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Das Menschenbild bei Marx

Marx’s Concept of Man. With a Translation of Marx’s Economic and Philosophical manuscripts by T.B. Bottomore

©2015 52 Seiten

Zusammenfassung

Kaum ein Denker wurde so missverstanden wie Karl Marx, und kaum eine Idee wurde so missbraucht wie die des Sozialismus. In diesem Buch, das in der DDR auf dem Index stand, vermittelt Erich Fromm den Zugang zur philosophischen Denke von Marx. Fromm zeigt, dass Marx einen Menschen im Blick hatte, der seine Erfüllung in der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen findet – und wie diese humanistische Vorstellung im real existierenden Sozialismus pervertiert wurde.

Fromm löst viele Missverständnisse und Fehldeutungen auf und holt die Aussagen und Wertvorstellungen des Menschenbildes von Marx zurück ins Licht. Sie sind wichtig, um die jüngere Geschichte von Ost und West zu verstehen und haben angesichts der heutigen Konflikte von ihrer Aktualität kaum etwas eingebüßt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Menschenbild bei Marx

(Marx’s Concept of Man
With a Translation of Marx’s Economic and Philosophical Manuscripts
by T.B. Bottomore)

Erich Fromm
(1961b)

Aus dem Amerikanischen von Renate Müller-Isenburg und C. Barry Hyams
überarbeitet von Rainer Funk

Erstveröffentlichung 1961 unter dem Titel Marx’s Concept of Man. With a Translation of Marx’s Economic and Philosophical Manuscripts by T.B. Bottomore in der Reihe Milestones of Thought in the History of Ideas in New York bei Frederick Ungar Publishing Co. Eine erste deutsche Übersetzung, besorgt von Renate Müller-Isenburg und C. Barry Hyams, erschien 1963 bei der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt am Main unter dem Titel Das Menschenbild bei Marx. Diese Übersetzung wurde von Rainer Funk für die Veröffentlichung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden 1980 überarbeitet.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 335-393.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1961 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Vorwort

Die Philosophie von Marx ist wie existenzialistisches Denken ein Protest gegen die Entfremdung des Menschen, gegen den Verlust seiner selbst und seine Verwandlung in ein Ding.[1] Diesen Protest erhebt sie gegen die Dehumanisierung und Automatisierung des Menschen, die mit der Entwicklung des westlichen Industrialismus verbunden ist. Marx’ Philosophie übt radikale Kritik an allen jenen „Antworten“, die das Problem der menschlichen Existenz zu lösen suchen, indem sie die in ihr beschlossenen Widersprüche leugnen oder verschleiern. Sie wurzelt in der humanistischen philosophischen Tradition des Westens, die von Spinoza über die französische und deutsche Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts bis zu Goethe und Hegel reicht, und deren innerstes Wesen die Sorge um den Menschen und um die Verwirklichung seiner Möglichkeiten ist.

Die Zentralfrage in der Philosophie von Marx, die ihren deutlichsten Ausdruck in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten gefunden hat, ist die nach der Existenz des wirklichen individuellen Menschen, der ist, was er tut, und dessen „Natur“ sich in der Geschichte entfaltet und offenbart. Im Gegensatz zu Kierkegaard und anderen Philosophen jedoch sieht Marx den Menschen in seiner vollen Wirklichkeit als Mitglied einer gegebenen Gesellschaft und einer gegebenen Klasse, als ein Wesen, das in seiner Entwicklung von der Gesellschaft gestützt wird und zugleich ihr Gefangener ist. Die volle Verwirklichung des Menschen und seine Befreiung von den gesellschaftlichen Kräften, die ihn gefangen halten, ist für Marx verbunden mit der Anerkennung dieser Kräfte und mit einem gesellschaftlichen Wandel, der auf eben dieser Anerkennung basiert.

Marx’ Philosophie ist eine Protestphilosophie; ein Protest, der getragen ist vom Glauben an den Menschen, an seine Fähigkeit, sich selbst zu befreien und seine ihm innewohnenden Möglichkeiten zu verwirklichen. Dieser Glaube ist ein Zug des Marxschen Denkens, der für die Vorstellungswelt der westlichen Kultur vom späten Mittelalter bis zum neunzehnten Jahrhundert charakteristisch war und der heute so selten ist. Eben aus diesem Grund wird vielen Lesern, die von der augenblicklich herrschenden Resignation und dem Wiederaufleben des Begriffs der Erbsünde (in der Freudschen oder Niebuhrschen Form) angesteckt sind, die Marxsche Philosophie [V-338] überholt, altmodisch oder utopisch erscheinen, und aus diesen und vielleicht noch anderen Gründen werden sie diesen Glauben an die Möglichkeiten des Menschen und der Hoffnung auf seine Fähigkeit, das zu werden, was er potenziell ist, ablehnen. Für andere wird die Philosophie von Marx eine Quelle neuer Einsicht und Hoffnungen sein.

