangel an Genialität, Kreativität oder Selbstkritik von Seiten des Autors, sondern auf einem grundsätzlichen und unvermeidlichen Widerspruch: Einerseits hat der Autor etwas Neues zu sagen, etwas, das noch nie zuvor gedacht oder gesagt wurde. Aber wenn man von etwas „Neuem“ spricht, dann ordnet man es nur in eine deskriptive Kategorie ein, die dem, was an dem schöpferischen Gedanken wesentlich ist, nicht gerecht wird. Kreatives Denken ist immer auch kritisches Denken, weil es mit gewissen Illusionen aufräumt und dem Gewahrwerden der Realität näherkommt. Es erweitert den Bereich menschlichen Bewusstseins und stärkt die Kraft menschlicher Vernunft. Immer hat kritisches und deshalb kreatives Denken eben dadurch, dass es das illusorische Denken negiert, eine befreiende Funktion.

Andererseits muss der Denker seinen neuen Gedanken im Geist seiner Zeit ausdrücken. Verschiedene Gesellschaften haben verschiedene Arten von „gesundem Menschenverstand“, verschiedene Denkkategorien und verschiedene Systeme der Logik: Jede Gesellschaft besitzt ihren eigenen „gesellschaftlichen Filter“, der nur für bestimmte Ideen, Begriffe und Erfahrungen durchlässig ist.[2] Die Ideen, Begriffe und Erfahrungen, die nicht unbedingt unbewusst bleiben müssen, können bewusst werden, wenn sich durch grundsätzliche Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur die Eigenart des „gesellschaftlichen Filters“ ändert. Gedanken, die durch den gesellschaftlichen Filter einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht hindurch können, sind „undenkbar“ und daher natürlich auch „unsagbar“. Dem Durchschnittsmenschen erscheinen die Gedankenmodelle seiner Gesellschaft schlechthin logisch. Die Gedankenmodelle völlig anderer Gesellschaften betrachtet er als unlogisch oder als schlechthin unsinnig. Aber nicht nur die Logik wird durch den „gesellschaftlichen Filter“ und letzten Endes durch die Lebenspraxis der [VIII-264] jeweiligen Gesellschaft bestimmt, sondern auch gewisse Denkinhalte. Man denke zum Beispiel an die herkömmliche Auffassung, dass die Ausbeutung unter Menschen eine „normale“, natürliche und unvermeidliche Erscheinung sei. Für ein Mitglied der neolithischen Gesellschaft dagegen, in der alle Männer und Frauen individuell oder in Gruppen von ihrer Hände Arbeit lebten, wäre eine solche Vorstellung undenkbar gewesen. Angesichts ihrer gesamten gesellschaftlichen Organisation wäre die Ausbeutung des Menschen durch andere Menschen eine „verrückte“ Idee gewesen, weil noch nicht soviel Überschuss vorhanden war, dass es einen Sinn gehabt hätte, andere für sich arbeiten zu lassen. (Hätte jemand einen anderen gezwungen, für sich zu arbeiten, so hätte das nicht bedeutet, dass hierdurch mehr Güter erzeugt worden wären, es hätte nur bedeutet, dass der „Arbeitgeber“ hierdurch zur Untätigkeit und Langeweile verurteilt gewesen wäre.) Ein weiteres Beispiel sind die vielen Gesellschaften, die kein Privateigentum im modernen Sinn, sondern nur „funktionales Eigentum“ wie Werkzeuge kannten, die zwar einem Einzelnen gehörten, solange er sie benutzte, die dieser aber bereitwillig mit anderen teilte, falls diese sie benötigten.

Was undenkbar ist, ist auch unsagbar, da die Sprache keine Worte dafür besitzt. Viele Sprachen haben tatsächlich kein Wort für „haben“, sondern müssen die Vorstellung des Besitzes mit anderen Worten ausdrücken, zum Beispiel mit der Konstruktion „es ist mir“, die den funktionalen, aber nicht den privaten Besitz bezeichnet („privat“ im Sinn des lateinischen privare, was soviel bedeutet wie „jemandem etwas vorenthalten“: nämlich den Besitz einer Sache, deren Benutzung jedem mit Ausnahme des Eigentümers vorenthalten wird). Sehr viele Sprachen hatten zunächst kein Wort für „haben“, im Verlauf ihrer Entwicklung jedoch, vermutlich mit dem Aufkommen des Privateigentums, entwickelten sie es. (Vgl. É. Benveniste, 1966.) Ein weiteres Beispiel: Im zehnten oder elften Jahrhundert war in Europa die Vorstellung einer Welt ohne Bezugnahme auf Gott undenkbar, weshalb es auch ein Wort wie „Atheismus“ nicht geben konnte. Die Sprache selbst ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Verdrängung gewisser Erfahrungen, die nicht in die Struktur der betreffenden Gesellschaft hineinpassen, und die Sprachen unterscheiden sich insofern, als verschiedenartige Erfahrungen verdrängt werden und daher nicht ausdrückbar sind. (Auf ein ganz anderes Problem möchte ich hier nicht eingehen, nämlich auf die Möglichkeit, subtile und komplexe Gefühlserfahrungen in Worte zu fassen, was nur in der Kunst möglich ist.)

Hieraus folgt, dass der kreative Denker im Sinne der Logik, der Gedankenmodelle und der ausdrückbaren Vorstellungen seiner Kultur denken muss. Das bedeutet, dass er noch nicht über die geeigneten Worte verfügt, um die kreative, die neue, die befreiende Idee auszudrücken. Er sieht sich gezwungen, ein unlösbares Problem zu lösen: den neuen Gedanken in Begriffe und Worte zu fassen, die in seiner Sprache noch nicht existieren. (Es kann sehr wohl sein, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt existieren, nachdem man seine kreativen Gedanken allgemein akzeptiert hat.) Die Folge ist, dass der neue Gedanke, so wie er von ihm formuliert wird, eine Mischung aus etwas wirklich Neuem und dem konventionellen Denken ist, über das er hinausreicht. Dem Denker freilich ist dies nicht bewusst. Die konventionellen Gedanken seiner Kultur sind für ihn unbezweifelbar wahr, weshalb er selbst kaum den Unterschied merkt [VIII-265] zwischen dem, was an seinem Denken kreativ und was rein konventionelles Gedankengut ist. Erst im historischen Prozess, wenn sich gesellschaftliche Veränderungen in den Veränderungen der Denkmodelle spiegeln, wird offenbar, was am Denken eines kreativen Denkers wirklich neu war und bis zu welchem Grad sein System lediglich ein Spiegelbild des herkömmlichen Denkens ist. Seinen Nachfolgern, die in einem anderen denkerischen Bezugsrahmen leben, bleibt es dann überlassen, den „Meister“ zu interpretieren, indem sie seine „originären“ Ideen von seinen konventionellen unterscheiden. Sie können die Widersprüche zwischen dem Neuen und dem Alten analysieren und müssen nicht mit allen möglichen Ausflüchten versuchen, die seinem System immanenten Widersprüche miteinander in Einklang zu bringen.

Die historische Rezeption eines Autors, bei der die wesentlichen und neuen von den nebensächlichen und zeitbedingten Elementen unterschieden werden, ist selbst das Produkt einer bestimmten historischen Periode, die ihrerseits die Interpretation beeinflusst. Bei dieser kreativen Interpretation mischen sich wiederum kreative und gültige Elemente mit zeitgebundenen und nur zufälligen. Eine solche kritische Rezeption ist nicht schlechthin richtig, wie auch die ursprüngliche Auffassung nicht schlechthin falsch war. Einige Elemente der Revision behalten ihre Gültigkeit, nämlich da, wo sie die Theorie von den Fesseln eines früheren konventionellen Denkens befreien. Im Prozess der kritischen Durchsicht früherer Theorien gelangen wir zu einer Annäherung an die Wahrheit, aber wir dringen nicht bis zur Wahrheit vor und können sie auch nicht finden, solange gesellschaftliche Widersprüche und Zwänge ideologische Verfälschungen unumgänglich machen und solange die Vernunft des Menschen durch irrationale Leidenschaften beeinträchtigt wird, die ihre Wurzeln in der Disharmonie und Irrationalität unseres gesellschaftlichen Lebens haben. Nur in einer Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung gibt und die daher nicht auf irrationale Annahmen zurückgreifen muss, um die Ausbeutung zu vertuschen oder zu rechtfertigen, nur in einer Gesellschaft, in der die grundlegenden Widersprüche gelöst sind und in der die gesellschaftliche Wirklichkeit unverzerrt erkannt werden kann, kann der Mensch vollen Gebrauch von seiner Vernunft machen, und erst dann kann er die Wirklichkeit unentstellt erkennen, das heißt, erst dann kann er die Wahrheit sagen. Anders ausgedrückt: Die Wahrheit ist geschichtlich, sie hängt davon ab, bis zu welchem Grad in einer Gesellschaft Vernunft herrscht und Widersprüche nicht vorhanden sind.

Der Mensch kann die Wahrheit nur erfassen, wenn er sein gesellschaftliches Leben auf eine humane, würdige und vernünftige Weise ordnen kann, ohne Angst und daher ohne Gier. Politisch-religiös gesprochen heißt das: Nur in der Messianischen Zeit kann die Wahrheit erkannt werden, insoweit sie überhaupt erkennbar ist.

b) Die Wurzeln der Freudschen Fehler

Wenn man das Gesagte auf Freuds Denken anwendet, so muss man – um Freud zu verstehen – versuchen herauszufinden, welche seiner Entdeckungen wirklich neu und kreativ waren, bis zu welchem Grad er sie auf eine entstellte Weise ausdrücken musste [VIII-266] und wie seine Entdeckungen dadurch, dass sie von diesen Fesseln befreit wurden, nur umso fruchtbarer werden.