Ich bin der Meinung; dass Hoffnung und eine neue Einsicht, und damit eine Überschreitung der engen Grenzen des gegenwärtigen positivistisch-mechanistischen Denkens der Sozialwissenschaften, vonnöten sind, wenn der Westen dieses Jahrhundert der Prüfungen überleben soll. Während das westliche Denken vom dreizehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert (oder, um genauer zu sein, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914) von der Hoffnung bestimmt war – einer Hoffnung, die im Denken der Propheten und in der griechisch-römischen Kultur wurzelte –, waren die letzten vier Jahrzehnte von wachsendem Pessimismus und Hoffnungslosigkeit bestimmt. Der Durchschnittsmensch ist auf der verzweifelten Suche nach Schutz; er versucht, der Freiheit zu entfliehen und im Schoß des großen Staats und des großen Verbands Sicherheit zu finden. Wenn wir uns nicht dieser Hoffnungslosigkeit entwinden können, dann mögen wir uns zwar noch eine Weile auf der Grundlage unserer materiellen Stärke behaupten, aber auf lange historische Sicht wird dann der Westen zur physischen oder geistigen Auslöschung verdammt sein.

So groß auch die Bedeutung von Marx’ Philosophie als Quelle philosophischer Einsicht und als Heilmittel gegen die augenblickliche – verschleierte oder offene – Resignation ist, es gibt doch noch einen anderen, kaum weniger wichtigen Grund, sie zu dieser Zeit in der westlichen Welt neu zu veröffentlichen. Die Welt ist heute in zwei rivalisierende Ideologien zerrissen – in die des „Marxismus“ und die des „Kapitalismus“. Während im Westen das Wort „Sozialismus“ als eine Erfindung des Teufels gilt und alles andere als Vertrauen erweckt, gilt für den Rest der Welt gerade das Gegenteil. Nicht nur Russland und China benützen den Begriff „Sozialismus“, um ihre Systeme anziehend zu machen, sondern auch die meisten afrikanischen und asiatischen Länder fühlen sich zu den Ideen des marxistischen Sozialismus stark hingezogen. Bei ihnen finden Sozialismus und Marxismus nicht nur wegen der ökonomischen Leistungen Russlands und Chinas Anklang, sondern auch wegen der darin enthaltenen Elemente der Gerechtigkeit, Gleichheit und Universalität (die in der geistigen Tradition des Westens wurzeln). Obgleich in Wahrheit die Sowjetunion ein System eines konservativen Staatskapitalismus und nicht die Verwirklichung des Marxschen Sozialismus darstellt, und obgleich China durch die Mittel, die es anwendet, jene Befreiung des Individuums, die ja gerade das Ziel des Sozialismus ist, negiert, benützen sie beide die Anziehungskraft des marxistischen Denkens, um sich selbst den Völkern Asiens und Afrikas zu empfehlen. Und wie reagiert die öffentliche Meinung und offizielle Politik des Westens darauf? Wir tun alles, um den russisch-chinesischen Anspruch zu unterstützen, indem wir ständig verkünden, dass ihr System „marxistisch“ sei, und indem wir Marxismus und Sozialismus mit dem sowjetischen Staatskapitalismus und dem chinesischen Totalitarismus identifizieren. Wir konfrontieren so die noch unvoreingenommenen Bevölkerungsmassen der Welt mit der Alternative von „Marxismus“ und „Sozialismus“ einerseits und „Kapitalismus“ andererseits (oder, [V-339] wie wir es gewöhnlich ausdrücken, zwischen „Sklaverei“ und „Freiheit“ bzw. freiem Unternehmertum) und geben damit der Sowjetunion und den chinesischen Kommunisten in dieser ideologischen Auseinandersetzung soviel Schützenhilfe wie nur möglich.

Die Alternative für die unterentwickelten Länder, deren Entwicklung für die nächsten hundert Jahre entscheidend für die Weltpolitik sein wird, ist jedoch nicht die von Kapitalismus und Sozialismus, sondern die von totalitärem Sozialismus und marxistischem humanistischen Sozialismus. Auf letzteren weisen schon, in verschiedener Gestalt, Tendenzen in Polen, Jugoslawien, Ägypten, Birma, Indonesien usw. deutlich hin. Als Führer einer solchen Entwicklung hätte der Westen den ehemaligen Kolonialländern viel zu bieten: nicht nur Kapital und technische Hilfe, sondern auch die westliche humanistische Tradition, deren Ergebnis der marxistische Sozialismus ist, die Tradition der Freiheit des Menschen, nicht nur von, sondern seine Freiheit zu – die Möglichkeit, seine eigenen menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln, die Tradition der menschlichen Würde und Brüderlichkeit. Um diesen Einfluss auszuüben und um die russischen und chinesischen Ansprüche zu verstehen, müssen wir das Marxsche Denken begreifen und das falsche und entstellte Bild des Marxismus, von dem das westliche Denken heute beherrscht wird, aufgeben. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Buch ein Schritt in diese Richtung sein wird.