Gilt dies ganz allgemein in Bezug auf Freuds Denken, so erhebt sich nun die Frage, was für Freud in der Tat „undenkbar“ und daher eine Art „Straßensperre“ war, die er nicht überwinden konnte. Ich kann hier nur zwei Bereiche sehen:

(1) Der erste betrifft die Theorie des bürgerlichen Materialismus, die in Deutschland vor allem Männer wie Vogt, Moleschott und Büchner entwickelten. Büchner glaubte entdeckt zu haben, dass es keine Kraft ohne Stoff und keinen Stoff ohne Kraft gäbe (vgl. L. Büchner, 1855). Freuds Lehrer, insbesondere sein bedeutendster Lehrer, von Brücke, waren Vertreter des bürgerlichen Materialismus. Freud blieb stark von der Denkweise von Brückes und ganz allgemein vom bürgerlichen Materialismus beeinflusst, und er konnte sich unter diesem Einfluss einfach nicht vorstellen, dass es starke seelische Kräfte geben könne, für die keine spezifischen physiologischen Wurzeln nachweisbar seien.

Freuds eigentliches Ziel war es, menschliche Leidenschaften zu verstehen. Bisher hatten sich Philosophen, Dramatiker und Romanciers mit den Leidenschaften befasst, jedoch nicht die Psychologen oder Neurologen. Wie löste Freud das Problem? Zu einer Zeit, als noch ziemlich wenig über die hormonalen Einflüsse auf die Psyche bekannt war, sah Freud ein Phänomen, bei dem die Verbindung von Physiologischem und Psychischem wohlbekannt war: die Sexualität. Wenn es gelingt, die Sexualität als die Wurzel für alle Leidenschaften nachzuweisen, dann ist der theoretischen Forderung Genüge getan, denn die physiologische Wurzel psychischer Kräfte war entdeckt!

Es war später Jung, der diese Verbindung in Frage stellte. Darin liegt meiner Meinung nach eine wirklich wertvolle Ergänzung des Freudschen Denkens.

(2) Der zweite Bereich von nicht denkbaren Gedanken hängt mit Freuds bürgerlicher und autoritär-patriarchalischer Einstellung zusammen. Eine Gesellschaft, in der die Frau dem Mann wirklich gleichgestellt ist; in der die Männer trotz ihrer angeblichen physiologischen und psychischen Überlegenheit nicht Herrschaft ausüben, war für Freud einfach undenkbar. Als der von ihm sehr bewunderte John Stuart Mill seinen Gedanken über die Gleichwertigkeit der Frauen Ausdruck verlieh, schrieb Freud in einem Brief: „Dafür (...) fehlte ihm der Sinn für das Absurde in manchen Punkten (...)“ (S. Freud, 1960, S. 73). Das Wort „absurd“ ist ein sehr charakteristischer Ausdruck für etwas, das undenkbar ist. Die meisten Menschen bezeichnen gewisse Ideen als absurd, weil für sie nur das normal ist, was innerhalb des Bezugssystems des konventionellen Denkens liegt. Was darüber hinausgeht, ist für den Durchschnittsmenschen absurd. (Etwas anderes ist es, wenn der Autor – oder der Künstler – großen Erfolg hat. Ist Erfolg nicht eine Gewähr für geistige Gesundheit?) Genau die Tatsache, dass die Idee der Gleichwertigkeit der Frau für Freud undenkbar war, führte zu seiner Psychologie der Frau. Meiner Meinung nach ist seine Vorstellung, dass die Hälfte der Menschheit der anderen Hälfte biologisch, anatomisch und psychisch unterlegen ist, die einzige Idee in Freuds Denken, mit der man sich in keiner Weise abfinden kann, es sei denn, man nimmt sie als Schilderung einer männlich-chauvinistischen Einstellung. [VIII-267]

Aber der bürgerliche Charakter von Freuds Denken kommt keineswegs nur in dieser extremen Form des Patriarchalismus zum Ausdruck. Tatsächlich gibt es ja nur wenige Denker, die in dem Sinn „radikal“ sind, dass sie die Gedankenwelt ihrer Klasse überschreiten. Freud hat nicht zu ihnen gehört. Die Klassenbezogenheit seines Denkens ist praktisch in allen seinen theoretischen Behauptungen und in seiner gesamten Denkweise zu spüren. Wie hätte es auch anders sein können, da er ja kein radikaler Denker war? Es bestünde auch kein Grund, sich darüber zu beklagen, wenn seine orthodoxen (und unorthodoxen) Nachfolger sich nicht hierdurch in ihrer unkritischen Haltung bestätigt gefühlt hätten. Diese Einstellung Freuds erklärt auch, dass seine Schöpfung, die eine kritische Theorie – nämlich die Kritik des menschlichen Bewusstseins – ist, kaum mehr als eine Handvoll politisch-radikaler Denker hervorgebracht hat.

Man müsste ein ganzes Buch darüber schreiben, wollte man Freuds wichtigste Vorstellungen und Theorien vom Standpunkt ihrer Klassenbedingtheit aus analysieren. Es ginge jedenfalls weit über den Rahmen dieses Buches hinaus. So möchte ich nur einige wenige Beispiele dafür anführen.[3]

(1) Freuds therapeutisches Ziel war es, die instinkthaften Triebe durch die Stärkung des Ichs zu beherrschen. Sie mussten dazu vom Ich und vom Über-Ich bezwungen werden. Hierin kommt Freud dem mittelalterlichen theologischen Denken nahe, wenngleich mit dem wichtigen Unterschied, dass in seinem System für die Gnade und die mütterliche Liebe – über das reine Nähren des Kindes hinaus – kein Platz ist. Sein Schlüsselwort heißt „Beherrschung“. Der psychologische Begriff entspricht dabei der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Genau wie in der Gesellschaft die Mehrheit von einer Minderheit beherrscht wird, die die Macht innehat, glaubt man, so werde die Psyche durch die Autorität des Ichs und Über-Ichs beherrscht. Der Durchbruch des Unbewussten bringt die Gefahr einer Revolution auf gesellschaftlicher Ebene mit sich. Beherrschung und Verdrängung sind repressive autoritäre Methoden, um den inneren und äußeren Status quo zu bewahren. Repression ist jedoch keineswegs die einzige Weise, mit Problemen des gesellschaftlichen Wandels fertig zu werden. Gewaltandrohung als ein Mittel, um „Gefährliches“ niederzuhalten, ist nur innerhalb eines autoritären Systems eine Notwendigkeit, denn dort ist das höchste Ziel, den Status quo zu erhalten. Andere Modelle der Strukturierung des Individuums und andere Modelle der Gesellschaftsstruktur können konstruiert und erprobt werden. Letztlich geht es immer um die Frage, wieviel Verzicht auf Glück die in einer Gesellschaft herrschende Minderheit der Mehrheit aufbürden muss. Die Antwort hängt davon ab, wie stark die produktiven Kräfte in einer Gesellschaft entwickelt sind und wie gering dementsprechend die notwendige Frustration des Einzelnen ist. Das gesamte Schema von „Über-Ich, Ich und Es“ ist aber eine hierarchische Struktur, welche die Möglichkeit ausschließt, dass eine Gemeinschaft freier, das heißt nicht-ausgebeuteter Menschen in Harmonie leben kann, ohne zuvor finstere Mächte unter Kontrolle bringen zu müssen. [VIII-268]

(2) Für Freud ist die Frau ihrem Wesen nach narzisstisch, unfähig zu lieben und sexuell kalt. (Vgl. die 33. Vorlesung in S. Freud, 1933a.) Es versteht sich von selbst, dass dieses groteske Bild, das Freud von der Frau zeichnet, männliche Propaganda ist. Die Frau der Mittelklasse war meist sexuell frigid, weil die bürgerliche Heirat mit ihrem Besitz-Charakter Frauen hervorbrachte, deren frigide Körper bewiesen, dass sie der Besitz des Mannes waren. Nur die Frauen der Oberklasse und die Kurtisanen durften zum Subjekt werden, aktiv sein (oder es wenigstens vortäuschen).

Kein Wunder, dass die Männer die sexuelle Lust als Eroberung erlebten. Die Überbewertung des „Sexualobjektes“, die es nach Freud nur beim Mann gibt (ein weiterer Mangel der Frau), ist – soweit ich das beurteilen kann – im wesentlichen Freude an der Jagd und an der schließlichen Eroberung. Nachdem die Eroberung durch den ersten Geschlechtsverkehr sichergestellt war, wurde die Frau zu der Aufgabe abgestellt, Kinder zu gebären und eine tüchtige Hausfrau zu sein.[4] Aus einem Jagdobjekt verwandelte sie sich in eine Nicht-Person. Hätte Freud viele Patientinnen aus der obersten Schicht der französischen und englischen Aristokratie gehabt, so hätte er vielleicht sein strenges Bild von der frigiden Frau geändert.