Im Folgenden habe ich versucht, Marx’ Menschenbild auf einfache (ich hoffe, nicht zu vereinfachende) Weise darzustellen, weil sein Stil nicht immer leicht zugänglich ist, und ich hoffe, dass die Ausführungen vielen Lesern helfen werden, den Marxschen Text zu verstehen. Ich habe darauf verzichtet, darzulegen, inwieweit ich mit dem Marxschen Denken nicht übereinstimme, denn bezüglich seines humanistischen Existenzialismus habe ich wenig Widerspruch anzumelden. In einer Reihe von Punkten, die seine soziologischen und ökonomischen Theorien betreffen, kann ich Marx nicht folgen; ich habe diese Fragen in früheren Arbeiten angeschnitten. (Vgl. z.B. Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 177-186.) Sie beziehen sich hauptsächlich auf die Tatsache, dass Marx nicht voraussehen konnte, bis zu welchem Grade der Kapitalismus imstande war, sich selbst zu modifizieren und so die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Industrienationen zu befriedigen, und weiter, dass er die Gefahren der Bürokratisierung und Zentralisierung nicht überblickte und unfähig war, sich die autoritären Systeme vorzustellen, die als Alternativen zum Sozialismus auftauchen konnten. Aber da sich dieses Buch nur mit Marx’ philosophischem und historischem Denken beschäftigt, ist hier nicht der Ort, die strittigen Punkte seiner ökonomischen und politischen Theorie zu erörtern.

Eine wirkliche Kritik an Marx ist jedoch etwas ganz anderes als die gewöhnlich fanatischen oder herablassenden Urteile, die für die gegenwärtigen Äußerungen über ihn so typisch sind. Ich bin davon überzeugt, dass wir nur durch das Verständnis des tatsächlichen Inhalts des marxistischen Denkens und durch genaue Unterscheidung vom russischen und chinesischen Pseudomarxismus imstande sein werden, die Realitäten unserer gegenwärtigen Welt zu begreifen und vernünftig und konstruktiv auf ihre Herausforderungen eingehen zu können. Ich hoffe, dass dieser Band nicht nur zu einem besseren Verständnis der humanistischen Philosophie von Marx beiträgt, sondern [V-340] dass er auch dazu hilft, die irrationale und geradezu von Verfolgungswahn bestimmte Haltung, die in Marx einen bösen Geist und im Sozialismus des Teufels Werk sieht, etwas abzubauen.

Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (MEGA I, 3, S. 81-161) bilden zwar den Hauptteil dieses Bandes, ich habe jedoch auch kleinere Abschnitte aus anderen philosophischen Schriften von Marx einbezogen, um das Bild abzurunden. Der einzige größere Abschnitt, den ich hinzugefügt habe, enthält verschiedene Berichte, die sich mit der Person von Marx beschäftigen. Ich habe diesen Abschnitt beigefügt, weil Marx’ Persönlichkeit ebenso wie seine Ideen von vielen Autoren verleumdet und herabgesetzt wurden; ich glaube, dass ein zutreffenderes Bild von Marx dazu beiträgt, einige Vorurteile seinen Ideen gegenüber zu entkräften.[2]

T. B. Bottomore von der London School of Economics habe ich für eine Reihe kritischer Anregungen, die er mir nach Lektüre des Manuskripts gab, sehr zu danken.[3]

E. F.

1. Die Verfälschung des Marxschen Denkens

Es gehört zur besonderen Ironie der Geschichte, dass dem Missverständnis und der Entstellung von Theorien keine Grenzen gesetzt sind, und das sogar in einer Zeit, in der die Quellen frei zugänglich sind. Es gibt kein drastischeres Beispiel für dieses Phänomen als das, was der Theorie von Karl Marx in den letzten Jahrzehnten widerfuhr. Marx und der Marxismus werden ständig erwähnt: in der Presse, in den Reden der Politiker, in Büchern und Artikeln von anerkannten Sozialwissenschaftlern und Philosophen.

Es scheint jedoch, dass die Politiker und Journalisten mit ein paar Ausnahmen niemals auch nur einen Blick auf eine Zeile von Marx geworfen haben und dass sich die Sozialwissenschaftler mit einer minimalen Marx-Kenntnis zufriedengeben. Offenbar fühlen sie sich durchaus sicher, wenn sie sich wie Experten auf diesem Gebiet benehmen, da niemand, der Einfluss und Ansehen im Reich der Sozialforschung genießt, ihre ignoranten Feststellungen anzweifelt.[4] [V-342]

Unter all den Missverständnissen ist wahrscheinlich keines verbreiteter als die Idee vom Marxschen „Materialismus“. Man nimmt an, dass Marx geglaubt habe, das oberste psychologische Motiv des Menschen sei sein Wunsch nach finanziellem Gewinn und nach Bequemlichkeit, und dass sein Streben nach größtmöglichem Profit den Hauptantrieb in seinem persönlichen Leben und dem der menschlichen Gattung darstelle. Diesem Gedanken entspricht die ebenso weit verbreitete Annahme, dass Marx die Bedeutung des Individuums vernachlässigt, dass er weder Achtung noch Verständnis für die geistigen Bedürfnisse des Menschen gehabt habe und dass sein „Ideal“ der gut genährte und ordentlich angezogene, aber „seelenlose“ Mensch gewesen sei. Marx’ Kritik der Religion wurde für identisch gehalten mit der Leugnung aller geistigen Werte, und dies schien all denen umso offensichtlicher, die voraussetzten, dass der Glaube an Gott die Bedingung einer geistigen Orientierung ist.

Aus diesen Vorstellungen heraus wird dann Marx’ sozialistisches Paradies behandelt als eines, in dem Millionen von Menschen einer allmächtigen staatlichen Bürokratie unterworfen sind, Menschen, die ihre Freiheit aufgegeben haben, wenn sie vielleicht auch Gleichheit dafür eingetauscht haben mögen; diese materiell „befriedigten“ Individuen haben ihre Individualität verloren und sind erfolgreich in Millionen einheitlicher Roboter und Automaten verwandelt worden, die von einer kleinen Elite besser genährter Führer regiert werden.

Es genügt zu sagen, dass dieses gängige Bild von Marx’ „Materialismus“ – das eine antigeistige Tendenz und den Wunsch nach Uniformität und Unterwerfung widerspiegelt – völlig falsch ist. Das Ziel von Marx war die geistige Emanzipation des Menschen, seine Befreiung von den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, die Wiederherstellung seiner menschlichen Ganzheit, um ihn zu befähigen, zur Einheit und Harmonie mit seinem Mitmenschen und der Natur zu finden. Marx’ Philosophie war in nicht-theistischer Sprache ein neuer und radikaler Schritt vorwärts in die Tradition des prophetischen Messianismus, sie zielte auf die volle Verwirklichung des Individualismus, gerade jenes Ziel, das das westliche Denken seit der Renaissance und Reformation bis weit ins neunzehnte Jahrhundert geleitet hat.

Dieses Bild wird zweifellos viele Leser schockieren, da es mit den Ideen über Marx unvereinbar ist, mit denen man sie bisher vertraut gemacht hat. Aber ehe ich darangehe, es zu belegen, möchte ich die Ironie betonen, die in der Tatsache liegt, dass die Beschreibung von Marx’ Zielen und dem Inhalt seiner Vision des Sozialismus beinahe haargenau auf die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft des Westens [V-343] zutrifft. Das Handeln der Mehrzahl der Menschen ist motiviert vom Wunsch nach größeren materiellen Gewinnen, nach Komfort und nach Dingen des „gehobenen Verbrauchs“, und dieser Wunsch wird nur eingeschränkt von dem Verlangen nach Sicherheit und der Vermeidung von Risiken. Sie sind zunehmend sowohl in der Sphäre der Produktion wie in der des Verbrauchs mit einem vom Staat und den großen Verbänden und deren jeweiligen Bürokratien regulierten und manipulierten Leben zufrieden; sie haben einen Grad der Konformität erreicht, der die Individualität weitgehend ausgelöscht hat. Sie sind, um den Ausdruck von Marx zu benützen, impotente „Menschenware“, die starken und autonomen Maschinen dient. Das tatsächliche Bild des Kapitalismus in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist von der Karikatur des marxistischen Sozialismus, wie ihn dessen Gegner gezeichnet haben, kaum zu unterscheiden.

Beinahe noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass Leute, die Marx bitter wegen seines „Materialismus“ anklagen, den Sozialismus als wirklichkeitsfremd angreifen, weil er nicht anerkenne, dass der einzig wirksame Anreiz des Menschen zur Arbeit in seinem Wunsch nach materiellem Gewinn liege. Die unbegrenzte Fähigkeit des Menschen, eklatante Widersprüche durch psychologische „Rationalisierung“, so wie es ihm gerade passt, zu leugnen, könnte schwerlich besser dargetan werden. Genau die gleichen Gründe, von denen behauptet wird, dass sie der Beweis dafür seien, dass Marx’ Ideen mit unserer religiösen und geistigen Tradition unvereinbar sind, und die dazu benützt werden, unser gegenwärtiges System gegen Marx zu verteidigen, werden zur selben Zeit von den gleichen Leuten zu dem Beweis verwendet, dass der Kapitalismus der menschlichen Natur entspricht und daher einem „unrealistischen“ Sozialismus weit überlegen ist.

Ich will nun folgendes nachzuweisen versuchen: Diese Marx-Interpretation ist falsch, denn die marxistische Theorie behauptet nicht, dass das Hauptantriebsmotiv des Menschen dessen Streben nach materiellem Gewinn sei. Ferner, das wirkliche Ziel von Marx ist die Befreiung des Menschen vom Druck der ökonomischen Bedürfnisse, damit er sich – das ist dabei entscheidend – in seiner vollen Menschlichkeit entfalten kann. Das wichtigste Anliegen von Marx ist also die Emanzipation des Menschen zu einem Individuum, die Überwindung der Entfremdung, die Wiederherstellung seiner Fähigkeit, sich zum Menschen und zur Natur voll in Einklang zu setzen. Ich behaupte weiter, dass Marx’ Philosophie geistiger Existenzialismus in säkularer Sprache ist und eben wegen ihrer geistigen Qualität im Gegensatz zur materialistischen Praxis und zur nur dünn verhüllten materialistischen Philosophie unseres Zeitalters steht. Marx’ Ziel, ein auf seiner Theorie vom Menschen basierender Sozialismus, ist im wesentlichen prophetischer Messianismus in der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts.