(3) Das wichtigste Beispiel für die bürgerlichen Züge von Freuds scheinbar universalen Vorstellungen ist seine Vorstellung von der Liebe. Tatsächlich spricht Freud von der Liebe häufiger, als seine orthodoxen Schüler das gewöhnlich tun. Aber was versteht er unter Liebe? Es ist höchst bemerkenswert, dass Freud und seine Schüler gewöhnlich von „Objektliebe“ (im Gegensatz zur „narzisstischen Liebe“) und von einem „Liebesobjekt“ sprechen, worunter die Person, die man liebt, zu verstehen ist. Gibt es denn wirklich so einen Gegenstand wie ein Liebes-“Objekt“? Hört nicht die geliebte Person auf, ein Objekt – das heißt etwas außerhalb von mir – zu sein, das mir gegenübersteht? Ist Liebe nicht gerade jene innere Aktivität, die zwei Menschen vereint, so dass sie aufhören Objekte – das heißt Besitz des anderen – zu sein? Wenn man von Liebesobjekten spricht, so spricht man vom Haben unter Ausschluss jeder Form des Seins (vgl. E. Fromm, 1976a). Wenn man von „Liebesobjekten“ spricht, so ist das nichts anderes, als wenn ein Geschäftsmann von einer Kapitalanlage spricht. Im letzteren Fall wird das Kapital investiert, im ersteren Fall die Libido. Es ist nur logisch, dass in der psychoanalytischen Literatur häufig von der Liebe als von einer Investition von Libido in ein Objekt die Rede ist. Nur die Banalität einer Geschäftskultur kann die Liebe zu Gott, die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zum Menschen, die Begeisterung eines Rumi oder eines Eckhart, eines Shakespeare oder eines Albert Schweitzer auf die Beschränktheit der Phantasie von Leuten reduzieren, die einer Klasse angehören, die den Sinn ihres Lebens in Kapitalanlage und Profit sieht.

Aufgrund dieser theoretischen Prämissen ist Freud gezwungen, von Liebes-“Objekten“ zu sprechen, weil: „Libido Libido bleibt, ob sie nun auf Objekte oder auf das eigene Ich gewendet wird.“ (S. Freud, 1916-17, S. 435°f.) Die Liebe ist sexuelle [VIII-269] Energie, die an ein Objekt gebunden ist; sie ist nichts anderes als ein physiologisch verwurzelter, auf ein Objekt gerichteter Trieb. Sie ist sozusagen ein Abfallprodukt der biologischen Notwendigkeit, dass die Rasse überlebt. Bei Männern ist die „Liebe“ meist eine Art Abhängigkeit von Personen, die ihnen dadurch wertvoll geworden sind, dass sie ihre anderen vitalen Bedürfnisse (Essen und Trinken) befriedigen. Das heißt, dass sich die Liebe des Erwachsenen kaum von der des Kindes unterscheidet: Beide lieben die, von denen sie ernährt werden. Zweifellos trifft das bei vielen Menschen zu. Ihre Liebe ist eine Art liebevoller Dankbarkeit dafür, dass man ernährt wird. Schön und gut. Aber zu behaupten, das sei das Wesen der Liebe, ist auf peinliche Weise banal. Wie Freud (1933a, S.142°f.) sagt, können Frauen zu diesen Höhen nicht gelangen, weil sie „narzisstisch“ lieben, das heißt weil sie sich selbst im anderen lieben. Freud postuliert: „Das Lieben an sich, als Sehnen, Entbehren, setzt das Selbstgefühl herab, das Geliebtwerden, Gegenliebe finden, Besitzen des geliebten Objekts hebt es wieder.“ (S. Freud, 1914c, S. 167; Hervorhebung E. F.)

Diese Feststellung ist ein Schlüssel zum Verständnis von Freuds Liebesauffassung. Lieben impliziert Sehnen, und das Entbehren setzt das Selbstgefühl herab. Zu denen, die die Begeisterung und Kraft gepriesen haben, welche die Liebe dem Liebenden verleiht, sagt Freud: Ihr habt alle unrecht! Das Lieben macht euch schwach; was euch glücklich macht, ist geliebt zu werden. Und was heißt geliebt werden? Das Liebesobjekt besitzen! Es ist dies die klassische Definition der bürgerlichen Liebe: Besitzen und Beherrschen führt zum Glück, ob es sich nun um materiellen Besitz oder um eine Frau handelt, die, weil sie der Besitz des Mannes ist, ihrem Besitzer Liebe schuldet. Die Liebe beginnt mit der Ernährung des Kindes durch die Mutter. Sie endet damit, dass der Mann die Frau besitzt, die ihn immer noch mit ihrer Liebe, mit sexueller Lust und Nahrung zu versehen hat. Hier ist vielleicht auch der Schlüssel zur Idee des Ödipuskomplexes. Hinter dem Strohmann des Inzests versteckt Freud das, was er als das Wesen der Liebe des Mannes ansieht: das ewige Gebundensein an eine Mutter, die ihn füttert und die gleichzeitig von ihm beherrscht wird. Wahrscheinlich hat Freud, soweit es sich um patriarchalische Gesellschaften handelt, tatsächlich recht mit dem, was er zwischen den Zeilen sagt: Der Mann bleibt ein abhängiges Geschöpf, verleugnet dies aber, indem er sich mit seiner Kraft brüstet, welche er dadurch unter Beweis stellt, dass er die Frau zu seinem Besitz macht. Zusammengefasst heißt das: Die Hauptfaktoren der Haltung des patriarchalischen Mannes sind seine Abhängigkeit von der Frau und die Verleugnung dieser Abhängigkeit durch die Beherrschung der Frau. Wie so oft verwandelt Freud auch hier eine spezifische Eigenschaft, nämlich die der patriarchalischen männlichen Liebe, in ein universales menschliches Phänomen.

c) Das Problem der wissenschaftlichen „Wahrheit“

Es ist Mode geworden zu behaupten, Freuds Theorie sei „unwissenschaftlich“, und Vertreter der verschiedenen Zweige der akademischen Psychologie neigen besonders zu dieser Ansicht. Diese Behauptung hängt natürlich ganz und gar davon ab, was man [VIII-270] unter einer wissenschaftlichen Methode versteht. Viele Psychologen und Soziologen haben von wissenschaftlicher Methode eine etwas naive Vorstellung. Sie besteht kurz gesagt darin, dass man zunächst Tatsachen sammelt, dass man diese Tatsachen quantitativen Messungen verschiedener Art unterzieht – was die Computer heute außerordentlich erleichtern – und dass man dann als Resultat seiner Bemühungen erwartet, dass man zu einer Theorie oder wenigstens zu einer Hypothese gelangt. Weiterhin wird angenommen, dass genau wie bei einem naturwissenschaftlichen Experiment die Wahrheit der Theorie davon abhängt, ob das Experiment von jedermann wiederholt werden kann und dabei immer wieder zum gleichen Resultat führt. Probleme, die sich nicht auf diese Weise quantifizieren und statistisch erfassen lassen, betrachtet man als nicht-wissenschaftlich und verbannt sie deshalb aus dem Bereich der wissenschaftlichen Psychologie. Nach diesem Schema erklärt man ein, zwei oder drei Einzelfälle, die dem Beobachter die Möglichkeit geben, zu gewissen definitiven Schlussfolgerungen zu kommen, für mehr oder weniger wertlos, da sie sich nicht in einer so großen Anzahl von Fällen nachweisen lassen, wie sie für eine statistische Auswertung notwendig sind. Bei dieser Auffassung von wissenschaftlicher Methode spielt die Annahme eine wesentliche Rolle, dass die Fakten selbst die Theorie liefern, wenn man nur die richtige Methode anwendet, und dass das kreative Denken des Beobachters nur eine sehr geringe Rolle spielt. Man erwartet von ihm lediglich, dass er ein voraussichtlich befriedigendes Experiment geschickt aufbauen kann, ohne dass er dabei von einer eigenen Theorie ausgeht, die er durch das Experiment beweisen oder auch widerlegen möchte. Diese mit einer einfachen Folge von ausgewählten Fakten, Experiment und Gewissheit des Resultats arbeitende Auffassung von Wissenschaftlichkeit ist überholt, und es ist bezeichnend, dass unsere heutigen Naturwissenschaftler – Physiker, Biologen, Chemiker, Astronomen usw. – diese primitive Auffassung von wissenschaftlicher Methode längst aufgegeben haben.

Was kreative Wissenschaftler heute von den Pseudo-Wissenschaftlern in den Sozialwissenschaften unterscheidet, ist ihr Glaube an die Macht der Vernunft, ihre Überzeugung, dass die menschliche Vernunft und das menschliche Vorstellungsvermögen die trügerische Oberfläche der Erscheinungen durchdringen und zu Hypothesen gelangen kann, die sich mit den Kräften befassen, welche unter der Oberfläche liegen. Das Wesentliche dabei ist, dass sie alles andere eher erwarten als Gewissheit. Sie sind sich darüber klar, dass jede Hypothese über kurz oder lang durch eine andere ersetzt werden wird, die nicht unbedingt die erste negiert, sondern die sie modifiziert und erweitert.

Der Wissenschaftler kann diese Ungewissheit eben deshalb ertragen, weil er an die menschliche Vernunft glaubt. Es kommt ihm nicht darauf an, zu einem endgültigen Resultat zu kommen, sondern die Illusionen abzubauen und tiefer zu den Wurzeln vorzudringen. Der Wissenschaftler hat nicht einmal Angst davor, sich zu irren. Er weiß, dass die Geschichte der Wissenschaft eine Geschichte von fehlerhaften, aber produktiven, fruchtbaren Feststellungen ist, aus denen dann neue Einsichten gewonnen werden, welche die relative Fehlerhaftigkeit der älteren Feststellung überwinden und zu neuen Einsichten führen. Wenn die Wissenschaftler von dem Wunsch besessen wären, sich nicht zu irren, wären sie nie zu relativ richtigen Einsichten gelangt. [VIII-271] Wenn der Sozialwissenschaftler natürlich nur triviale Fragen stellt und seine Aufmerksamkeit nicht fundamentalen Problemen zuwendet, dann gelangt er mit seiner „wissenschaftlichen Methode“ zu Ergebnissen, und er kann endlose Abhandlungen schreiben, wie er sie um seiner akademischen Laufbahn willen schreiben muss.

Es war dies keineswegs immer die Methode der Sozialwissenschaften. Man braucht nur an Männer wie Marx, Durkheim, Mayo, Max und Alfred Weber und Tönnies zu denken. Sie haben sich unverkennbar mit fundamentalen Problemen befasst, und ihre Antworten gründeten sich nicht auf die naive und positivistische Methode, sich darauf zu verlassen, dass die statistischen Ergebnisse von selbst eine Theorie ergeben würden.

Für sie waren die Macht der Vernunft und ihr Glaube an diese Macht genauso wichtig und stark, wie dies bei den hervorragenden Naturwissenschaftlern der Fall ist. Aber in den Sozialwissenschaften haben sich die Dinge geändert. Viele Sozialwissenschaftler haben sich der wachsenden Macht der Großindustrie unterworfen und befassen sich hauptsächlich mit Problemen, deren Lösungen das System nicht in Frage stellen.

Welches Verfahren kennzeichnet nun aber die wissenschaftliche Methode sowohl in den Naturwissenschaften als auch in einer ernstzunehmenden Sozialwissenschaft?

  1. Der Wissenschaftler geht nicht vom Punkt Null aus, sondern sein Denken ist bestimmt von der Kenntnis früherer Theorien und von der Herausforderung von noch unerforschten Gebieten.
  2. Eine höchst genaue und detaillierte Erforschung der Phänomene ist die Voraussetzung für eine optimale Objektivität. Für den Wissenschaftler ist kennzeichnend, dass er vor den beobachtbaren Phänomenen den größten Respekt hat. Viele große Entdeckungen sind nur deshalb gemacht worden, weil ein Wissenschaftler kleinen Ereignissen seine Aufmerksamkeit zuwandte, die jeder zuvor schon gesehen, aber nicht beachtet hatte.
  3. Auf der Grundlage der ihm bereits bekannten Theorien und möglichst genauer Einzelkenntnisse formuliert er eine Hypothese. Die Aufgabe einer Hypothese sollte es sein, eine gewisse Ordnung in die beobachteten Phänomene zu bringen und diese versuchsweise so anzuordnen, dass sie sinnvoll erscheinen. Von wesentlicher Bedeutung ist es auch, dass der Forscher jeden Augenblick in der Lage ist, neue Daten zu beachten, die vielleicht im Widerspruch zu seiner Hypothese stehen und zu einer Revision dieser Hypothese führen, und so weiter ad infinitum.
  4. Diese wissenschaftliche Methode setzt natürlich voraus, dass der betreffende Forscher von Wunschdenken und Narzissmus wenigstens einigermaßen frei ist. Er muss die Tatsachen objektiv beobachten können, ohne sie zu verzerren oder ihnen nur deswegen ein unangebrachtes Gewicht zu verleihen, weil er beweisen möchte, dass seine Hypothese richtig ist. Die Verbindung von weitreichender Phantasie und Objektivität wird nur selten erreicht, was vermutlich der Grund dafür ist, dass große Wissenschaftler, die beide Bedingungen erfüllen, so selten sind. Eine hohe Intelligenz mag erforderlich sein, aber sie ist noch keine hinreichende Voraussetzung dafür, dass man ein kreativer Wissenschaftler wird. Tatsächlich ist eine vollkommene Objektivität so gut wie nie zu erreichen. Erstens wird der Wissenschaftler, wie bereits erwähnt, stets vom „gesunden Menschenverstand“ seiner Zeit beeinflusst, und nur außergewöhnliche [VIII-272] Menschen von großer Begabung sind gegen Narzissmus immun. Trotzdem hat aber im Ganzen genommen diszipliniertes wissenschaftliches Denken ein solches Maß an Objektivität und „wissenschaftlichem Gewissen“ hervorgebracht, wie es kaum in anderen Bereichen des kulturellen Lebens zu finden ist. Die Tatsache, dass die großen Wissenschaftler mehr als jeder andere die Gefahren erkennen, die der Menschheit heute drohen, und davor warnen, ist in Wirklichkeit tatsächlich der Ausdruck ihrer Fähigkeit zur Objektivität und ihrer Fähigkeit, sich nicht vom Geschrei einer irregeleiteten öffentlichen Meinung mitreißen zu lassen.

Diese Prinzipien der wissenschaftlichen Methode – also Objektivität, genaue Beobachtung, Hypothesenbildung und deren Revision durch die weitere Untersuchung von Tatsachen – gelten zwar für jedes wissenschaftliche Bemühen, sind aber nicht auf alle Gegenstände wissenschaftlichen Denkens in der gleichen Weise anwendbar. Während ich mich nicht kompetent fühle, über Physik zu sprechen, besteht doch meiner Meinung nach ein deutlicher Unterschied zwischen der Beobachtung eines Menschen in seiner Totalität und Lebendigkeit und der Beobachtung gewisser Aspekte einer Persönlichkeit, die man von der Gesamtpersönlichkeit abgetrennt hat und nun ohne Beziehung zum Ganzen untersucht. Man kann dies nicht tun, ohne die isoliert untersuchten Aspekte zu entstellen, weil sie mit jedem anderen Teil des Systems Mensch in einer ständigen Interaktion stehen und außerhalb des Ganzen nicht zu verstehen sind. Versucht man einen Teil einer Persönlichkeit getrennt von der Gesamtpersönlichkeit zu untersuchen, so muss man diese sezieren, was bedeutet, dass man sie zerstört. Man kann dann diesen oder jenen isolierten Aspekt untersuchen, aber alle Ergebnisse, die man auf diese Weise erreicht, sind notwendigerweise falsch, weil sie aus dem toten Material eines sezierten Menschen gewonnen wurden.

Den lebendigen Menschen kann man nur als Ganzes und in seiner Lebendigkeit verstehen, das heißt im ständigen Prozess der Wandlung. Da jeder Mensch sich vom anderen unterscheidet, besteht sogar nur eine beschränkte Möglichkeit zu Verallgemeinerungen und zur Formulierung von Gesetzen, wenn auch der wissenschaftliche Beobachter stets versuchen wird, in der Mannigfaltigkeit der Individuen einige allgemeine Prinzipien und Gesetze zu finden.

Wenn man versucht, mit der wissenschaftlichen Methode zu einem Verständnis des Menschen zu gelangen, trifft man noch auf eine weitere Schwierigkeit. Die Daten, welche wir bei der Untersuchung eines Menschen erhalten, sind anderer Art als die, welche wir bei anderen wissenschaftlichen Untersuchungen gewinnen. Man muss den Menschen in seiner vollen Subjektivität verstehen, wenn man ihn überhaupt verstehen will. Ein Wort ist nicht schlechthin ein Wort. Ein Wort ist das, was es für eine bestimmte Person bedeutet, die es gebraucht. Die Wörterbuch-Bedeutung eines Wortes ist nur eine Abstraktion, verglichen mit der wirklichen Bedeutung, die dieses Wort für den hat, der es ausspricht. Das gilt natürlich nicht für Wörter, die Gegenstände bezeichnen, obwohl auch hier Einschränkungen zu machen sind, aber es trifft in hohem Maß auf Wörter zu, die sich auf emotionale oder intellektuelle Erfahrungen beziehen. Ein Liebesbrief vom Anfang des Jahrhunderts klingt in unseren Ohren sentimental, konstruiert und etwas töricht. Ein Liebesbrief aus unseren Tagen, der die gleichen Gefühle mitteilen möchte, wäre den Menschen vor 50 Jahren kalt und [VIII-273] gefühllos vorgekommen. Wörter wie Liebe, Glaube, Mut und Hass haben für jeden Einzelnen eine völlig subjektive Bedeutung, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie für zwei Menschen niemals die gleiche Bedeutung haben, weil es keine zwei Menschen gibt, die einander völlig gleich sind. Ein Wort kann sogar für ein und denselben Menschen nicht mehr die gleiche Bedeutung haben, die es zehn Jahre zuvor für ihn besaß, weil er selbst sich inzwischen geändert hat. Dasselbe gilt natürlich für Träume. Zwei inhaltlich gleiche Träume können trotzdem für zwei verschiedene Träumer eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Der Künstler weiß gewöhnlich sehr viel besser Bescheid über die Subjektivität musikalischer oder anderer künstlerischer Erfahrungen, als der Durchschnittsmensch über die Subjektivität der Wörter Bescheid weiß, deren er sich bedient.