Wie ist es dann möglich, dass die Philosophie von Marx so vollständig missverstanden und in ihr Gegenteil verzerrt wird? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Der erste Grund ist zweifellos pure Ignoranz. Offenbar werden diese Fragen nicht an den Universitäten behandelt, sie sind keiner kritischen Untersuchung unterworfen, und deshalb vielleicht meinen viele, dass es ihnen freisteht, ohne jegliche Sachkenntnis zu reden und zu schreiben, was ihnen einfällt. Es gibt keine anerkannten Autoritäten, die auf dem Respekt vor den Tatsachen und vor der Wahrheit bestehen würden. Jeder [V-344] fühlt sich berechtigt, über Marx zu reden, ohne ihn je gelesen zu haben, oder wenigstens so viel von ihm gelesen zu haben, um eine Vorstellung von seinem sehr komplexen, schwierigen und subtilen Gedankensystem zu bekommen. Dabei macht es wenig aus, dass Marx’ philosophisches Hauptwerk, das von seinem Menschenbild, von Entfremdung und Emanzipation usw. handelt, die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte nämlich (MEGA I, 3, S. 81-16 = MEW Erg., S. 511-579), bis jetzt noch nicht ins Englische übersetzt war und also einige seiner Ideen der Englisch sprechenden Welt noch unbekannt waren. (Die erste englische Version brachte zwar der Verlag Lawrence and Wishart 1959 in Großbritannien heraus. Der Verlag übernahm dabei aber eine im Verlagshaus für ausländische Sprachen in Moskau angefertigte englische Übersetzung.) Dieser Umstand reicht jedoch bei weitem nicht aus, die herrschende Ignoranz zu erklären. Denn erstens ist die Tatsache, dass dieses Werk von Marx niemals zuvor ins Englische übersetzt wurde, selbst sowohl ein Symptom der Ignoranz als auch eine Ursache für sie. Dann aber ist festzuhalten, dass die Hauptrichtung des philosophischen Denkens von Marx in den schon früher im Englischen publizierten Schriften genügend deutlich wurde. Die Verfälschungen, die vorgenommen wurden, hätten also vermieden werden können.

Ein wichtiger Grund für das Missverständnis von Marx liegt weiter in der Tatsache, dass sich die russischen Kommunisten die Marxsche Theorie angeeignet und die Welt zu überzeugen versucht haben, dass ihre Praxis und Theorie seinen Gedanken folge. Obgleich das Gegenteil wahr ist, hat der Westen ihre Propagandathesen akzeptiert und ist davon überzeugt, dass russische Ansicht und Praxis der Marxschen Position entsprechen. Die russischen Kommunisten sind jedoch nicht die einzigen, die an einer Fehlinterpretation von Marx schuldig sind. Während für die Russen die brutale Verachtung der persönlichen Würde und der humanistischen Werte charakteristisch ist, wurde die falsche Auslegung von Marx als des Verfechters eines ökonomisch-hedonistischen Materialismus von vielen Antikommunisten und reformistischen Sozialisten geteilt. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu entdecken. Obgleich Marx’ Theorie eine Kritik des Kapitalismus war, so waren doch viele seiner Anhänger vom Geist des Kapitalismus so tief durchtränkt, dass sie Marx’ Gedankengänge mit den ökonomischen und materialistischen Begriffen auslegten, die im gegenwärtigen Kapitalismus vorherrschen. Es ist in der Tat so, dass sich die sowjetischen Kommunisten ebenso wie die reformistischen Sozialisten zwar für Feinde des Kapitalismus hielten, dass sie jedoch den Kommunismus – oder Sozialismus – im Geist eben des Kapitalismus verstanden. Für sie ist der Sozialismus nicht eine Gesellschaft, die – menschlich gesehen – vom Kapitalismus grundsätzlich unterschieden ist, sondern eher eine Form von Kapitalismus, in der die Arbeiterklasse eine höhere soziale Ebene erreicht hat; er ist für sie, wie Engels einmal ironisch bemerkte, „die gegenwärtige Gesellschaft ohne ihre Mängel“.

Soweit die rationalen und einsehbaren Gründe für die Entstellung der Marxschen Theorien. Es gibt aber auch ohne Zweifel irrationale Gründe, die zu dieser Verzerrung beitragen. Sowjetrussland wird als die absolute Verkörperung alles Bösen angesehen, daher haben seine Ideen die Qualität des Diabolischen angenommen. Geradeso wie 1914, als innerhalb ziemlich kurzer Zeit der Kaiser und die „Hunnen“ als die Verkörperung des Bösen angesehen wurden, und selbst Mozarts Musik zu diesem [V-345] Teufelskreis gerechnet wurde, so haben jetzt die Kommunisten den Platz des Teufels eingenommen, und ihre Doktrin wird nicht objektiv untersucht. Der Grund, der gewöhnlich für diesen Hass angegeben wird, ist der Terror, den die Stalinisten viele Jahre lang ausübten. Aber es gibt schwerwiegende Gründe, die Aufrichtigkeit dieser Erklärung zu bezweifeln: Die gleichen Akte von Terror und Unmenschlichkeit riefen, als sie von den Franzosen in Algerien, von Trujillo in Santo Domingo, von Franco in Spanien verübt wurden, keine ähnliche moralische Entrüstung hervor, genau gesehen eigentlich überhaupt keine. Und weiter: Der Wandel von Stalins zügellosem Terrorsystem zu Chruschtschows reaktionärem Polizeistaat ist nur ungenügend beachtet worden, obgleich man annehmen sollte, dass jeder, dem die menschliche Freiheit wirklich wichtig ist, diesen Wechsel wahrnehmen und sich über ihn freuen sollte, denn wenngleich er auch keinesfalls ausreichend ist, so bedeutet er doch eine gewaltige Verbesserung gegenüber Stalins nacktem Terror. All dies gibt uns Anlass zu der Überlegung, ob die Entrüstung gegenüber Russland wirklich in moralischen und humanitären Gefühlen wurzelt oder nicht vielmehr in der Tatsache, dass ein System, das kein Privateigentum an den Produktionsmitteln kennt, als unmenschlich und bedrohlich angesehen wird.