Eines der wichtigsten Merkmale in Freuds wissenschaftlichem Vorgehen ist nun aber, dass er sich völlig über die Subjektivität menschlicher Äußerungen im Klaren war, weshalb er versuchte, niemals eine Äußerung als gegeben hinzunehmen, sondern sich stets zu fragen, was dieses besondere Wort in diesem besonderen Augenblick und in diesem besonderen Zusammenhang für diesen besonderen Menschen bedeutete. Diese Subjektivität erhöht tatsächlich die Objektivität von Freuds Methode beträchtlich. Jeder Psychologe, der so naiv ist anzunehmen, ein Wort sei schlechthin ein Wort, wird mit einem anderen Menschen immer nur auf einer sehr abstrakten und unwirklichen Ebene verkehren. Ein Wort ist ein Zeichen für eine einzigartige und in gewissem Sinne nicht einmal wiederholbare Erfahrung.

d) Die wissenschaftliche Methode Freuds

Wenn wir unter der wissenschaftlichen Methode eine Methode verstehen, die sich auf den Glauben an die Macht der Vernunft gründet, welche auf optimale Weise von subjektiven Vorurteilen frei ist, ferner auf eine detaillierte Beobachtung von Tatsachen, auf die Bildung von Hypothesen, auf die Revision der Hypothesen auf Grund der Entdeckung neuer Tatsachen usw., so war Freud ganz gewiss ein Wissenschaftler. Er passte seine wissenschaftliche Methode jeweils seinem Forschungsobjekt an, anstatt wie die meisten Sozialwissenschaftler nur das zu untersuchen, was mit ihrer positivistischen Auffassung von Wissenschaft vereinbar ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Freuds Denkweise ist, dass er den Gegenstand seiner Erkenntnis als ein System oder als eine Struktur begreift, und damit eines der frühesten Beispiele einer Systemtheorie geliefert hat. Seiner Auffassung nach kann man kein einzelnes Element in einer Persönlichkeit verstehen, ohne die Gesamtpersönlichkeit zu verstehen, und es kann sich kein einzelnes Element ändern, ohne dass es auch in anderen Elementen des Systems zu – wenn vielleicht auch nur geringen – Änderungen kommt. Im Gegensatz zu einer positivistischen, sezierenden Psychologie hat er ganz nach Art älterer psychologischer Systeme – wie zum Beispiel dem von Spinoza – das Individuum in seiner Totalität gesehen, die mehr ist als die Summe seiner Teile.

Wir haben bisher über die wissenschaftliche Methode und ihre positive Bedeutung gesprochen. Wenn man von der wissenschaftlichen Methode eines Denkers spricht, [VIII-274] erübrigt es sich wohl darauf hinzuweisen, dass man damit nicht zugleich sagt, er habe mit seinen Ergebnissen recht. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens ist eine Geschichte irriger, wenn auch fruchtbarer Behauptungen.

Ich möchte hier nur ein einziges Beispiel für Freuds wissenschaftliches Vorgehen anführen, nämlich seinen Bericht über den Fall „Dora“ (S. Freud, 1905e). Er behandelte diese Patientin wegen Hysterie, und die Analyse wurde nach drei Monaten beendet. Ohne auf Freuds Darstellung im Einzelnen einzugehen, möchte ich seine objektive Haltung mit folgendem Zitat aus der Krankengeschichte belegen:

Zur dritten Sitzung trat sie mit den Worten an: „Wissen Sie, Herr Doktor, dass ich heute das letzte Mal hier bin?“ – Ich kann es nicht wissen, da Sie mir nichts davon gesagt haben. – „Ja, ich habe mir vorgenommen, bis Neujahr (es war der 31. Dezember) halte ich es noch aus; länger will ich aber auf die Heilung nicht warten.“ – Sie wissen, dass Sie die Freiheit auszutreten immer haben. Heute wollen wir aber noch arbeiten. Wann haben Sie den Entschluss gefasst? – „Vor 14 Tagen, glaube ich.“ – Das klingt ja wie von einem Dienstmädchen, einer Gouvernante, 14tägige Kündigung.“ – „Eine Gouvernante, die gekündigt hat, war auch damals bei K., als ich sie in L. am See besuchte.“ – „So? von der haben Sie noch nie erzählt. Bitte erzählen Sie.“ (S. Freud, 1905e, S. 268.)

Freud verwandte dann den Rest der Sitzung darauf, zu analysieren, was dieses Ausagieren der Rolle eines Dienstmädchens tatsächlich bedeutete. Es kommt mir hier nicht darauf an, zu welchen Resultaten Freud kam. Ich will nur sein rein wissenschaftliches Vorgehen zeigen: Er wird nicht ärgerlich, er fordert die Patientin nicht auf, es sich noch einmal zu überlegen, und redet ihr nicht zu, ihr Zustand werde sich bessern, wenn sie noch länger mit ihm arbeite. Er stellt lediglich fest, dass sie nun einmal bei ihm sei und dass sie, auch wenn es sich um die letzte Sitzung handle, ebenso gut die Zeit ausnutzen könnten, um herauszufinden, was ihr Entschluss bedeute.

Aber bei aller Bewunderung für Freuds Glaube an die Vernunft und an seine wissenschaftliche Methode ist doch nicht zu leugnen, dass er oft das Bild eines zwanghaften Rationalisten bietet. Oft gründet er seine Konstruktionen auf kleine Beweisstückchen, die ihn zu Schlüssen führen, welche fast absurd sind. Ich denke hier an seine Krankengeschichte Aus der Geschichte einer infantilen Neurose.[5] Wie Freud selbst anmerkte, stand er, als er den Bericht niederschrieb, „unter dem damals frischen Eindruck der Umdeutungen, welche C. G. Jung und Alf. Adler an den psychoanalytischen Ergebnissen vornehmen wollten“ (S. Freud, 1918b, S. 29). Um zu erklären, was ich mit Freuds zwanghaftem Denken meine, muss ich etwas ausführlicher auf diesen Bericht eingehen.

Welches sind die wesentlichen Tatsachen und Probleme in diesem Fall?

Im Jahre 1910 suchte ein außergewöhnlich reicher junger Russe Hilfe bei Freud. Die Behandlung dauerte dann bis zum Juli 1914, als Freud den Fall als abgeschlossen [VIII-275] betrachtete und die Fallgeschichte niederschrieb. Er berichtet:

Das Jahrzehnt seiner Jugend vor dem Zeitpunkt der Erkrankung hatte er in annähernd normaler Weise durchlebt und seine Mittelschulstudien ohne viel Störung erledigt. Aber seine früheren Jahre waren von einer schweren neurotischen Störung beherrscht gewesen, welche knapp vor seinem vierten Geburtstag als Angsthysterie (Tierphobie) begann, sich dann in eine Zwangsneurose mit religiösem Inhalt umsetzte und mit ihren Ausläufern bis in sein zehntes Jahr hineinreichte. (S. Freud, 1918b, S. 29°f.)

Bedeutende psychiatrische Kapazitäten hatten beim Patienten ein „manisch-depressives Irresein“ diagnostiziert, aber Freud erkannte klar, dass dies nicht stimmte. (Eine der größten Kapazitäten, Professor Bumke, der damals in München lebte, gründete seine Diagnose darauf, dass der Patient manchmal freudig erregt und manchmal tief deprimiert war, wenn er zu ihm kam. Da er sich nicht die Mühe machte herauszufinden, ob es im realen Leben etwas gab, was an diesem Stimmungswechsel schuld sein könnte, kam er auch nicht hinter die einfache Tatsache, dass der Patient in eine Krankenschwester verliebt war, die in dem Sanatorium, in dem er sich befand, arbeitete, und dass er immer dann freudig erregt war, wenn sie seine Liebe erwiderte, und deprimiert, wenn sie sich ihm verweigerte.) Freud erkannte deutlich, dass es sich nicht um eine manisch-depressive Psychose handelte, sondern dass der junge Mann einfach sehr reich, unbeschäftigt und gelangweilt war. Aber er fand auch noch etwas anderes: Er stieß auf eine infantile Neurose, an welcher der Patient litt. Der Patient berichtete, dass er, noch bevor er vier oder fünf Jahre alt war, eine Angst vor Wölfen entwickelt hatte, die weitgehend von seiner Schwester verursacht worden war, die ihm immer wieder ein Bilderbuch gezeigt hatte, in dem ein Wolf dargestellt war. Immer wenn er dieses Bild anschaute, fing er an, laut zu schreien, und hatte Angst, der Wolf werde kommen und ihn auffressen. Da der Junge auf einem großen Landgut in Russland lebte, ist es nicht unnatürlich, dass er eine Angst vor Wölfen entwickelte, die die Schwester mit ihren Drohungen noch anstachelte. Andererseits machte es ihm Spaß, Pferde zu schlagen. Auch zeigten sich bei ihm in dieser Periode Anzeichen einer Zwangsneurose. So fühlte er zum Beispiel den Zwang, „Gott-Schwein“ oder „Gott-Kot“ zu denken. Weiterhin ist zu erwähnen, dass der Patient sich plötzlich daran erinnerte, wie ihn, als er noch sehr klein war (noch keine fünf Jahre alt), seine zwei Jahre ältere Schwester, die später Selbstmord beging, zu sexuellen Spielen verführte. Hinzu kam, dass die vom Patienten geliebte Kinderfrau Nanja auf sein Onanieren negativ reagierte. Aus diesen Ereignissen im Leben des kleinen Jungen schließt Freud: „Das beginnende Sexualleben unter der Leitung der Genitalzone war also einer äußeren Hemmung erlegen und durch deren Einfluss auf eine frühere Phase prägenitaler Organisation zurückgeworfen worden.“ (S. Freud, 1918b, S. 50.) Aber alle diese Daten sind relativ irrelevant im Vergleich zu Freuds Hauptinterpretation des Traums vom Wolfsmann. Der Patient erzählte Freud folgenden Traum:

Ich habe geträumt, dass es Nacht ist und ich in meinem Bett liege (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nussbäume. Ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, dass auf dem großen Nussbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und [VIII-276] sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas aufpassen. Unter großer Angst, offenbar, von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte. (S. Freud, 1918b, S. 54.)

Wie interpretiert Freud diesen Traum?

Der Traum zeigt, dass der kleine Junge im Alter von 1 ½ Jahren in seinem Bettchen geschlafen hatte und nachmittags möglicherweise um fünf Uhr aufwachte.

Als er erwachte, wurde er Zeuge eines dreimal wiederholten coitus a tergo, konnte das Genitale der Mutter wie das Glied des Vaters sehen und verstand den Vorgang wie dessen Bedeutung. Endlich störte er den Verkehr der Eltern auf eine Weise, von der späterhin die Rede sein wird. (S. Freud, 1918b, S. 64.)

Freud bemerkt an dieser Stelle:

Hier kommt nun die Stelle, an der ich die Anlehnung an den Verlauf der Analyse verlassen muss. Ich fürchte, es wird auch die Stelle sein, an der der Glaube der Leser mich verlassen wird. (S. Freud, 1918b, S. 63.)

In der Tat, und mehr als das! Eine Hypothese darüber aufzustellen, was sich tatsächlich ereignete, als der kleine Junge anderthalb Jahre alt war, und das nach einem Traum, der nichts weiter sagt, als dass das Kind ein paar Wölfe sah, scheint ein Beispiel für Zwangsdenken zu sein und lässt die Realität völlig außer acht. Natürlich benutzt Freud diese Assoziation dazu, sie in ein ganzes Gewebe einzuwirken, aber das Gewebe steht in keinerlei Zusammenhang mit der Realität. Diese Interpretation des Traums vom Wolfsmann, eines der klassischen Beispiele für Freuds Kunst der Traumdeutung, legt Zeugnis ab von Freuds Fähigkeit und Vorliebe, die Realität aus hundert kleinen Begebenheiten aufzubauen, die entweder auf Vermutungen beruhen oder durch die Interpretation aus dem Zusammenhang gerissen wurden und ihm dazu dienten, gewisse Schlüsse ziehen zu können, die in seine vorgefasste Meinung hineinpassten. Es gibt viele Träume, die Freud auf diese Weise interpretierte und denen nicht mehr Realität zugrunde liegt als diesem berühmten Traum vom Wolfsmann. Aus Raumgründen möchte ich jedoch an dieser Stelle nicht noch mehr Beispiele anführen.

Soviel kann man mit gutem Gewissen sagen: Selbst wenn Freud zu anscheinend absurden Trauminterpretationen gelangt, so besitzt er doch die bewundernswerte Fähigkeit, in den Träumen wie auch in den Assoziationen des Patienten selbst das kleinste Detail zu beobachten und mit zu berücksichtigen. Nichts, so geringfügig es auch sein mag, scheint seiner Aufmerksamkeit zu entgehen, und alles wird mit größter Genauigkeit notiert.

Leider kann man das von vielen oder den meisten seiner Schüler nicht mehr behaupten. Da ihnen Freuds ungewöhnlich durchdringender Verstand und seine aufs Detail gerichtete Aufmerksamkeit abgehen, haben sie den leichteren Weg gewählt und sind zu Interpretationen gelangt, die ebenfalls absurd, dazuhin aber noch das Ergebnis irgendwelcher unbestimmter Spekulationen sind, welche die Sache ungeheuer vereinfachen. Freud selbst hat niemals simplifiziert, er hat vielmehr die Dinge immer noch komplizierter gesehen, so dass man sich in seinen Interpretationen fast wie in einem Labyrinth gefangen fühlt. Mit Freuds Denkmethode konnte man entdecken, dass ein Phänomen einmal das bedeuten kann, was es zu bedeuten scheint, dass es aber auch [VIII-277] das Gegenteil ausdrücken kann. Er hat entdeckt, dass sich hinter jeder Liebesbeteuerung auch unterdrückter Hass verstecken kann, dass Unsicherheit durch Arroganz und Angst durch Aggressivität überdeckt werden kann usw. Das war eine wichtige, aber auch eine gefährliche Entdeckung. Die Annahme, dass ein Verhalten genau sein Gegenteil bedeuten kann, bedurfte eines Beweises, und Freud war eifrig bemüht, diesen Beweis zu finden. Wenn man weniger sorgfältig vorgeht, wie das viele seiner Schüler getan haben, gelangt man sehr leicht zu Hypothesen, die sich auf das wissenschaftliche Denken destruktiv auswirken. Um nicht zu offenbaren, dass man nur über gesunden Menschenverstand, und nicht auch über Spezialwissen verfügte, brauchte man nur zu sagen, dass der Patient vom Gegenteil dessen motiviert sei, von dem er motiviert zu sein glaubte.

Eines der besten Beispiele hierfür ist die unbewusste Homosexualität. Es ist dies ein Teil von Freuds Theorie, der vielen Menschen Schaden zugefügt hat. Um zu zeigen, dass er hinter die Kulissen sehen kann, spricht der Analytiker die Vermutung aus, dass der Patient an unbewusster Homosexualität leide. Wenn nun der Patient ein sehr intensives heterosexuelles Leben führt, wird argumentiert, gerade diese Intensität beweise, dass er damit eine unbewusste Homosexualität zu verdrängen suche. Oder, angenommen, der Patient hat überhaupt kein sexuelles Interesse an Personen des eigenen Geschlechts, dann lautet das Argument, dieses völlige Fehlen des homosexuellen Interesses beweise die Verdrängung der Homosexualität. Oder, wenn ein Mann die Farbe der Krawatte eines anderen Mannes lobt, so soll das ein eindeutiger Beweis für seine unbewusste Homosexualität sein. Das Dumme dabei war natürlich, dass man mit dieser Methode das Fehlen von Homosexualität niemals beweisen konnte, und dass nicht selten eine Analyse auf der Suche nach unbewusster Homosexualität, für die es keinerlei Beweise gab, außer dass bei dieser Methode alles auch das Gegenteil von dem bedeuten kann, was es nach außen hin darstellt, jahrelang fortgeführt wurde. Diese Art der Behandlung hatte verheerende Folgen, weil sie Interpretationen ermöglichte, die derart willkürlich waren, dass sie oft zu völlig falschen Schlüssen führten. (Es gibt eine deutliche Parallele zwischen diesem vulgären Freudianismus und dem vulgären Marxismus, der im theoretischen Denken der Sowjets kultiviert wird. Marx hat – genau wie Freud – gezeigt, dass etwas auch sein genaues Gegenteil bedeuten kann, aber natürlich war das auch für Marx etwas, was bewiesen werden musste. Im vulgär-marxistischen Denken führte das zu dem Schluss, dass man immer behaupten kann, wenn etwas nicht das ist, was es zu sein vorgibt, ist es das Gegenteil davon, womit man leicht das Denken seinen eigenen dogmatischen Zielen entsprechend manipulieren kann.)

2. Größe und Grenzen der Entdeckungen Freuds

Die folgende Erörterung soll zeigen

  1. welches die wichtigsten Entdeckungen Freuds waren;
  2. wie seine philosophischen und persönlichen Voraussetzungen ihn zwangen, seine Entdeckungen einzuengen und zu entstellen;
  3. wie die Bedeutung der Entdeckungen wächst, wenn wir sie von diesen Entstellungen befreien, und
  4. dass man durch eine andere Formulierung das Wesentliche und Dauernde in Freuds Theorie von dem Zeit- und Gesellschaftsbedingten trennen kann.

Dieses Ziel bedeutet keine „Revision“ Freuds und keinen „Neo-Freudianismus“.[6] Es handelt sich vielmehr um eine Weiterentwicklung des Wesentlichen im Freudschen Denken durch eine kritische Interpretation auf der philosophischen Grundlage des historischen (im Gegensatz zum bürgerlichen) Materialismus sowie auf Grund neuer klinischer Erkenntnisse.