Es ist schwer zu sagen, welcher der obengenannten Faktoren am meisten für die Verzerrungen und Missverständnisse der Marxschen Philosophie verantwortlich ist. Wahrscheinlich schwanken sie in ihrer Bedeutung bezüglich der verschiedenen Personen und politischen Gruppen, und es ist unwahrscheinlich, dass einer von ihnen der allein verantwortliche Faktor ist.

2. Marx’ Historischer Materialismus

Um zum richtigen Verständnis der Marxschen Philosophie zu gelangen, muss zunächst sein Begriff von Materialismus und historischem Materialismus von Missverständnissen befreit werden. Wenn man annimmt, der Materialismus behaupte, dass die materiellen Interessen und der Wunsch des Menschen nach ständig wachsenden Gewinnen und Annehmlichkeiten das menschliche Hauptmotiv seien, so vergisst man die einfache Tatsache, dass die Worte „Idealismus“ und „Materialismus“, wie sie von Marx und allen anderen Philosophen gebraucht werden, nichts mit psychischen Motivierungen einer höheren, geistigen Ebene, gegenüber solchen einer niedrigeren und primitiveren Ebene zu tun haben. In philosophischer Terminologie bezieht sich „Materialismus“ (oder „Naturalismus“) auf eine philosophische Richtung, die der Ansicht ist, dass die sich bewegende Materie das Weltall konstituiert. In diesem Sinn waren die Vorsokratiker „Materialisten“, obgleich sie keinesfalls Materialisten in dem oben genannten Wortsinn eines Werturteils oder eines ethischen Prinzips waren. Unter „Idealismus“ dagegen versteht man eine Philosophie, in der nicht die immer wechselnde Welt der Sinne die Wirklichkeit konstituiert, sondern unkörperliche Wesenheiten oder Ideen. Platos System ist das erste philosophische System, auf das der Name „Idealismus“ angewendet wurde. Marx vertrat zwar philosophisch eine materialistische Ontologie, aber er interessierte sich im Grunde nicht wirklich für diese Fragen und beschäftigte sich fast nie mit ihnen.

Es gibt viele Arten materialistischer und idealistischer Philosophien, und um den „Materialismus“ von Marx zu verstehen, müssen wir über die soeben getroffene allgemeine Definition hinausgehen. Tatsächlich wandte sich Marx eindeutig gegen einen philosophischen Materialismus, wie er von vielen der fortschrittlichsten Denker seiner Zeit (besonders bei den Naturwissenschaftlern) vertreten wurde. Dieser Materialismus behauptete, dass das Substrat aller psychischen und geistigen Erscheinungen in der Materie und den materiellen Prozessen zu finden seien. In seiner vulgärsten und abergläubischsten Form lehrte diese Richtung des Materialismus, dass Gefühle und Ideen erschöpfend als Resultate chemischer Prozesse des Körpers erklärt seien und dass der Gedanke für das Gehirn das sei, was der Harn für die Nieren ist.

Marx bekämpfte diesen Typ des mechanischen, „bürgerlichen“, „abstrakt [V-347] naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozess ausschließt“ (K. Marx, MEW 23, S. 393, Anm. 89), und postulierte statt dessen das, was er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten „Naturalismus“ oder „Humanismus“ nennt, der „sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist“ (MEGA I, 3, S. 160 = MEW Erg. I, S. 577). Tatsächlich benützte Marx niemals die Begriffe „historischer Materialismus“ oder „dialektischer Materialismus“, sondern er sprach von seiner eigenen „dialektischen Methode“ im Gegensatz zu der Hegels, und von ihrer „materialistischen Basis“, womit er einfach die grundlegenden Bedingungen der menschlichen Existenz meinte.

Dieser Aspekt des „Materialismus“, Marx’ „materialistische Methode“, die seine Ansicht von der Hegels unterscheidet, umschließt das Studium des realen ökonomischen und sozialen Lebens des Menschen und den Einfluss der konkreten Lebensweise des Menschen auf sein Denken und Fühlen. „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie“, schrieb Marx in Die deutsche Ideologie,

welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. Das heißt, es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklichen tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. (MEGA I, 5, S. 15°f. = MEW 03a, S. 26; Hervorhebung E. F.)

Oder er formuliert, etwas abgewandelt in Die heilige Familie:

Hegels Geschichtsauffassung ist nichts anderes als der spekulative Ausdruck des christlich-germanischen Dogmas vom Gegensatz des Geistes und der Materie, Gottes und der Welt (...) Hegels Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, dass die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewusster oder bewusster trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte lässt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehen. Die Geschichte der Menschheit verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher dem wirklichen Menschen jenseitigen Geistes der Menschheit. (MEGA I, 3, S. 257 = MEW 02, S. 89°f.)

Marx beschreibt seine eigene historische Methode in Die deutsche Ideologie sehr prägnant:

Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, dass sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. (MEGA I, 5, S. 10°f. = MEW 03a, S. 21)

Marx machte in seinen Thesen über Feuerbach den Unterschied zwischen dem historischen Materialismus und dem zeitgenössischen Materialismus sehr klar:

Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) [V-348] ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. (MEGA I, 5, S. 533 = MEW 03, S. 5.)

Marx sieht – wie Hegel – einen Gegenstand in seiner Bewegung, in seinem Werden, und nicht als ein statisches „Objekt“, das erklärt werden kann, indem man seine physikalische „Ursache“ entdeckt. Im Gegensatz zu Hegel untersucht Marx den Menschen und die Geschichte, indem er mit dem wirklichen Menschen und den ökonomischen und sozialen Bedingungen, unter denen er leben muss, beginnt, und nicht von dessen eigenen Ideen ausgeht. Marx war ebenso weit vom bürgerlichen Materialismus entfernt wie von Hegels Idealismus – daher konnte er mit Recht sagen, dass seine Philosophie weder Idealismus noch Materialismus, sondern eine Synthese ist: Humanismus und Naturalismus.

Inzwischen sollte klar sein, warum die populäre Vorstellung von dem Wesen des historischen Materialismus fehlerhaft ist. Die gängige Ansicht setzt voraus, dass nach Marx’ Überzeugung das stärkste psychologische Motiv des Menschen das Streben nach Geld und nach materieller Bequemlichkeit sei; wenn dies die Hauptkraft im Menschen ist – so fährt diese „Interpretation“ des historischen Materialismus fort –, so sind der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte die materiellen Wünsche des Menschen, daher ist der Schlüssel zur Erklärung der Geschichte der menschliche Magen und seine Gier nach materieller Befriedigung. Das grundsätzliche Missverständnis, auf dem diese Interpretation beruht, ist die Annahme, dass der historische Materialismus eine psychologische Theorie sei, die sich mit den menschlichen Antrieben und Leidenschaften beschäftigte. Tatsächlich aber ist der historische Materialismus keinesfalls eine psychologische Theorie; er behauptet vielmehr, dass die Weise, in der der Mensch produziert, sein Denken und seine Wünsche bestimmt, und nicht, dass seine Hauptwünsche solche nach dem höchstmöglichen materiellen Gewinn sind. Ökonomie bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf einen psychischen Antrieb, sondern auf die Produktionsweise, nicht auf einen subjektiven, psychologischen, sondern auf einen objektiven, ökonomisch-soziologischen Faktor. Die einzige quasi-psychologische Prämisse dieser Theorie liegt in der Voraussetzung, dass der Mensch Nahrung, Obdach usw. braucht und deshalb produzieren muss. Daher geht die Produktionsweise, die von einer Reihe objektiver Faktoren abhängt, voran und bestimmt die übrigen Sphären seiner Tätigkeiten. Die objektiv gegebenen Bedingungen, die die Produktionsweise und damit die gesellschaftliche Organisation bestimmen, determinieren den Menschen, sowohl seine Ideen wie auch seine Interessen. Tatsächlich war der Gedanke, dass die „Institutionen Menschen formen“, wie Montesquieu es formulierte, eine alte Einsicht; was neu bei Marx war, war seine detaillierte Analyse der Institution, die in der Produktionsweise und den dieser zugrunde liegenden Produktivkräften wurzeln. Bestimmte ökonomische Bedingungen, wie die des Kapitalismus, produzieren als ein Hauptantriebsmoment den Wunsch nach Geld und Besitz; andere [V-349] ökonomische Bedingungen können genau die entgegengesetzten Wünsche hervorbringen, wie zum Beispiel die Askese und die Verachtung irdischer Reichtümer, die wir in vielen östlichen Kulturen und in den frühen Phasen des Kapitalismus finden.[5] Die Leidenschaft für Geld und Besitz ist, nach Marx, ebenso sehr ökonomisch bedingt wie die entgegengesetzten Leidenschaften. (Vgl. hierzu meinen Beitrag Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus, 1932a, GA I, S. 37-57.)

Marx’ „materialistische“ oder „ökonomische“ Geschichtsdeutung hat überhaupt nichts mit einem behaupteten „materialistischen“ oder „ökonomischen“ Streben als dem grundlegenden Trieb des Menschen zu tun. Sie bedeutet vielmehr, dass der Mensch, der wirkliche und totale Mensch, die „wirklichen lebenden Individuen“ – nicht die Ideen, die von diesen „Individuen“ hervorgebracht werden – das Subjekt der Geschichte und des Verständnisses ihrer Gesetze sind. Wenn man die Zweideutigkeiten der Worte „materialistisch“ und „ökonomisch“ vermeiden will, so könnte die Geschichtsauffassung von Marx eine anthropologische Geschichtsinterpretation genannt werden. Sie gründet die Einsicht in die Geschichte auf die Tatsache, dass die Menschen „die Autoren und Akteure ihrer Geschichte“[6] sind.[7]