a) Das Unbewusste

Natürlich war Freud nicht der erste, der entdeckte, dass wir in uns Gedanken und Strebungen haben, die uns nicht bewusst sind. Aber Freud war der erste, der diese Entdeckung zum Mittelpunkt seines psychologischen Systems machte und der die unbewussten Phänomene auf höchst detaillierte Weise und mit erstaunlichen Resultaten erforscht hat. Freud ging von einer grundsätzlichen Diskrepanz zwischen Denken und Sein aus. Wir denken zum Beispiel, dass unser Verhalten von Liebe, Hingabe, Pflichtgefühl usw. motiviert ist, und wir sind uns der Tatsache nicht bewusst, dass wir in Wirklichkeit vom Wunsch nach Macht, von Masochismus und von einem Abhängigkeitsbedürfnis motiviert sind. Freuds Entdeckung bestand darin, dass das, was wir denken, mit dem, was wir sind, nicht unbedingt identisch ist. Was jemand von sich selber denkt, ist oft etwas ganz anderes als das, was er wirklich ist und die meisten von uns leben eigentlich in einer Welt der Selbsttäuschung, in der sie annehmen, dass ihre Gedanken die Wirklichkeit repräsentieren. Die historische Bedeutung von Freuds [VIII-279] Begriff des Unbewussten liegt darin, dass in einer langen Tradition schon immer angenommen wurde, Denken und Sein seien miteinander identisch und dass der Idealismus in seinen strengeren Formen postulierte, dass nur das Denken (die Idee, das Wort) real sei, während die Welt der Erscheinung keine eigene Realität besitze.[7] Indem Freud dem bewussten Denken vor allem die Rolle zuwies, Triebe zu rationalisieren, war er auf dem Weg, das Fundament des Rationalismus zu zerstören, zu dessen hervorragenden Vertretern er selbst gehörte. Mit seiner Entdeckung der Diskrepanz zwischen Denken und Sein hat Freud nicht nur die Tradition des westlichen Idealismus in seinen philosophischen und seinen populären Formen unterlaufen, er hat damit auch auf dem Gebiet der Moral eine weitreichende Entdeckung gemacht. Bis zu Freud konnte man Aufrichtigkeit dadurch definieren, dass einer sagt, was er glaubt. Seit Freud ist diese Definition der Aufrichtigkeit unzureichend. Der Unterschied zwischen dem, was ich sage, und dem, was ich glaube, greift in eine neue Dimension über, nämlich die meiner unbewussten Überzeugungen oder meines unbewussten Strebens. Wer überzeugt ist, die Entwicklung seines Kindes durch Strafe zu fördern, hätte in der Zeit vor Freud als ganz ehrlich gegolten, vorausgesetzt, dass er es wirklich geglaubt hätte. Nach Freud aber erhebt sich die kritische Frage, ob er mit dieser Überzeugung nicht einfach sadistische Wünsche rationalisiert, das heißt, ob es ihm nicht Vergnügen macht, das Kind zu schlagen und ob er die Idee, es sei zu dessen Bestem, nicht nur als Vorwand benutzt. Vor Freud wäre er ein ehrlicher Mensch gewesen, seit Freud wäre er in diesem speziellen Fall ein unehrlicher Mensch, und in ethischer Hinsicht könnte man ihm tatsächlich denjenigen vorziehen, der wenigstens ehrlich genug ist, sein wahres Motiv zuzugeben. Dieser wäre nicht nur ehrlicher, er wäre auch weniger gefährlich. Es gibt unzählige Grausamkeiten und Bösartigkeiten aller Art, die von Einzelnen oder im Laufe der Geschichte als gute Absichten rationalisiert worden sind. Seit Freud kann der Satz „Ich habe es doch gut gemeint“ nicht mehr als Entschuldigung dienen. Es gut zu meinen, ist eine der wirksamsten Rationalisierungen bösen Handelns, und nichts ist leichter, als sich selbst von der Gültigkeit dieser Rationalisierung zu überzeugen.

Freuds Entdeckung brachte noch ein drittes Resultat. In einer Kultur wie der unseren, in der Worte eine so ungeheure Rolle spielen, dient das Gewicht der Worte oft dazu, die Erfahrung zu vernachlässigen, ja sie zu entstellen. Wenn jemand sagt „Ich liebe dich“ oder „Ich liebe Gott“ oder „Ich liebe mein Vaterland“, dann äußert er Worte, die auch dann, wenn er von ihrer Wahrheit völlig überzeugt ist, unwahr und nichts weiter als eine Rationalisierung seines Wunsches nach Macht, Erfolg, Ruhm und Geld sein können, oder in denen lediglich die Abhängigkeit von seiner Gruppe zum Ausdruck kommt. Liebe muss in dem, was tatsächlich vor sich geht, nicht einmal andeutungsweise enthalten sein, und meist ist es auch so. Bisher ist Freuds Entdeckung [VIII-280] noch nicht so allgemein anerkannt, dass man auf Erklärungen guter Absichten oder auf Geschichten von vorbildlichem Verhalten instinktiv mit Vorbehalt reagiert. Dennoch ist Freuds Theorie genau wie die Theorie von Marx eine kritische Theorie. Freud nahm Behauptungen nicht unbesehen hin, er betrachtete sie skeptisch, selbst wenn er nicht daran zweifelte, dass der Betreffende bewusst aufrichtig war. Aber die bewusste Aufrichtigkeit bedeutet relativ wenig in Bezug auf die gesamte Persönlichkeit eines Menschen.

Freuds große Entdeckung mit ihren weitreichenden philosophischen und kulturellen Konsequenzen war die Entdeckung des Konflikts zwischen Denken und Sein. Aber er hat die Bedeutung dieser Entdeckung durch die Annahme eingeschränkt, dass im wesentlichen die bewusste Erinnerung an infantile sexuelle Strebungen verdrängt wird und dass der Konflikt zwischen Denken und Sein im wesentlichen ein Konflikt zwischen dem Denken und der infantilen Sexualität sei. Diese Einschränkung überrascht nicht. Wie bereits gesagt, stand Freud unter dem Einfluss des Materialismus seiner Zeit. Er glaubte die Inhalte der Verdrängung in jenen Strebungen zu finden, die nicht nur gleichzeitig psychischer und physiologischer Natur sind, sondern die auch ganz offensichtlich in der Gesellschaft, in der er lebte, verdrängt wurden. Genauer gesagt, handelte es sich um die Mittelklasse mit ihrer viktorianischen Moral, aus der Freud und die meisten seiner Patienten kamen. Er fand Beweise dafür, dass pathologische Erscheinungen, wie zum Beispiel die Hysterie, manchmal Ausdruck verdrängter sexueller Wünsche waren. Er identifizierte jedoch die Gesellschaftsstruktur seiner Klasse und ihre Probleme mit dem Menschen als solchem und mit den Problemen, die in der menschlichen Existenz selbst wurzeln. Hier hatte Freud zweifellos seinen blinden Fleck. Für ihn war die bürgerliche Gesellschaft identisch mit der zivilisierten Gesellschaft schlechthin. Er gab zwar zu, dass es besondere Kulturen gäbe, die sich von der bürgerlichen Gesellschaft unterschieden, aber er betrachtete diese stets als primitiv und unterentwickelt.

Die materialistische Philosophie und die weitverbreitete Verdrängung sexueller Wünsche aus dem Bewusstsein waren die Ausgangspunkte, von denen Freud die Inhalte des Unbewussten herleitete. Außerdem übersah er die Tatsache, dass sehr häufig sexuelle Impulse ihr Vorhandensein oder ihre Intensität nicht dem physiologischen Substrat der Sexualität verdanken, sondern ganz im Gegenteil oft das Ergebnis völlig andersartiger, selbst nicht sexueller Impulse sind. Es besteht kein Zweifel, dass auch der Narzissmus, der Sadismus, die Neigung sich zu unterwerfen und pure Langeweile eine Quelle sexueller Wünsche sein können. Und bekanntlich sind auch Macht und Reichtum wichtige Elemente, die sexuelle Wünsche hervorrufen.

Heute, nur zwei oder drei Generationen nach Freud, ist deutlich zu erkennen, dass die Sexualität in der städtischen Zivilisation nicht mehr Hauptgegenstand der Verdrängung ist. Ganz im Gegenteil ist die Sexualität, seit der Massenmensch sich voller Hingabe damit beschäftigt, ein homo consumens zu werden, zu einem der Hauptkonsumartikel (und zwar zu einem der billigsten) geworden, welche die Illusion von Glück und Zufriedenheit erzeugen.

Es lassen sich ganz andere Konflikte zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten beobachten. Hier nun einige der häufigsten dieser Konflikte: [VIII-281]

  • Freiheitsbewusstsein – unbewusste Unfreiheit
  • bewusstes gutes Gewissen – unbewusste Schuldgefühle
  • bewusstes Glücksgefühl – unbewusste Depressionen
  • bewusste Aufrichtigkeit – unbewusster Betrug
  • bewusster Individualismus – unbewusste Beeinflussbarkeit
  • Machtbewusstsein – unbewusstes Gefühl der Hilflosigkeit
  • bewusster Glaube – unbewusster Zynismus und völlige Glaubenslosigkeit
  • Bewusstsein zu lieben – unbewusste Gleichgültigkeit oder unbewusster Hass
  • bewusste Aktivität – unbewusste psychische Passivität und Trägheit
  • bewusst realistische Einstellung – unbewusster Mangel an Realismus.

Dies sind die wirklichen Widersprüche unserer Zeit, die verdrängt und rationalisiert werden. Sie existierten bereits zu Freuds Zeit, doch waren manche von ihnen damals noch nicht so drastisch ausgeprägt wie heute. Noch wesentlicher aber ist, dass Freud ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte, weil er von der Sexualität und ihrer Verdrängung fasziniert war. Seit der Entwicklung der orthodoxen Freudschen Psychoanalyse ist die infantile Sexualität der Eckstein des Systems geblieben.

Die Psychoanalyse hat sich zu einem Widerstand entwickelt, der verhindern soll, an die wirklichen und entscheidenden Konflikte im Menschen und zwischen den Menschen heranzukommen.

b) Der Ödipuskomplex

Eine weitere große Entdeckung Freuds ist der von ihm so genannte Ödipuskomplex.[8] Er war der Meinung, dass auf dem Grund einer jeden Neurose ein ungelöster Ödipuskomplex zu finden sei.