Es ist in der Tat einer der großen Unterschiede zwischen Marx und den meisten Schriftstellern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, dass er den Kapitalismus nicht als das Ergebnis der menschlichen Natur und die Motive des Menschen im Kapitalismus nicht als die universalen Motive des Menschen betrachtet. Die Absurdität der Ansicht, dass Marx den Trieb nach höchstem Profit für das tiefste Motiv im Menschen gehalten habe, wird umso deutlicher, wenn man sich klarmacht, dass Marx einige sehr direkte Aussagen über die menschlichen Triebe gemacht hat. Er unterschied zwischen konstanten oder „feststehenden Trieben“, die „unter allen Umständen bestehen und die von den sozialen Bedingungen nur in Form und Richtung verändert werden können“, und „relativen Trieben“, die „ihren Ursprung nur einem bestimmten Typ der sozialen Organisation verdanken“. Marx setzte voraus, dass Geschlechtstrieb und Hunger unter die Kategorie der „feststehenden“ Triebe fallen, aber [V-350] es ist ihm nie eingefallen, den Trieb nach maximalem ökonomischem Gewinn als konstanten Trieb anzusehen. (Vgl. Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 596 = MEW 03a, S. 238°f.)

Aber es bedarf kaum eines solchen Beweises aus Marx’ psychologischen Gedankengängen, um zu zeigen, dass die volkstümliche Vorstellung von Marx’ Materialismus vollkommen falsch ist. Marx’ ganze Kritik des Kapitalismus ist ja gerade, dass dieser das Interesse an Geld und an materiellem Gewinn zum Hauptmotiv des Menschen gemacht hat, seine Konzeption des Sozialismus jedoch ist gerade diejenige einer Gesellschaft, in der dieses materielle Interesse aufhören würde, das beherrschende zu sein. Das wird später noch klarer werden, wenn wir über Marx’ Begriff der menschlichen Emanzipation und Freiheit im einzelnen sprechen werden.

Wie ich schon betonte, beginnt Marx mit dem Gedanken, dass der Mensch seine eigene Geschichte gestaltet:

Die erste Voraussetzung aller Menschen ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wir können hier natürlich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, oro-hydrographischen, klimatischen und andern Verhältnisse eingehen. Alle Geschichtsschreibung muss von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen. Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst (Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 10 = MEW 03a, S. 20°f.).

Es ist sehr wichtig, dass man diesen grundsätzlichen Gedanken von Marx versteht: Der Mensch macht seine eigene Geschichte, er ist sein eigener Schöpfer. Wie er viele Jahre später im Kapital formulierte: „Und wäre sie (die Geschichte) nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?“ (Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 393, Anm. 89). Der Mensch gebiert sich selbst im Prozess der Geschichte. Der wesentlichste Faktor in diesem Prozess der Selbstschöpfung der menschlichen Gattung liegt in ihrem Verhältnis zur Natur. Zu Beginn seiner Geschichte ist der Mensch blind an die Natur gebunden oder gekettet. Im Verlauf des Entwicklungsprozesses verwandelt er seine Beziehungen zur Natur und damit sich selbst.

Marx hat in Das Kapital noch mehr über diese Abhängigkeit von der Natur zu sagen:

Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganismen sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit andren noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher [V-351] zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen. Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, das heißt des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewusster planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind. (MEW 23, S. 93°f.)

Bei dieser Feststellung erwähnt Marx ein Element, das eine zentrale Rolle in seiner Theorie spielt: die Arbeit. Die Arbeit ist der Faktor, der zwischen Mensch und Natur vermittelt; die Arbeit ist die Anstrengung des Menschen, seinen Metabolismus mit der Natur zu regulieren. Die Arbeit ist der Ausdruck des menschlichen Lebens, und durch Arbeit wird die Beziehung des Menschen zur Natur verwandelt, daher verwandelt sich der Mensch selbst durch Arbeit. Später wird noch mehr über seinen Begriff der Arbeit zu sagen sein.

Ich will diesen Abschnitt mit einem Marx-Zitat, geschrieben 1859, abschließen, das die vollständigste Formulierung des Begriffs des historischen Materialismus enthält:

Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bilden die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus [V-352] ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dieses Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht in dem Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab. (Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8°f.)

Es erscheint mir richtig, einige spezifische Begriffe dieser Theorie zu unterstreichen und herauszuarbeiten. Zunächst zu Marx’ Begriff der historischen Entwicklung. Die Entwicklung ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften (und anderen, objektiv gegebenen Bedingungen) und der bestehenden gesellschaftlichen Organisation. Wenn eine Produktionsweise oder gesellschaftliche Organisation die bestehenden Produktivkräfte eher hemmt als fördert, wird eine Gesellschaft bei Strafe des Untergangs sich solche Produktionsweisen wählen, die den neuen Produktivkräften entsprechen, und sie entwickeln. Die ganze Geschichte des Menschen ist durch seinen Kampf mit der Natur gekennzeichnet. An einem Punkt der Geschichte, so behauptet Marx und legt diesen Punkt in die nahe Zukunft, wird der Mensch die Produktivquellen der Natur in einem solchen Ausmaß entwickelt haben, dass der Antagonismus zwischen Mensch und Natur schließlich gelöst werden kann. In diesem Moment wird „die Vorgeschichte des Menschen“ zu einem Abschluss kommen, und die wahre menschliche Geschichte wird beginnen.

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120463
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Erich Fromm Karl Marx Menschenbild Sozialismus Humanismus Psychologie Entfremdung des Menschen Industrialismus Philosophie Natur des Menschen
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Titel: Das Menschenbild bei Marx