Was Freud unter dem Ödipuskomplex versteht, ist einfach zu sagen: Durch das Erwachen sexueller Wünsche im frühen Alter von etwa vier oder fünf Jahren entwickelt der kleine Junge eine intensive sexuelle Bindung an seine Mutter, auf die sich seine ebenso intensiven Wünsche richten. Er will sie für sich haben, und der Vater wird zu seinem Rivalen. So entwickelt er eine Feindseligkeit gegen den Vater, möchte an seine Stelle treten und ihn letzten Endes beseitigen. Mit dem Gefühl, den Vater zum Rivalen zu haben, entwickelt der kleine Junge auch eine Angst, von ihm kastriert zu werden. Freud hat diese Konstellation als Ödipuskomplex bezeichnet, weil im griechischen Mythos Ödipus sich in seine Mutter verliebt, ohne zu wissen, dass die geliebte Frau seine Mutter war. Als der Inzest entdeckt wird, blendet er sich selbst – ein Symbol für eine Selbstkastrierung – und verlässt, nur von seinen beiden Töchtern begleitet, seine Heimat und sein Geschlecht.

Freuds große Entdeckung war in diesem Fall die Intensität der Bindung des kleinen Jungen an seine Mutter oder an eine Mutterfigur. Der Grad dieser Bindung, des Wunsches von ihr geliebt und umsorgt zu werden, ihren Schutz nicht zu verlieren, ist in der Tat nicht zu überschätzen. Wir finden sie auch noch bei vielen erwachsenen Männern, die ihre Mutter nicht aufgeben wollen und sie auch später in anderen Frauen sehen, die für sie die Bedeutung einer Mutter haben. Diese Bindung existiert [VIII-282] auch bei Mädchen. Doch scheint sie bei ihnen etwas andere Folgen zu haben, was bei Freud nicht ganz klar wird.

Die Bindung des Mannes an seine Mutter ist nicht schwer zu verstehen. Schon während seines intrauterinen Lebens ist sie seine Welt. Er ist völlig ein Teil von ihr. Er wird von ihr ernährt, umhüllt und geschützt, eine Situation, die sich auch nach der Geburt noch nicht grundsätzlich ändert. Ohne ihre Hilfe würde er zugrunde gehen, ohne ihre zärtliche Fürsorge würde er geisteskrank. Sie ist es, die ihm das Leben schenkt und von der sein Leben abhängt. Sie kann ihm auch das Leben wieder nehmen, wenn sie sich weigert, ihre mütterlichen Funktionen zu erfüllen. Ein Symbol der widersprüchlichen Funktionen der Mutter ist die indische Göttin Kali, die gleichzeitig Schöpferin und Zerstörerin des Lebens ist. Der Vater spielt in den ersten Lebensjahren des Kindes eine fast nebensächliche Rolle, wie er ja auch nur die zufällige Funktion hat, das Kind zu zeugen. Naturwissenschaftlich gesehen trifft es zwar zu, dass der männliche Same sich mit dem weiblichen Ei vereinigen muss, doch spielt der Mann praktisch beim Werden des Kindes und der Fürsorge für sein Leben überhaupt keine Rolle. Psychologisch gesehen ist seine Anwesenheit völlig überflüssig und könnte ebenso gut durch eine künstliche Befruchtung ersetzt werden. Vom vierten oder fünften Lebensjahr an kann er dann wieder eine Rolle spielen als derjenige, der das Kind unterweist, ihm als Vorbild dient und für seine intellektuelle und moralische Erziehung verantwortlich ist. Leider ist er eher ein Vorbild für Ausbeutung, Irrationalität und Unmoral. Gewöhnlich möchte er seinen Sohn nach seinem Bild formen, so dass er ihm von Nutzen werden kann, indem er ihm bei seiner Arbeit hilft und der Erbe seines Besitzes wird. Außerdem soll er das gutmachen, worin er selbst gescheitert ist, indem er das erreicht, was der Vater nicht erreichen konnte.

Die Bindung an die Mutterfigur und die Abhängigkeit von ihr bedeutet mehr als die Bindung an eine bestimmte Person. Es handelt sich um die Sehnsucht nach einer Situation, in der das Kind beschützt und geliebt wird und selbst noch keine Verantwortung zu tragen hat. Aber nicht nur das Kind hat diese Sehnsucht. Wenn wir sagen; das Kind sei hilflos und brauche daher seine Mutter, dürfen wir nicht vergessen, dass jedes menschliche Wesen in Bezug auf die Welt als ganze hilflos ist. Sicher kann der Mensch sich verteidigen und bis zu einem gewissen Grad für sich selber sorgen, aber angesichts der Gefahren, Ungewissheiten und Risiken, denen er ausgesetzt ist, und wenn man bedenkt, wie gering andererseits seine Kraft ist, mit körperlichen Krankheiten, mit Armut und Ungerechtigkeit fertig zu werden, mag es offen bleiben, ob der Erwachsene weniger hilflos ist als das Kind. Denn das Kind hat eine Mutter, die mit ihrer Liebe alle Gefahren von ihm abwehrt. Der Erwachsene hat niemanden. Natürlich hat er vielleicht Freunde, eine Frau und auch ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit, trotzdem sind seine Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen und das zu erwerben, was er braucht, höchst begrenzt. Ist es da verwunderlich, dass er den Traum mit sich herumträgt, wieder eine Mutter zu finden oder eine Welt, in der er wieder Kind sein kann? Man kann mit Recht den Widerspruch zwischen dem sehnsüchtigen Verlangen nach der paradiesischen Existenz eines Kindes und den Notwendigkeiten, die sich aus der Existenz des Erwachsenen ergeben, als den Kern aller neurotischen Entwicklungen ansehen. [VIII-283]

Worin Freud sich irrte und sich auf Grund seiner Voraussetzungen irren musste, war die Ansicht, dass die Bindung an die Mutter ihrem Wesen nach sexueller Natur sei. Entsprechend seiner Theorie von der infantilen Sexualität war es für ihn nur logisch, anzunehmen, dass der kleine Junge dadurch an seine Mutter gebunden sei, dass sie die erste Frau in seinem Leben ist, die ihm nahe ist und die seinen sexuellen Wünschen ein natürliches Objekt bietet, nach dem er sich sehnt. Weitgehend trifft das auch zu. Wir besitzen viele Beweise dafür, dass die Mutter für den kleinen Jungen nicht nur ein Objekt seiner Zuneigung, sondern auch ein Objekt seines sexuellen Begehrens ist, aber – und hier liegt der große Irrtum Freuds – es ist nicht das sexuelle Begehren, das die Beziehung zur Mutter so intensiv und vital macht. Diese Intensität beruht auf der Sehnsucht nach dem oben erwähnten paradiesischen Zustand und verleiht der Mutterfigur nicht nur in der Kindheit, sondern vielleicht im ganzen Leben eines Menschen eine solche Wichtigkeit.

Freud hat die offenkundige Tatsache übersehen, dass sich sexuelle Wünsche ihrem Wesen nach nicht durch besondere Stabilität auszeichnen. Ist eine sexuelle Beziehung nicht mit Zuneigung und starken emotionalen Bindungen verquickt, von denen die wichtigste die Liebe ist, so ist sie selbst in ihrer intensivsten Form recht kurzlebig – wenn man ihr eine Dauer von sechs Monaten zugesteht, so ist das wahrscheinlich noch recht großzügig. Die Sexualität als solche ist unbeständig, vielleicht noch mehr bei Männern, die auf Abenteuer aus sind, als bei Frauen, bei denen die Verantwortung für das Kind der Sexualität eine ernstere Bedeutung verleiht. Die Annahme, Männer seien an ihre Mütter gebunden wegen einer sexuellen Bindung, deren Ursprung 20 oder 30 oder 50 Jahre zurückliegt, ist schlechtweg absurd, wenn man bedenkt, dass viele sich nicht einmal mehr nach drei Jahren einer sexuell befriedigenden Ehe an ihre Frau gebunden fühlen. Die Mutter mag für den kleinen Jungen tatsächlich ein Objekt für sein Begehren sein, weil sie eine der ersten Frauen in seinem Leben ist, aber es stimmt auch – und Freud hat selbst in seinen Fallgeschichten darüber berichtet –, dass sich kleine Jungen ebenso leicht in kleine Mädchen ihres eigenen Alters verlieben und leidenschaftliche Liebesaffären mit ihnen durchleben, wobei sie ihre Mutter ziemlich vergessen.

Man versteht das Liebesleben eines Mannes nicht richtig, wenn man nicht sieht, wie er zwischen dem Wunsch, in einer anderen Frau die Mutter wiederzufinden, und dem gleichzeitigen Wunsch, von der Mutter loszukommen und eine Frau zu finden, die von der Mutterfigur möglichst verschieden ist, hin und her schwankt. Dieser Konflikt ist eine der Hauptursachen für Ehescheidungen. Es kann leicht vorkommen, dass die Frau zu Anfang der Ehe keine Mutterfigur war, dass sie aber im Laufe des Ehelebens, wo sie den Haushalt zu führen hat, zu einer Art Zuchtmeister wird, der den Mann von der Erfüllung seines kindlichen Wunsches nach neuen Abenteuern abhält, und dass sie eben hierdurch die Funktion der Mutter übernimmt und in dieser Eigenschaft vom Mann gleichzeitig begehrt, gefürchtet und abgelehnt wird. Oft verliebt sich ein älterer Mann in ein junges Mädchen. Es ist frei von allen mütterlichen Zügen, und solange sie in ihn verliebt ist, lebt der Mann in der Illusion, seiner Abhängigkeit von der Mutterfigur entronnen zu sein.

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Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120487
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Sigmund Freud Psychoanalyse Triebtheorie Ödipuskomplex Traumtheorie Erich Fromm
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Titel: Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen