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Es geht um den Menschen! Eine Untersuchung der Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik

May Man Prevail? An Inquiry into the Facts and Fictions of Foreign Policy

©2015 142 Seiten

Zusammenfassung

Anfang der 60er Jahre befand sich der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt. Die beiden Hauptprotagonisten – die USA und die damalige Sowjetunion – standen sich kriegsbereit und unversöhnlich gegenüber. In diesem von Angst vor einem vernichtenden Atomkrieg geprägten Klima verfasste Erich Fromm diese erstaunliche Analyse der weltpolitischen Situation und lenkte den Blick auf die wechselseitigen Unterstellungen und Projektionen. Der politischen und psychologischen Analyse folgen konstruktive Vorschläge zur Abrüstung und zum Erhalt eines dauerhaften Friedens zwischen Ost und West.

Dieses Buch zeigt wie kein anderes das politische Engagement Erich Fromms. Er sieht hinter die Drohgebärden, um die gemeinsamen humanen Interessen aufzuspüren. Auch wenn sich mehr als 50 Jahre später die Geschichte weiterentwickelt hat, ist Fromms Auffassung von Politik aktueller denn je.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Es geht um den Menschen!
Eine Untersuchung der Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik

May Man Prevail?
An Inquiry into the Facts and Fictions of Foreign Policy

Erich Fromm
(1961a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel May Man Prevail? An Inquiry into the Facts and Fictions of Foreign Policy, New York 1961 (Doubleday & Company, Inc.); die deutsche Erstausgabe erschien bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, und in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden im Jahr 1981.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 43-197.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1961 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Vorwort

Die verantwortlichen politischen Führer stimmen darin überein, dass die Vereinigten Staaten und die gesamte westliche Welt zurzeit eine sehr gefährliche Phase durchmachen.[1] Bestehen auch gewisse Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Größe dieser Gefahren, so ist man doch weithin der Überzeugung, dass das Bild, welches wir uns von der Situation machen, klar und realistisch ist, dass wir der Situation angemessen begegnen und dass uns kein prinzipiell anderer Kurs möglich wäre. Auf folgenden Voraussetzungen gründet sich diese Auffassung über die allgemeine Weltlage:

Der Kommunismus, wie ihn die Sowjetunion und China repräsentieren, ist eine revolutionär-imperialistische Bewegung, die zum Ziel hat, sich die Welt mit Gewalt oder durch politischen Umsturz zu unterwerfen. Die industrielle und militärische Entwicklung hat das kommunistische Lager und speziell die Sowjetunion zu einem mächtigen Rivalen gemacht, der in der Lage ist, unser menschliches und industrielles Potenzial bis zu einem beträchtlichen Grad zu vernichten. Man kann diesen Machtblock an der Durchführung seines Willens, sich die Welt zu erobern, nur hindern, indem man ihm zu verstehen gibt, dass auf jeden derartigen Versuch ein Gegenschlag erfolgen würde, der auch sein menschliches und wirtschaftliches Potenzial vernichten oder aufs Schwerste schädigen würde. In dieser Abschreckungsmöglichkeit liegt die einzige Hoffnung, den Frieden zu erhalten, da Russland nur aus Angst vor unserem Gegenschlag von seinen Welteroberungsplänen Abstand nehmen wird. Solange wir daher über eine ausreichende Abschreckungsmacht verfügen und auf der ganzen Welt militärische Verbündete haben, ist der Frieden gesichert.

Innerhalb dieses Gesamtkonzepts weichen die einzelnen Ansichten allerdings weit voneinander ab. Einige sind der Meinung, dass in einem Atomkrieg zwar 60 bis 70 Millionen Amerikaner ums Leben kommen könnten, dass unser Lebensstil jedoch hierdurch nicht zerstört oder ernstlich verändert würde. Andere meinen, die Annahme von 100 bis 150 Millionen Todesopfern sei realistischer.

Manche treten für Abrüstungsverhandlungen aus einer Position der Stärke heraus ein, während wieder andere in Abrüstungsverhandlungen irgendwelcher Art nur eine nutzlose Propagandaübung sehen. Manche sind auch für eine schrittweise durchzuführende begrenzte Rüstungskontrolle, etwa für die Einstellung der Atomversuche, während andere in [V-046] einem derartigen Schritt nur eine Gefährdung unserer Sicherheit sehen. Die einen treten für eine atomare Gegenstrategie ein, die sich gegen die gegnerischen Raketenbasen richtet, andere sind für die beständige Abschreckungsstrategie eines „zweiten Schlags“, welche die Ballungsgebiete der Bevölkerung zum Ziel hat, und wieder andere möchten beide Strategien kombiniert wissen (obgleich eine solche Kombination beide Methoden ihrer angeblichen Vorteile berauben könnte). Meinungsverschiedenheiten herrschen auch bei den verschiedenen Gruppen, die bei uns Politik machen. Unter Eisenhower verfolgten das State Department und der Präsident in Bezug auf die Einstellung der Atomversuche und die Rüstungskontrolle eine etwas konziliantere Linie, während das Militär und die Atomenergie-Kommission damals wie heute auf einem weniger konzilianten Standpunkt stehen. Auch die verschiedenen Waffengattungen weichen in ihren strategischen Konzeptionen voneinander ab. Jede von ihnen vertritt eine Auffassung, die ihr selbst den größten Entfaltungsspielraum gibt und gleichzeitig zu gewissen Kompromissen mit ihren beiden konkurrierenden Waffengattungen bereit ist.

Trotz dieser Differenzen jedoch scheinen die meisten politischen Führer und der größte Teil der Bevölkerung von der Richtigkeit der Grundvoraussetzungen unserer Politik überzeugt und bereit zu sein, den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Sie sind sogar gewiss, dass kein anderer Kurs möglich ist, und dass jede andere Politik effektiv eher zum Krieg führen würde als der von uns verfolgte Weg. In dieser Einstellung werden sie noch durch ihre Überzeugung bestärkt, dass unsere Politik nicht nur die einzige ist, bei der wir hoffen können, physisch zu überleben, sondern dass sie auch aus moralischen und religiösen Überlegungen heraus als einzige vertretbar ist. Sie sind der Ansicht, dass wir und unsere Verbündeten die Repräsentanten von Freiheit und Idealismus seien, während die Russen und deren Verbündete Sklaverei und Materialismus repräsentieren. Dabei gilt prinzipiell, dass man sogar das Risiko von Krieg und Vernichtung auf sich nehmen müsse, weil der Tod immer noch besser sei als die Sklaverei.

Wer eine solche Politik verfolgt, wird es zwar schweren Herzens tun, sofern er erkennt, welche Gefahren eine solche Politik für uns und die ganze Welt in sich birgt, doch werden ihm kaum Zweifel kommen. Er wird überzeugt sein, dass wir das Bestmögliche tun und dass es keinen anderen Weg gibt, auf dem wir vor Krieg und Versklavung besser geschützt wären.

Sollten die Voraussetzungen, auf die sich unsere Politik gründet, jedoch falsch sein, so würden wir in der Tat einen Kurs verfolgen, den zu empfehlen kein Mensch wagen kann, der auch nur ein wenig Verantwortungs- und Pflichtgefühl hat. Daher haben wir die intellektuelle und moralische Verpflichtung, die Richtigkeit dieser Voraussetzungen immer wieder zu überprüfen. Zu dieser Überprüfung möchte auch ich meinen Teil beitragen. Ich will versuchen, die Gründe für meine Überzeugung darzulegen, dass viele der Voraussetzungen, die unserer Politik zugrunde liegen, falsch sind, dass viele unserer Annahmen fiktiv oder verzerrt sind, und dass wir daher wie in einer Art geistiger Verwirrung in die schwerste Gefahr für uns selbst und für die gesamte übrige Menschheit hineinrennen.

Manche meiner Behauptungen und Schlussfolgerungen werden viele Leser [V-047] überraschen und schockieren. Ich verlange nichts weiter von ihnen, als dass sie meine Argumente möglichst unvoreingenommen nachvollziehen und sich dabei möglichst wenig von Emotionen beeinflussen lassen. Schließlich haben wir ein gemeinsames Anliegen: Wir wollen nicht die totale Zerstörung durch Krieg und wir wollen, dass die Idee der menschlichen Würde und des Individualismus auf Erden lebendig bleibt. Ich möchte zu zeigen versuchen, dass Friede immer noch möglich ist und dass die humanistische Tradition noch immer eine Zukunft hat.

Meinen Dank möchte ich Roger Hagan sagen. Er hat mir nicht nur dabei geholfen, das historische Material zu sammeln, sondern auch viele wichtige kritische und konstruktive Vorschläge insgesamt gemacht. Michael Maccoby möchte ich für seine wertvollen Hilfen danken, vor allem im Kapitel über die Abrüstung. Harrop Freeman gilt mein Dank, dass er sich auch noch die Zeit genommen hat, das Manuskript sehr sorgfältig zu lesen, und dass er wichtige Vorschläge gemacht hat. David Riesman und Stewart Meacham haben die Druckfahnen gelesen. Für ihre wichtigen Kritiken und Verbesserungen sei hier herzlich gedankt.

E. F.

 

1. Allgemeine Voraussetzungen

a) Veränderung durch vorausschauendes Handeln und Veränderung durch Katastrophen

Gesellschaften haben ihr eigenes Leben und gründen sich auf das Vorhandensein von bestimmten Produktivkräften, von gewissen geographischen und klimatischen Bedingungen, von Produktionsmethoden, von Ideen und Werten und auf einen bestimmten Typ des menschlichen Charakters, der sich unter diesen Bedingungen entwickelt. Sie sind so organisiert, dass sie in eben jener Gesellschaftsform, der sie sich angepasst haben, weiter leben wollen. Die Menschen jeder Gesellschaft glauben gewöhnlich, ihre Art zu leben sei die einzig natürliche und sei unvermeidlich. Sie sehen kaum eine andere Möglichkeit und neigen zu der Überzeugung, eine prinzipielle Veränderung ihrer Lebensweise müsse zu Chaos und Zerstörung führen. Sie sind allen Ernstes davon überzeugt, dass ihr Weg der einzig richtige und der von den Göttern und den Gesetzen der menschlichen Natur sanktionierte ist, sodass die einzige Alternative zur Fortsetzung der bestehenden speziellen Lebensform nur Destruktion sein kann. Dieser Glaube ist nicht einfach das Ergebnis eines ideologischen Drills, sondern im affektiven Teil des Menschen verwurzelt: Er gründet in seiner Charakterstruktur, die von sämtlichen gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen derart geprägt wird, dass der Mensch genau das zu tun wünscht, was er tun muss. Seine psychische Energie wird so kanalisiert, dass sie eben jener Funktion gerecht wird, die ein Mensch als nützliches Glied der Gesellschaft hat.[2] Da die Modelle des Denkens in den Modellen des Fühlens wurzeln, sind die Denkmodelle derart dauerhaft und gegen jegliche Veränderung resistent.

Dennoch verändern sich Gesellschaften. Viele Faktoren, wie neue Produktivkräfte, wissenschaftliche Entdeckungen, politische Eroberungen, Bevölkerungsexpansion usw., führen zu Veränderungen. Zu diesen objektiven Faktoren kommt hinzu, dass der Mensch sich seiner Bedürfnisse und seiner selbst in wachsendem Maße bewusst wird und dass er vor allem ein wachsendes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit hat. Auch hierdurch werden ständig Veränderungen in seiner historischen [V-049] Situation herbeigeführt, von der Lebensweise des Höhlenbewohners bis zum Weltraumfahrer der nahen Zukunft.

Wie aber kommt es zu diesen Veränderungen? Meistens entstanden sie gewaltsam auf Grund von Katastrophen. Führer wie Geführte der meisten Gesellschaften waren unfähig, sich freiwillig und friedlich völlig neuen Bedingungen anzupassen, indem sie durch vorausschauendes Handeln die notwendigen Veränderungen trafen.[3] Sie wollten lieber mit dem fortfahren, was sie gelegentlich poetisch als „Erfüllung ihrer Sendung“ bezeichneten, und versuchten, das Grundmuster ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens mit nur geringen Veränderungen und Abwandlungen beizubehalten. Selbst dann, wenn Umstände eintraten, die in völligem und flagrantem Widerspruch zu ihrer Gesamtstruktur standen, setzten solche Gesellschaften ihren Versuch blindlings fort, an ihrer Lebensweise festzuhalten, bis es schließlich nicht mehr ging. Dann wurden sie von anderen Völkern erobert und vernichtet, oder sie starben langsam aus, da sie nicht mehr in der Lage waren, ihr Leben in der gewohnten Weise weiterzuführen.

Die erbittertsten Gegner einer fundamentalen Veränderung waren stets die Eliten, die von der bestehenden Ordnung am meisten profitierten und daher nicht gewillt waren, ihre Privilegien freiwillig aufzugeben. Aber die materiellen Interessen der herrschenden und privilegierten Gruppen waren nicht der einzige Grund für die Unfähigkeit vieler Kulturen, die notwendigen Veränderungen durch vorausschauendes Handeln zu treffen. Eine andere, ebenso wichtige Ursache ist psychologischer Natur. Da Führer wie Geführte ihre Art zu leben gerne hypostasieren und verabsolutieren, kommt es zu einer starren Bindung an ihre jeweiligen Denkformen und Wertvorstellungen. Daher sehen sie sich bereits bei nur geringfügig abweichenden anderen Auffassungen in größte Verwirrung gestürzt und erblicken in ihnen feindliche, teuflische, wahnwitzige Angriffe auf das eigene „normale“, „gesunde“ Denken.

Für die Anhänger Cromwells waren die Papisten vom Teufel besessen; für die Jakobiner waren es die Girondisten, für die Amerikaner sind es die Kommunisten. Offenbar verabsolutiert der Mensch in jeder Gesellschaft die von seiner Kultur erzeugte Lebens- und Denkweise und ist eher bereit zu sterben als etwas zu verändern, da er die Veränderung mit dem Tod gleichsetzt. So ist die Menschheitsgeschichte ein Friedhof großer Kulturen, die in der Katastrophe endeten, weil sie sich als unfähig erwiesen zu einer geplanten, vernünftigen, freiwilligen Reaktion auf eine Herausforderung.

Dennoch gibt es in der Geschichte auch nicht-gewaltsame Veränderungen auf Grund vorausschauenden Handelns. Die Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrem Status, nur Objekt gewissenloser Ausbeutung zu sein, zu einem einflussreichen wirtschaftlichen Partner in der westlichen Industriegesellschaft, ist ein Beispiel für eine nichtgewaltsame Veränderung in den Klassenbeziehungen innerhalb einer Gesellschaft. Die Bereitschaft der britischen Labour-Regierung, Indien die Unabhängigkeit zu gewähren, bevor sie dazu gezwungen wurde, ist ein Beispiel im Bereich der internationalen Beziehungen. Aber solche vorausschauenden Lösungen waren in der bisherigen Geschichte eher die Ausnahme als die Regel. Zum religiösen Frieden kam es in Europa erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, in England erst nach gegenseitigen gewalttätigen und grausamen Verfolgungen, bei denen Papisten und Antipapisten einander in [V-050] nichts nachstanden. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg schloss man erst Frieden, nachdem auf beiden Seiten Millionen von Männern und Frauen sinnlos getötet worden waren, noch nachdem der Ausgang des Krieges bereits klar war. Wäre es nicht ein Gewinn für die Menschheit gewesen, wenn die schließlich erzwungenen Entscheidungen von beiden Seiten freiwillig akzeptiert worden wären, bevor sie erzwungen wurden? Hätte nicht ein vorausschauender Kompromiss schreckliche Verluste und eine allgemeine Brutalisierung verhindert?

Heute stehen wir wieder einmal vor einer schicksalhaften Entscheidung, eine gewaltsame Lösung zu suchen oder eine Lösung auf Grund vorausschauenden Handelns. Die Entscheidung kommt der zwischen allgemeiner Vernichtung oder fruchtbarem Wachstum unserer Zivilisation gleich. Unsere heutige Welt ist in zwei Blöcke aufgeteilt, die sich voller Hass und Misstrauen gegenüberstehen. Beide Blöcke sind in der Lage, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, dessen Größe unvorstellbar und unermesslich ist. (Schätzungen über die von den Vereinigten Staaten zu erwartenden Verluste variieren zwischen einem Drittel bis praktisch der Gesamtzahl der Bevölkerung für den Fall eines Atomkrieges; ähnliche Schätzungen gelten für die Sowjetunion.) Beide Blöcke sind bis zu den Zähnen bewaffnet und auf den Krieg vorbereitet. Sie misstrauen einander, und jeder verdächtigt den anderen, er wolle ihn überwältigen und vernichten. Das gegenwärtige Gleichgewicht von Misstrauen und Drohung auf der Basis eines destruktiven Potenzials kann noch eine Weile erhalten bleiben. Aber auf die Dauer sind die einzigen Alternativen entweder ein Atomkrieg mit all seinen Konsequenzen oder die Beendigung des Kalten Krieges. Dies setzt jedoch Abrüstung und politischen Frieden zwischen den beiden Blöcken voraus.

Die Frage ist, ob die Vereinigten Staaten (einschließlich ihrer westlichen Verbündeten) und die Sowjetunion sowie das kommunistische China jeder für sich ihren gegenwärtigen Kurs bis zum bitteren Ende weiterverfolgen müssen, oder ob beide Seiten vorausschauend gewisse Änderungen vornehmen und auf diese Weise zu einer Lösung gelangen, die historisch möglich ist und gleichzeitig jedem Machtblock optimale Vorteile bietet.

Die Frage ist im wesentlichen die gleiche, der sich auch andere Gesellschaften und Kulturen gegenübergestellt sahen: Ob wir fähig sind, unsere historischen Einsichten in politisches Handeln umzusetzen. (Vgl. R. L. Heilbronner, 1960.)

An dieser Stelle erhebt sich eine zusätzliche Frage: Was macht eigentlich eine Gesellschaft lebensfähig und was ermöglicht es ihr, auf Veränderungen richtig zu reagieren? Hierauf gibt es keine einfache Antwort, sicher ist jedoch, dass die Gesellschaft vor allem fähig sein muss, zwischen ihren primären Werten und ihren sekundären Werten und Institutionen zu unterscheiden. Dies ist deshalb schwierig, weil unsere sekundären Systeme sich ihre eigenen Werte schaffen, die mit der Zeit ebenso wesentlich erscheinen wie die menschlichen und sozialen Bedürfnisse, denen sie ihre Entstehung verdanken. In dem Maße wie das Leben der Menschen mit Institutionen, Organisationen, Lebensstilen, Produktions- und Konsumformen usw. verflochten ist, werden diese Menschen bereit sein, sich und andere für das Werk ihrer Hände zu opfern, ihre eigenen Schöpfungen in Idole zu verwandeln und diese Idole anzubeten. Außerdem erweisen sich Institutionen im allgemeinen als resistent gegen Veränderungen. Aus [V-051] diesem Grund fällt es Menschen, die sich diesen Institutionen eng verbunden fühlen, nicht leicht, vorausschauend zu verändern. Für eine Gesellschaft wie unsere gegenwärtige liegt das Problem daher darin, ob die Menschen die grundlegenden menschlichen und sozialen Werte unserer Zivilisation wieder zu entdecken vermögen und ob sie in der Lage sind, ihre Ergebenheit – um nicht zu sagen religiöse Verehrung – denjenigen ihrer institutionellen (oder ideologischen) Werte zu entziehen, die zu einem Hindernis geworden sind.

Ein großer Unterschied zwischen der Vergangenheit und unserer Gegenwart macht dies zu einem dringenden Problem. Die gewaltsame, nicht-vorausschauende Lösung wird in unserem Fall nicht zu einem schlechten Frieden führen, wie das 1919 oder 1945 für Deutschland der Fall war; sie wird nicht dazu führen, dass einige unserer Landsleute oder einige Russen in Gefangenschaft geraten, wie dies den vom Römischen Reich besiegten Völkerschaften widerfuhr, sondern es wird höchstwahrscheinlich zur physischen Vernichtung der meisten jetzt lebenden Amerikaner und Russen und zu einem barbarischen, entmenschlichten diktatorischen Regime über die Überlebenden führen. Diesmal ist die Wahl zwischen einem gewalttätig-irrationalen und einem vorausschauend-rationalen Verhalten eine Wahl, bei der es um die Menschheit und ihr kulturelles, wenn nicht gar physisches Überleben geht.

Bis jetzt sind die Chancen gering, dass es zu einem solchen rationalen vorausschauenden Handeln kommen wird. Und dies nicht etwa, weil es bei der realen Lage der Dinge keine Möglichkeit zu einem solchen Ausgang gäbe, sondern weil auf beiden Seiten eine Denkbarriere aus Klischeevorstellungen, ritualistischen Ideologien und einem guten Teil allgemeinem Wahnsinn errichtet wurde, welche die Menschen – Führer wie Geführte – daran hindert, klar und realistisch zu erkennen, wie die Dinge liegen, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden und alternative Lösungen zur Gewalt zu suchen. Eine solche vernünftige, vorausschauende Politik erfordert vor allem eine kritische Überprüfung unserer Vorstellungen – beispielsweise vom Wesen des Kommunismus, von der Zukunft der Entwicklungsländer, vom Wert der Abschreckung zur Vermeidung eines Krieges. Sie erfordert auch eine ernsthafte Überprüfung unserer eigenen Vorurteile und gewisser halb pathologischer Denkformen, die unser Verhalten bestimmen.

b) Historische Ursprünge der gegenwärtigen Krise und Aussichten für die Zukunft

Nach einem Prozess von rund tausend Jahren vom Beginn der Feudalisierung des Römischen Reiches bis zum ausgehenden Mittelalter – einem Zeitraum, in dem Europa durch das Christentum von den Ideen des griechischen, hebräischen und arabischen Denkens durchdrungen wurde –, entstand eine neue Kultur. Der westliche Mensch entdeckte die Natur als ein Objekt intellektueller Spekulation und ästhetischen Genusses; er schuf eine neue Naturwissenschaft, die innerhalb weniger Jahrhunderte zur Grundlage für eine Technik wurde, welche die Natur und das praktische Leben des Menschen auf eine Weise umformen sollte, wie er sich dies bis dahin nicht hätte [V-052] träumen lassen. Er entdeckte sich als ein Individuum, das mit fast unbegrenzten Energien und Kräften ausgestattet war.

Die neue Epoche erzeugte auch die neue Hoffnung auf einen besseren, ja vollkommenen Menschen. Die Hoffnung, dass der Mensch bereits auf dieser Erde vollkommen sein und eine „gute Gesellschaft“ errichten könnte, gehört zu den ganz charakteristischen und einzigartigen Merkmalen westlichen Denkens. Es ist eine Hoffnung, welche sowohl die Propheten des Alten Testaments wie die griechischen Philosophen erfüllte. Sie wurde dann von den transhistorischen Idealen der Erlösung und der vom christlichen Denken propagierten Vorstellung von der wesensmäßigen Verderbtheit des Menschen überschattet – wenn sie auch nie ganz verlorenging. Neuen Ausdruck fand sie in den Utopien des sechzehnten und siebzehnten und in den philosophischen und politischen Ideen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.

Parallel zum Aufleben einer neuen Hoffnung nach der Renaissance und der Reformation verlief die explosionsartige wirtschaftliche Entwicklung des Westens, die erste industrielle Revolution. Organisatorisch nahm sie die Form des kapitalistischen Systems an, das durch Privatbesitz in Bezug auf die Produktionsmittel, durch die Existenz politisch unabhängiger Lohnempfänger und die Regulierung sämtlicher ökonomischer Aktivitäten nach dem Prinzip der Kalkulation und der Maximierung des Profits gekennzeichnet ist. 1913 war die industrielle Produktion siebenmal so groß wie 1860 und war fast ausschließlich in Europa und Nordamerika lokalisiert. (Weniger als 10 Prozent der Weltproduktion kamen nicht aus diesen beiden Bereichen.)

Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist die. Menschheit in eine neue Phase eingetreten. Die kapitalistische Produktionsweise hat eine tief greifende wesensmäßige Veränderung erfahren. Neue Produktivkräfte (Verwendung von Öl, Elektrizität und Atomenergie) sowie technische Entdeckungen haben die materielle Produktivität im Vergleich zu den Verhältnissen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts um ein Vielfaches erhöht.

Die neuen technischen Entdeckungen brachten eine neue Form der Produktion mit sich. Diese war gekennzeichnet durch die Zentralisierung in großen Fabrikbetrieben, durch die dominierende Position der großen Unternehmen, durch von Managern geleitete Bürokratien, die diese Unternehmen verwalten, sie aber nicht besitzen, und durch eine Produktionsweise, bei der Hunderttausende von Arbeitern und Büroangestellten reibungslos zusammenarbeiten. Dabei werden sie von starken Gewerkschaften gestützt, die oft denselben bürokratischen Aufbau haben wie die großen Konzerne. Zentralisation, Bürokratisierung und Manipulation sind die charakteristischen Merkmale der neuen Produktionsform.

Die Anfangsperiode der industriellen Entwicklung, in der es darum ging, die Schwerindustrie auf Kosten der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Arbeiter aufzubauen, führte zu einer extremen Verarmung der Millionen von Männern, Frauen und Kindern, die im neunzehnten Jahrhundert in den Fabriken arbeiteten. Als Reaktion auf ihre Not, aber auch als Ausdruck des Glaubens an die Würde des Menschen verbreitete sich die sozialistische Bewegung über ganz Europa und drohte die alte Ordnung zu stürzen und durch eine andere zu ersetzen, die sich zum Wohl der breiten Massen auswirken würde. [V-053]

Die Organisation der Arbeit in Verbindung mit dem technischen Fortschritt und die sich daraus ergebende größere Produktivität verschafften der Arbeiterklasse einen ständig wachsenden Anteil am Nationalprodukt. An die Stelle äußerster Unzufriedenheit mit dem System, wie sie für das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnend war, trat nun ein Geist der Kooperation innerhalb des kapitalistischen Systems. Eine neue Partnerschaft entwickelte sich zwischen der Industrie und den in den Gewerkschaften organisierten Arbeitern, und es entstanden (außer in den Vereinigten Staaten) starke sozialistische Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg war es in Europa – außer in Russland, dem wirtschaftlich rückständigsten Land unter den Großmächten – mit der Tendenz zu gewaltsamen Revolutionen zu Ende.

Während die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen innerhalb der westlichen Industrienationen (und langsam auch in Russland) wesentlich schmaler geworden ist, ist die Kluft zwischen den „reichen Ländern“ von Europa und Nordamerika einerseits und den „armen Ländern“ in Asien (mit Ausnahme Japans), in Afrika und Lateinamerika so groß, wie sie vormals innerhalb eines Landes war, und wird ständig noch größer. Aber während die Kolonialvölker zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Ausbeutung und Armut hinnahmen, erleben wir jetzt um die Mitte dieses Jahrhunderts den Befreiungskampf dieser armen Länder. Genauso wie die Arbeiter innerhalb des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert sich weigerten, noch weiterhin daran zu glauben, dass ihr Schicksal eine göttliche Fügung oder eine unabänderliche soziale Gegebenheit sei, so weigern sich jetzt die armen Völker, ihre Armut hinzunehmen. Sie fordern nicht nur politische Freiheit, sondern einen mit dem der westlichen Welt vergleichbaren Lebensstandard und zur Erreichung dieses Zieles eine rasche Industrialisierung. Zwei Drittel der Menschheit sind nicht mehr gewillt, eine Situation zu akzeptieren, in der ihr Lebensstandard nur zwischen 10 bis weniger als 5 Prozent des Lebensstandards des reichsten Landes – der Vereinigten Staaten – liegt, welche mit nur 6 Prozent der Weltbevölkerung heute etwa 40 Prozent der Güter dieser Welt produzieren.

Die koloniale Revolution wurde von vielen Faktoren beschleunigt, unter anderem von der Schwächung Europas auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet nach den beiden Weltkriegen; außerdem von der nationalistischen und revolutionären, aus dem Europa des neunzehnten Jahrhunderts überkommenen Ideologie, sowie von den neuen Produktionsformen und der sozialen Organisation, die den Slogan, „den Westen einzuholen“, zu einer realen Möglichkeit machte.

China, das sich die kommunistische Ideologie und die wirtschaftlichen und sozialen Methoden von Sowjetrussland entlieh, ist zum ersten Kolonialland geworden, welches spektakuläre wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen hat und eine der großen Weltmächte zu werden beginnt, indem es durch Beispiel, Überredung und wirtschaftliche Unterstützung versucht, zum Anführer der kolonialen Revolution in Asien, Afrika und Lateinamerika zu werden.

Während die Sowjetunion seit 1923 endgültig die Hoffnung auf eine Arbeiterrevolution im Westen aufgegeben und seitdem tatsächlich versucht hat, alle westlichen revolutionären Bewegungen zu reglementieren, hatte sie auf Unterstützung durch die nationalistischen Revolutionen im Osten gehofft. Nachdem sie jedoch inzwischen [V-054] selbst zu den „reichen“ Nationen gehört, fühlt sie sich von dem wachsenden Ansturm der unterentwickelten Länder unter Führung Chinas bedroht und erstrebt eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten, ohne indessen aus dieser Verständigung eine Allianz gegen China machen zu wollen.

In jeder Beschreibung der Haupttendenzen der Geschichte des Westens in den letzten vierhundert Jahren würde ein wesentliches Element fehlen, wollte man den tief greifenden Wandel auf geistigem Gebiet außer Acht lassen. Während der Einfluss des christlichen theologischen Denkens seit dem siebzehnten Jahrhundert dahinschwand, fand die gleiche spirituelle Wirklichkeit, die zuvor in den Vorstellungen dieser Theologie zum Ausdruck gekommen war, einen neuen Ausdruck in philosophischen, historischen und politischen Formulierungen. Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts waren, wie Carl Becker (1932) dargelegt hat, nicht weniger Männer des Glaubens als die Theologen des dreizehnten Jahrhunderts. Sie drückten ihr Erlebnis nur in einem anderen begrifflichen Rahmen aus. Das explosionsartige Anwachsen des Reichtums und der technischen Möglichkeiten im neunzehnten Jahrhundert brachte eine fundamentale Veränderung in der Einstellung der Menschen mit sich. Nicht nur war „Gott tot“, wie Nietzsche verkündete, der Humanismus, den die Theologen des dreizehnten Jahrhunderts – genau wie die Philosophen des achtzehnten – vertraten, verkümmerte langsam. Zwar bediente man sich auch weiterhin der Formeln und Ideologien von Religion und Humanismus, aber das echte Erlebnis dahinter wurde immer dünner, bis es schließlich fast jede Realität verlor. Es war, als ob der Mensch sich an seiner eigenen Macht berauschte und die materielle Produktion, die einst ein Mittel zum Zweck eines menschenwürdigeren Lebens gewesen war, zum Selbstzweck gemacht hätte.

Großunternehmen, staatliche Intervention, Kontrolle der Produktionsmittel – die wichtiger wird als deren Besitz –, all das sind Kennzeichen unseres heutigen industriellen Systems. Das kapitalistische System des Westens besitzt zwar noch viele Merkmale des Kapitalismus des vorigen Jahrhunderts, hat aber so viele der neuen Kennzeichen in sich aufgenommen, dass es sich gegenüber dem früheren System stark verändert hat. Die drei heute bekannten Formen des Sozialismus, die weit drastischer mit der Kontinuität der früheren ökonomischen Phase gebrochen haben, weisen in unterschiedlichem Grad und mit unterschiedlicher Betonung die neuen Tendenzen auf: 1. der Chruschtschowismus, ein System einer völlig zentralisierten Planwirtschaft und Verstaatlichung von Industrie und Landwirtschaft; 2. der chinesische Kommunismus, besonders seit 1958, ein System der totalen Mobilisierung seines wichtigsten Aktivpostens, seiner sechshundert Millionen Menschen bei einer totalen Manipulation ihrer physischen und emotionalen Energie und Gedanken ohne Rücksicht auf ihre Individualität; 3. der humanistische Sozialismus, dessen Ziel es ist, ein unumgängliches Minimum an Zentralisation, staatlicher Intervention und Bürokratie mit einer größtmöglichen Dezentralisation und möglichst viel Individualismus und Freiheit zu vereinigen. Dieser dritte Typ des Sozialismus ist in verschiedenen Formen von Skandinavien bis Jugoslawien, Burma und Indien zu finden.

Aufgrund der Erkenntnis dieser historischen Tendenzen möchte ich folgende These aufstellen, bzw. mit Beispielen erhärten: Die Sowjetunion unter Führung [V-055] Chruschtschows ist ein konservatives, staatlich kontrolliertes Industrie-Managertum und kein revolutionäres System; sie ist interessiert an Gesetz und Ordnung und darauf bedacht, sich gegen den revolutionären Ansturm der Nationen der Besitzlosen zu verteidigen. Aus diesem Grund sucht Chruschtschow die Verständigung mit den USA, die Beendigung des Kalten Krieges und eine weltweite Abrüstung. Er will weder den Krieg, noch kann er ihn brauchen. Chruschtschow kann jedoch seine kommunistisch-revolutionäre Ideologie nicht aufgeben und sich auch nicht gegen China wenden, ohne sein eigenes System zu unterminieren. Daher muss er vorsichtig manövrieren, um das russische Volk ideologisch im Griff zu behalten und sich sowohl gegen seine Gegner innerhalb Russlands wie auch gegen China und dessen potenzielle Verbündete von außerhalb verteidigen zu können. Falls sein Versuch, den Kalten Krieg mit dem Westen zu beenden, scheitert, wird er (oder sein Nachfolger) in ein enges Bündnis mit China und in eine Politik hineingedrängt werden, bei der nur wenig Hoffnung auf Frieden bleibt.

Die Entwicklung der früheren Kolonialvölker wird sich anders gestalten als die kapitalistische Entwicklung, weil für sie dieses System aus psychologischen, sozialen und ökonomischen Gründen weder durchführbar noch attraktiv ist. Die Frage lautet nicht, ob sie sich dem kommunistischen oder dem kapitalistischen System anschließen werden. Die wirkliche Alternative ist, ob sie die chinesische oder die russische Form des Kommunismus annehmen und auf diese Weise mit dem einen oder dem anderen dieser beiden Länder in enge Verbindung treten werden, oder ob sie eine der verschiedenen Formen des demokratischen, dezentralisierten Sozialismus annehmen und zu Verbündeten des neutralen Blocks werden, wie er von Tito, Nasser und Nehru repräsentiert wird.

Die Vereinigten Staaten stehen deshalb vor der Alternative, entweder unter Fortsetzung des Wettrüstens weiter gegen den Kommunismus zu kämpfen – mit der sich daraus ergebenden Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges – oder auf der Basis des Status quo eine politische Verständigung mit der Sowjetunion, eine allgemeine Abrüstung (unter Einschluss Chinas) und die Unterstützung neutraler demokratisch-sozialistischer Regime in der kolonialen Welt anzustreben. Letztgenannte Lösung würde zu einer multi-polaren Welt führen, die aus dem westlichen Block unter Führung der Vereinigten Staaten und Europas, aus dem Sowjetblock unter Führung der Sowjetunion, aus China, aus dem demokratisch-sozialistischen Block unter jugoslawisch-indischer Führung und dem Block anderer neutraler Nationen außerhalb der oben angeführten Gruppen bestünde. Tatsache bleibt, dass die beiden von Russland-China und von den Vereinigten Staaten-Westeuropa repräsentierten Systeme in der heutigen Welt miteinander konkurrieren. Jeder Versuch eines dieser Systeme, das andere mit Waffengewalt zu besiegen, wird nicht nur fehlschlagen, sondern zur Vernichtung beider Systeme führen. Es gibt für die Vereinigten Staaten nur eine Möglichkeit, mit dem Kommunismus zu konkurrieren, nämlich zu zeigen, dass es möglich ist, den Lebensstandard in den Entwicklungsländern bis zu einem Grad anzuheben, der mit dem durch totalitäre Methoden erreichten vergleichbar wäre, ohne Methoden einer Zwangsreglementierung anzuwenden.

Ob eine Welt mit vielen Zentren möglich sein wird, hängt vom Akzeptieren des [V-056] gegenwärtigen Status quo durch alle Mächte und von einer wirksamen allgemeinen Abrüstung ab. Die durch das atomare Wettrüsten verursachte Spannung und das hierdurch erzeugte Misstrauen erlauben keine politische Verständigung; die ungelöste politische Situation erlaubt keine Abrüstung. Sowohl Abrüstung als auch politische Verständigung sind aber notwendig, wenn der Frieden erhalten bleiben soll.

Um diese Schritte aber zu ermöglichen, sind zuvor einige andere Schritte notwendig:

  1. Psychologische Abrüstung, Beendigung des hysterischen Hasses und Misstrauens unter den Hauptprotagonisten, die bisher ein realistisches und objektives Denken auf beiden Seiten sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich gemacht haben. (Eine solche psychologische Abrüstung bedeutet nicht, dass man seine politischen und philosophischen Überzeugungen aufgibt oder auf das Recht verzichtet, an anderen Systemen Kritik zu üben. Im Gegenteil ist sie einer solchen Kritik und der Verfechtung der eigenen Überzeugungen nur förderlich, weil diese dann nicht mehr von Hass bestimmt sind und nicht mehr dazu dienen, den Kampfgeist zu schüren.)
  2. Massive Wirtschaftshilfe in Gestalt von Nahrungsmitteln, Kapital und technischer Unterstützung für die Entwicklungsländer, die nur möglich sein wird, wenn das Wettrüsten aufhört.
  3. Die Stärkung und Neuorganisierung der Vereinten Nationen in der Weise, dass diese Organisation in die Lage versetzt wird, die internationale Abrüstung zu überwachen und eine Wirtschaftshilfe großen Stils für die Entwicklungsländer zu organisieren.

Verwandt mit dieser Alternative in der Außenpolitik ist eine andere, die kaum weniger wichtig ist. Die Vereinigten Staaten haben genau wie der Westen (und Russland), als sie die Armut besiegten und zu Reichtum gelangten, einen Geist des Materialismus angenommen, bei dem Produktion und Konsum zum Selbstzweck wurden, anstatt das Leben menschlicher und kreativer zu machen. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit eingebüßt, zwischen diesen institutionellen, zweitrangigen Zielen und Werten und den primären Zielen des Lebens zu unterscheiden. Ganz abgesehen von allen Gefahren, die uns von außen drohen, wird unsere innere Leere und unsere tief eingewurzelte Hoffnungslosigkeit schließlich zum Untergang der westlichen Zivilisation führen, falls nicht eine echte Renaissance des westlichen Geistes an die Stelle der gegenwärtigen Gleichgültigkeit, Resignation und Verwirrung tritt. Diese Renaissance müsste genau das sein, was die Renaissance des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts war – eine belebende Erneuerung der humanistischen Prinzipien und Bestrebungen der westlichen Kultur.

Um noch einmal zusammenzufassen: Was wir heute erleben, ist im wahrsten Sinn des Wortes eine rasch voranschreitende Weltrevolution, eine Revolution, welche vor vierhundert Jahren im Westen begonnen hat. Sie führte zu einem neuen Produktionssystem, das zunächst Europa und Amerika zu den führenden Nationen der Welt machte. Es machte aus den arbeitenden Massen in Europa Nutznießer des Systems, wodurch die Revolution der Massen in Europa (mit Ausnahme Russlands) und in Nordamerika friedlich war. Augenblicklich entwickelt sich ein neues Stadium der Weltrevolution, die Revolution der unterentwickelten Länder in Asien, Afrika und [V-057] Lateinamerika. Die Frage ist, ob diese Revolution ebenfalls friedlich verlaufen wird, wozu die Möglichkeit zu bestehen scheint, falls die großen Industriemächte den historischen Trend akzeptieren, sich zu adäquaten vorausschauenden Schritten zu entschließen. Tun sie dies nicht, werden sie der kolonialen Revolution keinen Einhalt gebieten können, selbst wenn es ihnen einen kurzen historischen Augenblick lang gelingen sollte, sie zurückzuschlagen. Aber bei einem solchen Versuch, die koloniale Revolution hinauszuschieben, werden zwischen den beiden sich mit Atomwaffen gegenüberstehenden Großmächten Spannungen entstehen, die uns kaum eine Hoffnung auf Frieden und auf ein Überleben der Demokratie lassen.

c) Gesundes und pathologisches Denken in der Politik

Die Idee, dass die Sowjetunion ein konservativer und kein revolutionärer Staat ist, und dass die demokratisch-sozialistische Entwicklung der unterentwickelten Länder von den Vereinigten Staaten nicht bekämpft, sondern begrüßt werden sollte, steht zu der diesbezüglichen Meinung der meisten im Widerspruch. Dieser Widerspruch ist nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein emotionaler. Je nach der Einstellung des Lesers klingen solche Gedanken ketzerisch, unsinnig oder subversiv. Daher erscheinen mir einige Bemerkungen über den bei diesen Reaktionen wirksamen psychologischen Mechanismus angebracht, damit man das, was ich in den nächsten Kapiteln zu sagen habe, besser versteht.

Die eigene Gesellschaft und Kultur zu verstehen, ist genau wie das Verständnis des eigenen Ich Aufgabe der Vernunft. Aber die Hindernisse, welche die Vernunft zu überwinden hat, um die eigene Gesellschaft zu verstehen, sind nicht geringer als die ungeheuren Hindernisse, die – wie Freud gezeigt hat – den Weg zum Verständnis von uns selbst blockieren. Diese von Freud als „Widerstand“ bezeichneten Hindernisse beruhen keineswegs auf intellektuellen Mängeln oder fehlender Information. Sie beruhen vielmehr auf emotionalen Faktoren, die unsere Denkinstrumente derart stumpf machen oder verformen, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr taugen. In jeder Gesellschaft sind sich die meisten der Existenz dieser Verformung nicht bewusst. Sie bemerken eine Entstellung nur dann, wenn es sich um eine Abweichung von der Einstellung der Mehrheit handelt. Andererseits sind sie davon überzeugt, dass die Meinungen der Mehrheit vernünftig und „gesund“[4] sind. (Vgl. E. Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 52.) Das ist ein Irrtum. Genauso wie es eine folie à deux gibt, gibt es auch einen Wahn von Millionen, und ein Konsens im Irrtum verwandelt den Irrtum noch nicht in Wahrheit. Spätere Generationen können Jahre nach dem Ausbruch des Massenwahns die Verrücktheit einer solchen Einstellung klar erkennen, obwohl sie von fast allen geteilt wurde. So kommen einem erst nach langer Zeit gewisse extreme psychische Reaktionen, etwa die auf den Schwarzen Tod im Mittelalter, die Hexenjagden zur Zeit der Gegenreformation, der religiöse Hass in England im siebzehnten Jahrhundert oder der Hass gegen die „Hunnen“ im Ersten Weltkrieg wie pathologische Erscheinungen vor. Im allgemeinen ist man sich jedoch des pathologischen Charakters von vielem, was unter dem Begriff „Denken“ läuft, im Augenblick des [V-058] Geschehens kaum bewusst. Ich möchte auf den nächsten Seiten einige der wichtigsten Formen des pathologischen Denkens im Bereich der Innen- und vor allem der Außenpolitik skizzieren, weil ich es für äußerst wichtig halte, dass wir über ein einwandfreies Instrumentarium verfügen, wenn es gilt, die politischen Ereignisse unserer Zeit zu verstehen.

Ich beginne mit der Beschreibung einer der extremen Formen pathologischen Denkens, dem paranoiden Denken. Die Psychiater – wie auch die meisten Laien – kennen den Fall des an paranoischen Wahnideen leidenden Menschen. Jemand, der zu uns sagt, dass jeder „hinter ihm her“ sei, dass seine Kollegen, Freunde, ja selbst seine Frau sich verschworen hätten, ihn umzubringen, wird von den meisten als wahnsinnig erkannt. Aus welchem Grund? Offensichtlich nicht deshalb, weil die Beschuldigungen, die er äußert, unmöglich wären. Es könnte ja sein, dass seine Feinde, seine Bekannten und sogar seine Familie sich zusammengetan hätten, um ihn umzubringen; so etwas kommt tatsächlich vor. Wir können dem unglücklichen Patienten, wenn wir bei der Wahrheit bleiben wollen, nicht sagen, was er da vermute, sei unmöglich. Wir können nur argumentieren, es sei höchst unwahrscheinlich, und dies deshalb, weil solche Dinge sich im allgemeinen nur selten ereignen und weil der Charakter seiner Frau und der seiner Freunde es besonders unwahrscheinlich mache.

Trotzdem werden wir den Patienten nicht überzeugen. Seine Realität gründet sich auf die logische Möglichkeit und nicht auf Wahrscheinlichkeit. Eben diese Einstellung liegt seiner Krankheit zugrunde. Sein Zugang zur Realität ruht auf der schmalen Basis ihrer Vereinbarkeit mit den Gesetzen des logischen Denkens und bedarf keiner Untersuchung der realistischen Wahrscheinlichkeit. Der Paranoiker bedarf ihrer nicht, weil er zu einer solchen Untersuchung gar nicht in der Lage ist. Wie bei jedem psychotischen Patienten ist auch bei ihm der Kontakt mit der Realität äußerst dünn und brüchig. Realität ist für ihn hauptsächlich das, was in seinem eigenen Inneren existiert, seine eigenen Emotionen, Ängste und Wünsche. Die Außenwelt ist der Spiegel oder die symbolische Repräsentation der inneren Welt.

Im Gegensatz zum Schizophrenen ist jedoch bei vielen Paranoikern ein Aspekt des gesunden Denkens erhalten: die Frage nach dem logisch Möglichen. Sie haben nur den anderen Aspekt, den der realistischen Wahrscheinlichkeit, fallengelassen. Wenn etwas nur möglich zu sein braucht, um wahr zu sein, ist Gewissheit leicht zu erlangen. Muss aber etwas wahrscheinlich sein, so gibt es nur Weniges, dessen man unbedingt gewiss sein kann. Das ist es, was das paranoide Denken so „attraktiv“ macht trotz der Leiden, die es verursacht. Es erspart uns den Zweifel und garantiert uns ein Gefühl der Gewissheit, das in den meisten Fällen stärker ist als bei Einsichten, zu denen uns gesundes Denken hinführen kann.

Es fällt nicht schwer, paranoides Denken im individuellen Fall eines paranoischen Psychotikers zu erkennen. Aber paranoides Denken dann zu erkennen, wenn es von Millionen geteilt und von den Autoritäten, die sie führen, gebilligt wird, ist schwieriger. Dies trifft zum Beispiel auf die herkömmlichen Ansichten über Russland zu. Heutzutage denken die meisten Amerikaner über Russland auf paranoide Weise, indem sie sich nämlich fragen, was möglich ist und nicht, was wahrscheinlich ist. Natürlich ist es möglich, dass Chruschtschow uns gewaltsam überwältigen will. Es ist [V-059] möglich, dass er Friedensvorschläge macht, um uns über die Gefahr hinwegzutäuschen. Möglich ist auch, dass seine ganze Argumentation mit den chinesischen Kommunisten über Koexistenz nur ein Trick ist, um uns glauben zu machen, er wolle den Frieden, und um uns dann umso besser überraschen zu können. Wenn wir nur an Möglichkeiten denken, haben wir in der Tat keine Chance für ein realistisches und vernünftiges politisches Handeln.

Gesundes Denken bedeutet, nicht nur an Möglichkeiten zu denken, die in der Tat immer relativ leicht zu erkennen sind, sondern auch Wahrscheinlichkeiten zu erwägen. Das heißt, dass man die realen Situationen untersucht, um das vermutliche Verhalten des Gegners bis zu einem gewissen Grade voraussagen zu können, und dies mit Hilfe einer Analyse aller Faktoren und Motivationen, die sein Verhalten beeinflussen könnten. Um mich ganz klar auszudrücken: Wenn ich hier gesundes Denken dem paranoiden gegenüberstelle, ist damit nicht behauptet, dass die Russen nicht alle die erwähnten verborgenen irreführenden Pläne haben könnten. Ich möchte nur nachdrücklich darauf hinweisen, dass wir die Tatsachen gründlich und ohne Emotionen untersuchen sollten und dass die logische Möglichkeit als solche nichts beweist und wenig bedeutet.

Ein anderer pathologischer Mechanismus, der einem realistischen und wirksamen Denken im Wege steht, ist der Mechanismus der Projektion. Wenn er in individuellen Fällen in seinen gröberen Formen auftaucht, sind wir alle mit diesem Mechanismus vertraut. Jeder kennt den feindseligen, destruktiven Menschen, der allen anderen Feindseligkeit vorwirft und sich selbst für ein unschuldiges Opfer hält. Tausende von Ehen bestehen auf der Basis dieses projektiven Mechanismus. Jeder Partner beschuldigt den anderen dessen, was in Wirklichkeit sein eigenes Problem ist, wodurch er es fertigbringt, völlig mit dem Problem des Partners ausgefüllt zu sein, anstatt sich seinem eigenen zu stellen. Aber auch in diesem Fall wird das, was im Einzelfall leicht zu erkennen ist, nicht gesehen, wenn der gleiche projektive Mechanismus von Millionen geteilt und von ihren Führern unterstützt wird. So glaubte beispielsweise im Ersten Weltkrieg die Bevölkerung der Alliierten, die Deutschen seien gemeine Hunnen, die unschuldige kleine Kinder umbrächten; sie seien eine wahre Personifikation alles Bösen, ja sogar die Musik von Bach und Beethoven wurde in das Reich des Teufels verbannt. Andererseits kämpften diese Ankläger der Hunnen selbst nur für die edelsten Ziele, für Freiheit, für Frieden, für Demokratie und so weiter. Merkwürdigerweise nur hatten die Deutschen genau dieselbe Meinung von den Alliierten. Was ist das Resultat? Der Feind erscheint als die Verkörperung alles Bösen, weil ich alles Böse, das ich in mir selbst verspüre, auf ihn projiziere. Logischerweise halte ich mich, nachdem das geschehen ist, für die Verkörperung alles Guten, weil ich das Böse auf die andere Seite übertragen habe. Das Resultat ist Empörung und Hass gegen den Feind und eine unkritische narzisstische Selbstglorifizierung. Hieraus kann eine Stimmung entstehen, die durch eine allgemeine Manie und durch gemeinsamen leidenschaftlichen Hass gekennzeichnet ist. Es ist dies jedoch eine pathologische Einstellung, die gefährlich ist, wenn sie zum Krieg führt, und die tödlich ist, weil dieser Krieg Vernichtung bedeutet.

Unsere Einstellungen dem Kommunismus, der Sowjetunion und dem [V-060] kommunistischen China gegenüber verkörpern ein solches projektives Denken. Tatsächlich war das stalinistische Terrorsystem unmenschlich, grausam und empörend, wenn auch der Terror nicht schlimmer war als in einer Anzahl von Ländern, die wir als frei bezeichnen – z.B. nicht schlimmer als der Terror eines Rafael Leónidas Trujillo oder eines Fulgenico Batista.

Ich möchte mit dieser nicht-kommunistischen Grausamkeit oder Gefühllosigkeit keineswegs das Regime Stalins beschönigen, denn natürlich heben sich Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten nicht gegenseitig auf. Ich erwähne sie nur, um zu zeigen, dass die Empörung vieler Leute gegen Stalin nicht so echt ist, wie sie glauben mögen. Wäre sie es, so wären sie genauso empört über andere Fälle von Grausamkeit und Gefühllosigkeit, ob deren Urheber nun zufällig zu ihren politischen Gegnern gehören oder nicht. Aber, was wesentlicher ist, das Regime Stalins ist vorüber. Russland ist heute ein konservativer Polizeistaat, der keineswegs etwas Wünschenswertes ist, wenn man Freiheit und Individualität liebt, aber der in uns auch nicht jene tiefe menschliche Empörung wecken sollte, die das stalinistische System verdiente. Tatsächlich ist es nur zu begrüßen, dass das russische Regime von einem grausamen Terrorismus zu den Methoden eines konservativen Polizeistaates übergegangen ist. Auch kommen mir jene Freiheitsverfechter nicht ganz aufrichtig vor, die ihren Hass auf die Sowjetunion besonders lautstark verkünden und dabei die beträchtliche Wandlung, die sich dort vollzogen hat, kaum bemerkt zu haben scheinen.

Es gibt immer noch viele, die weiterhin den Kommunismus für den Inbegriff des Bösen und uns, die freie Welt, einschließlich solcher Verbündeter wie Franco, für die Verkörperung alles Guten halten. Das Resultat ist das narzisstische und unrealistische Bild vom Westen als dem alleinigen Verfechter des Guten, der Freiheit und Humanität, und des Kommunismus als des Feindes alles Humanen und Ehrbaren. Die kommunistischen Chinesen unterliegen demselben Mechanismus besonders in ihrer Auffassung vom Westen.

Vermischt sich die Projektion mit paranoidem Denken, wie dies während eines Krieges und auch im „Kalten Krieg“ der Fall ist, so haben wir es in der Tat mit einem gefährlich explosiven psychologischen Gemisch zu tun, das ein gesundes und vorausschauendes Denken verhindert.

Die Erörterung des pathologischen Denkens wäre unvollständig, wenn wir nicht einen weiteren Typus des Pathologischen berücksichtigten, der im politischen Denken eine große Rolle spielt – den Fanatismus. Was versteht man unter einem Fanatiker? Woran erkennt man ihn? Weil heute eine echte Überzeugung so rar geworden ist, neigen wir dazu, jeden als „Fanatiker“ zu bezeichnen, der mit tiefem Glauben einer geistigen oder wissenschaftlichen Überzeugung verbunden ist, die radikal von der Meinung anderer abweicht und noch nicht bewiesen ist. Wäre dem so, so wären die größten und kühnsten Menschen wie Buddha, Jesaja, Sokrates, Jesus, Galilei, Darwin, Marx, Freud und Einstein ganz gewiss alle „Fanatiker“ gewesen.

Die Frage, wer ein Fanatiker ist, kann man oft nicht nach dem Inhalt einer Behauptung beantworten. So kann man beispielsweise die Richtigkeit des Glaubens an den Menschen und seine Möglichkeiten verstandesmäßig nicht beweisen, auch wenn er tief im echten Erleben dessen verwurzelt ist, der glaubt. Andererseits ist beim [V-061] wissenschaftlichen Denken das Stadium der Aufstellung einer Hypothese oft vom Beweis noch recht weit entfernt, und der Wissenschaftler muss an seine Idee glauben, bis er zum Stadium des Beweises gelangen kann. Allerdings gibt es viele Behauptungen, die in deutlichem Widerspruch zu den Gesetzen des rationalen Denkens stehen, und jeden, der unerschütterlich daran glaubt, kann man mit Recht als einen Fanatiker bezeichnen. Aber oft fällt es nicht leicht zu entscheiden, was irrational ist und was nicht, und weder ein „Beweis“ noch die allgemeine Zustimmung sind ausreichende Kriterien dafür.

Tatsächlich erkennt man den Fanatiker leichter an gewissen Eigenschaften seiner Persönlichkeit als am Inhalt seiner Überzeugung. Die wichtigste und im allgemeinen auch leicht erkennbare Persönlichkeitseigenschaft des Fanatikers ist eine Art „kaltes Feuer“, eine Leidenschaftlichkeit, die gleichzeitig ohne Wärme ist. Der Fanatiker steht in keiner Beziehung zur Welt außerhalb seiner selbst. Niemand und nichts liegt ihm wirklich am Herzen, auch wenn er vielleicht Anteilnahme als wichtigen Bestandteil seines „Glaubens“ proklamiert. Das kalte Funkeln in seinen Augen sagt uns oft mehr über den Fanatismus in seinen Ideen als die offensichtliche „Unvernünftigkeit“ der Ideen selbst.

Theoretisch gesprochen ist der Fanatiker eine stark narzisstische Persönlichkeit, die ohne Kontakt mit der Außenwelt lebt. Er hat für nichts ein echtes Gefühl, da dieses stets das Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen uns selbst und der Welt ist. Die Pathologie des Fanatikers ähnelt der eines Depressiven, der nicht an seiner Traurigkeit leidet (dies wäre eine Erleichterung für ihn), sondern an seiner Unfähigkeit, überhaupt etwas zu empfinden. Der Fanatiker unterscheidet sich von der depressiven Persönlichkeit dadurch, dass er einen Ausweg aus der akuten Depression gefunden hat. Er hat sich ein Idol, ein Absolutum aufgebaut, dem er sich völlig unterwirft, während er sich selbst gleichzeitig zu einem Bestandteil desselben macht. Er handelt, denkt und fühlt dann im Namen seines Idols, oder, besser gesagt, er hat die Illusion, eine innere Erregung zu „empfinden“, während er in Wirklichkeit kein echtes Gefühl aufbringt. Er lebt in einem Zustand narzisstischer Erregung, da er das Gefühl seiner Isolation und Leere in einer völligen Unterwerfung unter das Idol und in der gleichzeitigen Vergottung seines eigenen Ich ertränkt hat, das er zu einem Bestandteil des Idols gemacht hat. Er ist leidenschaftlich in seiner abgöttischen Unterwerfung und seiner Grandiosität, gleichzeitig ist er jedoch kalt und zu einer echten Bezogenheit und einem echten Gefühl unfähig. Man könnte seine Haltung symbolisch mit „brennendem Eis“ vergleichen. Er wird andere besonders dann täuschen, wenn sein Idol Liebe, Brüderlichkeit, Gott, Erlösung, Vaterland, Rasse, Ehre und dergleichen zum Inhalt hat anstatt unverhüllter Destruktivität, Feindseligkeit oder unverhohlenem Eroberungsdrang. Aber für die menschliche Wirklichkeit macht es kaum einen Unterschied, welcher Art sein Idol ist. Der Fanatismus ist stets das Resultat der Unfähigkeit zu echter Bezogenheit. Der Fanatiker ist deshalb so verführerisch und daher politisch so gefährlich, weil er den Eindruck macht, ganz intensiv zu fühlen und vollständig überzeugt zu sein. Ist es verwunderlich, dass es ihm gelingt, so viele mit seinem gefälschten Glauben und Gefühl anzuziehen, wo wir doch alle uns nach Gewissheit und leidenschaftlichem Erleben sehnen? [V-062]

Paranoides, projektives und fanatisches politisches Denken sind im wahren Sinne pathologische Denkformen, die sich von der Pathologie im herkömmlichen Sinn nur durch die Tatsache unterscheiden, dass politische Gedanken nicht auf ein oder zwei Individuen beschränkt sind, sondern von einer größeren Gruppe von Menschen geteilt werden. Diese pathologischen Formen des Denkens sind jedoch nicht die einzigen, die den Weg zu einer richtigen Auffassung der politischen Wirklichkeit blockieren. Es gibt noch andere Formen des Denkens, die man vielleicht nicht als pathologisch bezeichnen sollte, die jedoch genauso gefährlich sind, vielleicht nur aus dem Grunde, weil sie noch verbreiteter sind. Ich meine hier insbesondere das unauthentische, automatenhafte Denken. Dabei handelt es sich um einen einfachen Prozess: Ich halte etwas für wahr; nicht deshalb, weil ich durch eigenes Nachdenken, welches sich auf eigene Beobachtung und Erfahrung gründet, darauf gekommen bin, sondern weil man es mir „suggeriert“ hat. Beim automatenhaften Denken kann ich die Illusion haben, es handle sich um meine eigenen Ideen, während ich sie tatsächlich deshalb übernommen habe, weil sie mir von Instanzen präsentiert wurden, die in der einen oder anderen Form eine Autorität sind.

Die moderne Manipulation des Denkens, ob es sich um kommerzielle Werbung oder politische Propaganda handelt, bedient sich der suggestiv-hypnoiden Techniken, die in den Menschen Gedanken und Gefühle erzeugen, ohne dass es diesen bewusst wird, dass „ihre“ Gedanken nicht ihre eigenen sind. Die Kunst der Gehirnwäsche, in der die Chinesen es zu einer gewissen Perfektion gebracht zu haben scheinen, ist eigentlich nur eine extreme Form der hypnoiden Suggestion. Mit der zunehmenden Geschicklichkeit in den suggestiven Techniken wird echtes Denken mehr und mehr durch automatenhaftes Denken ersetzt, doch bleibt dabei die große Illusion vom freiwilligen und spontanen Charakter unserer Gedanken weithin erhalten.

Es ist bemerkenswert, wie rasch Gruppen den unechten Charakter des Denkens bei ihren Gegnern, aber nicht bei sich selbst erkennen. So berichten beispielsweise amerikanische Touristen nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion von der Uniformität des dortigen politischen Denkens. Anscheinend stellt jeder dort die gleichen Fragen. Von: „Wie ist das mit der Lynchjustiz im Süden?“ bis zu: „Weshalb brauchen die Vereinigten Staaten so viele Militärbasen rings um die Sowjetunion, wenn die Amerikaner friedliche Absichten haben?“

Die Russlandreisenden, die von dieser Uniformität der Meinungen berichten, sind sich meist nicht klar darüber, dass die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten kaum weniger uniform ist. Die Mehrzahl der Amerikaner nimmt eine Anzahl von Klischees als gegebene Tatsachen hin, etwa, dass die Russen die Welt für den revolutionären Kommunismus erobern wollen, dass sie, weil sie nicht an Gott glauben, keine den unseren ähnliche Moralbegriffe haben usw. Hinzu kommt, dass in den Vereinigten Staaten die Klischeemeinungen keineswegs nur auf die unteren Bevölkerungsschichten beschränkt sind. Wieweit das auch auf die Sowjetunion zutrifft, kann ich natürlich nicht einmal vermuten. In Amerika werden diese Klischeevorstellungen auch von amtierenden Politikern, Intellektuellen und Zeitungs- und Radiokommentatoren geteilt, die an der Formulierung der praktischen Politik und an der Bildung der öffentlichen Meinung mitbeteiligt sind. [V-063]

Diese Art des unechten, automatenhaften Denkens führt zum „Doppeldenken“ (doublethink)[5], das George Orwell so glänzend als die Logik des totalitären Denkens beschrieben hat. „Doppeldenken“, sagt er in seinem Roman 1984 (G. Orwell, 1949, S. 32; dt. 1950, S. 44), „bedeutet das Vermögen, zwei widersprüchliche Überzeugungen im Kopf zu haben und beide zugleich zu akzeptieren“. Das russische Doppeldenken ist uns geläufig. Länder wie Ungarn und die DDR[6], deren Regierung unverkennbar gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung regiert, werden als „Volksdemokratien“ bezeichnet. Eine hierarchische Klassengesellschaft, die nach den strengen Richtlinien einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ungleichheit aufgebaut ist, heißt „klassenlose Gesellschaft“. Ein System, in dem die Macht des Staates in den letzten vierzig Jahren ständig gewachsen ist, soll angeblich zum „allmählichen Absterben des Staates“ führen. Aber das Phänomen des Doppeldenkens beschränkt sich keineswegs nur auf die Sowjets. Wir im Westen bezeichnen Diktaturen als „Teil der freien Welt“, wenn sie nur antirussisch eingestellt sind. Diktatoren wie Syngman Rhee, Tschiang Kai-schek, Franco, Salazar, Batista, um nur einige zu erwähnen, wurden als Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gepriesen, und die Wahrheit über ihr Regime wurde unterschlagen oder entstellt. Außerdem haben wir es zugelassen, dass Männer wie Tschiang, Rhee und Adenauer die amerikanische Außenpolitik beeinflussten und zeitweise modifizierten. Die amerikanische Öffentlichkeit ist falsch informiert über Korea, Formosa, Laos, den Kongo und Deutschland, und das in einem Maß, das in flagrantem Gegensatz zu unserem Bild von uns selbst als einer gut informierten Bevölkerung mit einer freien Presse steht. (Nachweise hierzu liefert W. J. Lederer, 1961. Er behandelt folgende Kapitel: „Der Betrug über Laos“; „Was man uns über Formosa nicht sagt“; „Was man uns über Korea nicht sagt“; außerdem berichtet er über die Rolle der „falschen Information“, der „Publicity“ und der „Geheimhaltung“ bei der Regierung der Vereinigten Staaten.) Wir nennen es Subversion, wenn die Russen antiamerikanische Propaganda betreiben, aber die Sendungen von „Radio Freies Europa“ nach Osteuropa sind keine Subversion. Wir proklamieren unsere Achtung vor der Unabhängigkeit aller kleinen Länder, aber wir unterstützen Versuche zum Sturz der Regierungen in Guatemala und Kuba. Wir sind entsetzt über den Terror der Russen in Ungarn, aber nicht über den der Franzosen in Algerien.

Pathologisches Denken und Doppeldenken sind nicht nur krankhaft und unmenschlich, sie gefährden auch unser Überleben. In einer Situation, in der eine falsche Beurteilung katastrophale Folgen haben kann, können wir uns pathologisches oder klischeehaftes Denken einfach nicht mehr leisten. Ein möglichst klares, realistisches Denken über die Weltlage, besonders in Bezug auf den Konflikt zwischen den Großmächten wird zu einer Sache von vitaler Notwendigkeit. Heute werden gewisse Meinungen stolz als „realistisch“ vertreten, während sie in Wirklichkeit ebenso phantastisch und unrealistisch sind wie einige der Pollyannischen Illusionen, gegen die sie sich wenden. Es gehört zu den Schwächen menschlicher Reaktionen, dass viele zu der Ansicht neigen, eine zynische, „harte“ Einstellung sei von vornherein „realistischer“ als eine objektive, komplexe und konstruktive. Offenbar glauben viele, nur der starke, mutige Mensch könne die Dinge einfach und relativ unkompliziert sehen oder [V-064] eine Katastrophe riskieren, ohne mit der Wimper zu zucken.[7] Sie vergessen, dass es oft fanatische, selbstgerechte und uneinsichtige Menschen sind, welche das, was C. W. Mills so richtig als „Crackpot-Realismus“ bezeichnet hat, mit einer vernünftigen Einschätzung der Wirklichkeit verwechseln.

Paranoides, projektives, fanatisches und automatenhaftes Denken sind verschiedene Formen von Denkprozessen, die alle in dem gleichen Phänomen wurzeln – in der Tatsache, dass die Menschheit noch nicht auf dem Entwicklungsniveau angelangt ist, das in den großen humanistischen Religionen und Philosophien zum Ausdruck kommt, die in Indien, China, Palästina, Persien und Griechenland zwischen 1500 v. Chr. und der Zeit Christi entstanden sind. Während die meisten Menschen in den Begriffen dieser religiösen Systeme und ihrer nicht-theologischen, philosophischen Nachfolger denken, befinden sie sich mit ihren Emotionen immer noch auf einer archaischen, irrationalen Stufe, welche sich nicht von der unterscheidet, die vor den Ideen des Buddhismus, des Judentums und des Christentums existierte. Noch immer beten wir Götzenbilder an. Wir nennen sie nicht mehr Baal oder Astarte, aber wir verehren unsere Götzen unter anderen Namen und unterwerfen uns ihnen.

Technisch und intellektuell leben wir in einem Atomzeitalter, emotional leben wir noch in der Steinzeit. Wir fühlen uns den Azteken überlegen, die an einem Festtag 20 000 Menschen ihren Göttern opferten, im Glauben, damit das Fortbestehen des Universums zu sichern. Wir opfern Millionen von Menschen unterschiedlichen Zielen, von denen wir annehmen, es seien edle Ziele, die das Gemetzel rechtfertigten. Aber die Tatsachen sind dieselben, es unterscheiden sich lediglich die Rationalisierungen. Trotz all seiner intellektuellen und technischen Fortschritte ist der Mensch noch immer befangen in der Verehrung seiner Götzen: der Bande des Blutes, des Besitzes und der Institutionen. Noch immer wird seine Vernunft von irrationalen Leidenschaften beherrscht. Noch immer hat er nicht gelernt, was es heißt, ganz Mensch zu sein. Noch immer haben wir zweierlei Wertmaßstäbe für die Beurteilung unserer eigenen Gruppe und für die Beurteilung der anderen Gruppen. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit bis zum heutigen Tage ist in Wirklichkeit sehr kurz und entspricht kaum dem Zeitraum von einer Stunde in einem menschlichen Leben. Es ist daher weder verwunderlich noch entmutigend, dass wir noch nicht bis zur Reife gelangt sind. Wer an die Fähigkeit des Menschen glaubt, das zu werden, was er potenziell ist, müsste nicht beunruhigt sein, hätte nicht die Diskrepanz zwischen der emotionalen und der intellektuell-technischen Entwicklung inzwischen derartige Ausmaße angenommen, dass uns Vernichtung oder eine neue Barbarei droht. Diesmal wird uns nur eine fundamentale und authentische Wandlung retten. [V-065]

Dennoch wissen wir wenig darüber, wie diese Wandlung zu bewerkstelligen ist – und die Zeit drängt so sehr. Wir müssen durch das Netz von Rationalisierungen, Selbsttäuschungen und Doppeldenken hindurchdringen. Wir müssen objektiv sein und die Welt und uns selbst realistisch und unentstellt durch Narzissmus und Xenophobien sehen. Freiheit existiert nur dort, wo Vernunft und Wahrheit herrschen. Archaische Stammesgefühle und Götzenverehrung gedeihen dort, wo die Stimme der Vernunft schweigt. Folgt hieraus nicht, dass es für die Erhaltung von Freiheit und Frieden von lebenswichtiger Bedeutung ist, die Wahrheit über die Tatsachen der Außenpolitik zu kennen?

 

2. Grundlagen des Sowjetsystems

Das Sowjetsystem hat für die meisten Amerikaner etwas Geheimnisvolles an sich, vermutlich genauso, wie es das kapitalistische System für die meisten Russen hat. Während die Russen den Kapitalismus als ein System von ausgebeuteten Lohnsklaven ansehen, die der Peitsche von Wall-Street-Bossen gehorchen, sind die Amerikaner der Ansicht, dass Russland von Menschen regiert wird, die einer Mischung aus Lenin und Hitler gleichen und darauf aus sind, sich die übrige Welt mit Gewalt oder List zu unterwerfen. Da sich unsere gesamte Außenpolitik auf die Idee gründet, dass die Sowjetunion die Welt gewaltsam unterwerfen will, ist es von größter Wichtigkeit, die Tatsachen zu überprüfen und sich ein klares, realistisches Bild des Sowjetsystems zu machen. Diese Aufgabe ist umso schwieriger, als sich das Sowjetsystem zwischen 1917 und heute grundlegend geändert hat. Es ist aus einem revolutionären System, das sich als Mittelpunkt der Welt und als Vorkämpfer der kommunistischen Revolution in Europa und schließlich in der ganzen Welt betrachtete, zu einer konservativen, industriellen Klassengesellschaft geworden, die in vieler Hinsicht ähnlich wie die „kapitalistischen“ Staaten des Westens gelenkt wird.

Diese Wandlung war jedoch nie durch einen offiziellen Bruch in der kontinuierlichen Entwicklung gekennzeichnet, da viele grundlegende Merkmale, wie zum Beispiel die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Idee der Planwirtschaft, die gleichen geblieben sind. Noch weit verwirrender als die Kontinuität gewisser ökonomischer Modelle ist die Kontinuität der Ideologie. Aus Gründen, die wir noch analysieren werden, haben Stalin und Chruschtschow mit religiöser Verehrung an den „marxistisch-leninistischen“ Formulierungen festgehalten und die Sprache von 1848 oder 1917 weitergesprochen, obgleich sie selbst für ein System stehen, das das genaue Gegenteil dessen ist, was Revolutionäre wie Marx oder Lenin im Sinn hatten.

Wir sollten tatsächlich eine größere Fähigkeit besitzen, den Unterschied zwischen ritualisierten ideologischen Formeln und der Wirklichkeit zu erkennen. Sind wir nicht selbst in eine ähnliche Diskrepanz hineingeraten, wenn wir von „individueller Initiative“ in einer Gesellschaft „organisierter Menschen“ oder von einer „gottesfürchtigen Gesellschaft“ sprechen, wo es uns doch hauptsächlich um Geld, Komfort, Gesundheit und Bildung geht und weniger um Gott? Trotzdem sind weder die Russen [V-067] noch wir Lügner, sodass ein Erkennen der Wirklichkeit noch schwieriger ist. Beide Seiten sind davon überzeugt, dass sie die Wahrheit reden, und sie begegnen einander in der Überzeugung, dass ihre eigenen Ideologien – und bis zu einem gewissen Grade selbst die ihres Gegners – Realitäten darstellen.

Ich habe die Absicht, in diesem Kapitel die üblichen Klischeevorstellungen zu durchbrechen, um zu einer realistischen Beurteilung des heutigen Sowjetsystems zu gelangen. Dabei werde ich die kurze revolutionäre Periode von 1917 bis 1922 mit der Umwandlung des Systems in das totalitäre Managertum Stalins und Chruschtschows vergleichen. Ich möchte den Versuch machen, ausführlich den nicht-sozialistischen und nicht-revolutionären Charakter des heutigen Sowjetsystems darzulegen, und außerdem möchte ich zeigen, dass die Sowjetführer seit der Machtergreifung Stalins nie mehr eine kommunistische Revolution im Westen zum Ziel hatten, sondern dass sie die kommunistischen Parteien zur Unterstützung der sowjetischen Außenpolitik benutzt haben.

a) Die Revolution – eine fehlgeschlagene Hoffnung

Die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit sozialistischer Hoffnungen. Diese Hoffnungen gründeten sich auf den unglaublichen Fortschritt der Naturwissenschaften und seine Auswirkung auf die Industrieproduktion, auf den Erfolg der bürgerlichen Revolutionen von 1789, 1830 und 1848, auf den zunehmenden Protest der Arbeiter und die Ausbreitung der sozialistischen Ideen. Marx und Engels waren wie viele andere Sozialisten davon überzeugt, dass der Zeitpunkt nahe bevorstehe, an dem die große Revolution ausbrechen würde, und dass binnen kurzem eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte anbrechen würde – dass, um mit F. Engels (MEW 22, S. 515) zu sprechen, alle Aussicht bestehe „für den Umschlag der Revolution der Minorität“ (wie es alle vorangehenden Revolutionen gewesen waren) „in die Revolution der Majorität“ (was er von der sozialistischen Revolution erwartete). Aber am Ende des Jahrhunderts musste Engels zugeben: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“ (F. Engels, MEW 22, S. 515).

Der Erste Weltkrieg markierte einen entscheidenden Wandel in der Geschichte des Sozialismus. Er bedeutete den Zusammenbruch zweier seiner bedeutsamsten Zielsetzungen: des Internationalismus und des Friedens. Bei Kriegsbeginn stellte sich jede sozialistische Partei auf die Seite ihrer eigenen Regierung und kämpfte im Namen der Freiheit gegen die anderen Sozialisten. An diesem moralischen Zerfall des Sozialismus war nicht sosehr der persönliche Verrat einiger Führer schuld als die Veränderung der allgemeinen ökonomischen und politischen Bedingungen. An die Stelle der nackten, gewissenlosen Ausbeutung der Arbeiter im neunzehnten Jahrhundert trat allmählich die Beteiligung der Arbeiterklasse am wirtschaftlichen Gewinn ihres Landes. Anstatt auf Grund der eigenen inneren Widersprüche funktionsunfähig zu werden, wie Marx es vorausgesagt hatte, erwies sich der Kapitalismus als gut [V-068] funktionierendes System, das weit besser mit Krisen und Schwierigkeiten fertig wurde, als es die radikalen Revolutionäre erwartet hatten. (Diese Faktoren trugen zur Entwicklung des „revisionistischen“ Flügels der sozialistischen Bewegung bei, dessen theoretischer Exponent E. Bernstein in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war.)

Es war der Erfolg des Kapitalismus, der zu einer Neuinterpretation des Sozialismus führte. Während die Vision von Marx und Engels die einer neuen Gesellschaftsform war, die den Kapitalismus überwinden würde – einer Gesellschaft, welche die volle Verwirklichung von Humanität und Individualität bringen würde –, begannen jetzt die meisten Anhänger des Sozialismus, diesen als eine Bewegung zu interpretieren, die den ökonomischen und politischen Aufstieg der Arbeiterklasse innerhalb des kapitalistischen Systems zum Ziel hatte. Während der marxistische Sozialismus im neunzehnten Jahrhundert die bedeutsamste geistige und moralische Bewegung des Jahrhunderts war, ihrem Wesen nach antipositivistisch und antimaterialistisch, wurde sie jetzt allmählich in eine rein politische Bewegung umgeformt, die im wesentlichen ökonomische Ziele verfolgte, wenn auch die älteren ethischen Ziele nie ganz verschwanden. Die Interpretation des Sozialismus mit den Kategorien des Kapitalismus veranlasste die sozialistischen Parteien zu einer neuen Art von Politik, deren Ziel nicht mehr die Erfüllung der von den Begründern des Sozialismus gehegten messianischen Hoffnungen, sondern der Wohlfahrtsstaat war.

Der Krieg von 1914 mit seiner sinnlosen Niedermetzelung von Millionen von Menschen aller Nationen um gewisser wirtschaftlicher Vorteile willen führte zu einem Wiederaufleben der früheren sozialistischen Einstellung gegen Krieg und Nationalismus in einer neuen lebendigen Form. Radikale Sozialisten in allen Ländern empfanden eine tiefe Empörung über den Krieg und wurden zu Anführern revolutionärer Bewegungen in Russland, Deutschland und Frankreich. Dabei stand die Radikalisierung der sozialistischen Bewegung in engem Zusammenhang mit der Zimmerwald-Bewegung, dem Versuch internationalistischer Sozialisten, den Krieg zu beendigen.

Die Februarrevolution in Russland gab diesen revolutionären Anführern neuen Auftrieb. Lenin hatte in Übereinstimmung mit der Theorie von Marx ursprünglich geglaubt, eine sozialistische Revolution hätte nur in einem hochentwickelten kapitalistischen Wirtschaftssystem wie dem deutschen Aussicht auf Erfolg. Er war der Meinung gewesen, ein weniger hochentwickeltes Land wie Russland müsse zunächst seine bürgerliche Revolution durchführen, bevor es zu einer sozialistischen Revolution voranschreiten könne. (Vgl. E. H. Carr, 1951, Band 2, S. 270.) Aus eben diesem Grund war auch die Mehrheit des Kommunistischen Zentralkomitees 1917 zunächst gegen die Machtergreifung. Dann aber trieben der wachsende Protest der Bauernsoldaten gegen den Krieg sowie die Unfähigkeit der zaristischen Regierung und ihrer revolutionären Nachfolger, den Krieg zu beenden und die russische Wirtschaft wiederaufzubauen, Lenin in die Oktoberrevolution. Lenin und Trotzki setzten ihre Hoffnungen auf eine deutsche Revolution, mit der sie beide binnen kurzem rechneten. Sie unterzeichneten den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem kaiserlichen Deutschland in der Erwartung, die deutsche Revolution werde bald losbrechen und den Friedensvertrag außer Kraft setzen. Aus der marxistischen Theorie zogen sie den Schluss, wenn ein hochindustrialisiertes Deutschland zu einem Sowjetstaat würde und [V-069] sich Russland anschlösse, das vorwiegend ein Agrarland war, dann hätte ein deutschrussisches Sowjetsystem eine gute Chance zu überleben und sich zu entwickeln. Genau wie Marx und Engels um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, so glaubten auch Lenin und Trotzki 70 Jahre später eine kurze Zeit lang, das sozialistische „Reich sei nahe gekommen“ und sie könnten die Grundlagen für eine echte sozialistische Gesellschaft legen.

Lenins Hoffnung erlebte Höhen und Tiefen. 1917 und 1918 erreichte sie ihren ersten Höhepunkt. In einer „Rede an die Bevölkerung“ vom 5. November 1917, also zehn Tage nach der Oktoberrevolution erklärte er (W. I. Lenin, Werke, Band 26, S. 295):

Nach und nach werden wir (...) fest und unbeirrt zum Sieg des Sozialismus voranschreiten, den die fortgeschrittenen Arbeiter der zivilisierten Länder verankern werden und der den Völkern einen dauerhaften Frieden und die Befreiung von jeglicher Unterdrückung und jeglicher Ausbeutung bringen wird.[8]

Als dann aber die neue deutsche Regierung eine starke Zurückhaltung bekundete, mit Russland diplomatische Beziehungen aufzunehmen, und als die deutschen Arbeiter dem russischen Beispiel nicht zu folgen schienen, kamen Lenin und Trotzki Zweifel. 1919 erweckte die Entstehung von Revolutionsräten in Bayern und Ungarn neue Hoffnungen, die jedoch bald wieder zerstört wurden, als diese Revolutionen niedergeschlagen wurden. Das Ansehen der Komintern und die Hoffnung der Kommunisten auf eine Weltrevolution waren im Sommer und Herbst 1920 auf dem Höhepunkt, als der russische Bürgerkrieg seinem Ende zuging und die Rote Armee vor den Toren Warschaus stand. (Vgl. E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 165°ff.) Der zweite Kongress der Komintern 1920 wurde in einer begeisterten revolutionären Stimmung abgehalten. Jedoch schon kurze Zeit danach kam es zu einer dramatischen Wendung, als die Rote Armee vor Warschau zurückgeschlagen wurde und der Aufstand der polnischen Arbeiter scheiterte. Die revolutionären Hoffnungen erlitten damals einen Schock, von dem sie sich nie mehr erholt haben. Als Lenin den Marsch auf Warschau anordnete, nachdem er den polnischen Angriff erfolgreich abgewehrt hatte, gab er sich seiner überschwänglichen Hoffnung auf die Weltrevolution hin, wobei er sich diesmal als weniger realistisch erwies als Trotzki, der (zusammen mit Marschall Tuchatschewski) von der Offensive gegen Warschau abgeraten hatte. Wieder einmal bewies die Geschichte, dass sich Revolutionäre in ihrer Einschätzung der revolutionären Möglichkeiten geirrt hatten. Lenin erkannte die Niederlage. Er räumte ein, dass der westliche Kapitalismus noch weit mehr Lebenskraft besaß, als er erwartet hatte, und er befahl und [V-070] organisierte den Rückzug, um zu retten, was noch zu retten war. Er startete die NÖP (Neue Ökonomische Politik) und führte damit in weiten Bereichen der russischen Wirtschaft den Kapitalismus wieder ein; er versuchte, ausländische Kapitalisten dazu zu überreden, in „Konzessionen“ innerhalb der Sowjetunion Kapital zu investieren; er suchte mit den westlichen Großmächten zu einer friedlichen Verständigung zu gelangen und unterdrückte gleichzeitig gewaltsam den Aufstand der Matrosen in Kronstadt, die aufbegehrten, weil sie die Revolution verraten sahen.

Ich werde der Versuchung widerstehen, an dieser Stelle die Irrtümer von Lenin und Trotzki und die Frage zu diskutieren, wieweit sie sich an die Lehren von Marx gehalten haben. Der Hinweis möge genügen, dass Lenins Auffassung, das wahre Interesse der Arbeiterklasse liege in den Händen einer Führerelite und könne nicht von der Mehrheit der Arbeiter wahrgenommen werden, nicht der Ansicht von Marx entsprach. Trotzki hat sich in den Jahren seiner Differenzen mit Lenin vor dem Ersten Weltkrieg ebenso dagegen gewandt wie Rosa Luxemburg, die unerschütterlichste und weitblickendste unter den marxistischen Revolutionsführern. Sie wurde durch deutsche Soldaten im Januar 1919 ermordet. Lenin sah nicht, was Rosa Luxemburg und viele andere erkannten, dass das zentralisierte bürokratische System, bei dem eine Elite für die Arbeiter regierte, schließlich zu einem System führen musste, bei dem es über die Arbeiter regierte, und dass sie damit den Untergang des Sozialismus in Russland beschleunigten. Aber worin auch immer die Unterschiede zwischen Marx und Lenin bestanden, Tatsache bleibt, dass die große Hoffnung zum zweiten Male gescheitert war. Diesmal jedoch befanden sich Lenin und Trotzki an der Macht, als es zu diesem Scheitern kam, und sie standen vor dem historischen Dilemma, wie sie eine sozialistische Revolution in einem Land durchführen sollten, in dem die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft nicht gegeben waren. Es blieb ihnen erspart, dieses Dilemma lösen zu müssen. Nach einem ersten Schlaganfall im Jahre 1922, der ihn mehr und mehr schwächte, starb Lenin im Januar 1924. Trotzkis Macht endete wenige Jahre später. Stalin, zu dem Lenin in den letzten Monaten vor seinem Tode alle persönlichen Beziehungen abgebrochen hatte, übernahm die Macht.

Lenins Tod und Trotzkis Sturz unterstrichen nur noch das Ende der Epoche der revolutionären Bewegungen in ganz Europa und damit aller Hoffnungen auf eine neue sozialistische Ordnung. Nach 1919 befand sich die Revolution auf dem Rückzug, und 1923 war nicht länger daran zu zweifeln, dass sie gescheitert war.

b) Stalins Umwandlung der kommunistischen Revolution in eine Manager-Revolution

Stalin, ein gerissener, zynischer Opportunist mit einer unersättlichen Machtgier, zog aus dem Scheitern der Revolution die Konsequenzen. Von seiner ganzen Persönlichkeit her kann der Sozialismus für ihn nie die Bedeutung der humanistischen Vision von Marx und Engels gehabt haben, und daher machte es ihm keine Skrupel, Russland unter dem Motto „Sozialismus in einem Land“ zwangsweise zu industrialisieren. Diese Formel war nur ein leicht zu durchschauender Deckmantel für das von ihm [V-071] angestrebte Ziel – den Aufbau eines totalitären Staats-Managertums[9] in Russland[10], und die zur Erreichung dieses Zieles notwendige rasche Kapitalanhäufung (und Mobilisierung menschlicher Energie).

Stalin hat die sozialistische Revolution im Namen des „Sozialismus“ liquidiert. Er bediente sich des Terrors, um die Menschen zu zwingen, die materiellen Entbehrungen auf sich zu nehmen, die durch den schnellen Aufbau der Grundindustrien auf Kosten der Produktion von Konsumgütern entstanden. Außerdem diente ihm der Terror dazu, eine neue Arbeitsmoral zu erzeugen, indem er die Energien einer Bevölkerung mobilisierte, die zum wesentlichen Teil in der Landwirtschaft tätig war, und sie zu zwingen, in einem Tempo zu arbeiten, das für diese rasche industrielle Ausweitung unerlässlich war. Vermutlich hat er sich des Terrors weit über das Ausmaß hinaus bedient, welches zur Durchführung seines ökonomischen Programms notwendig gewesen wäre, weil er von einem außerordentlichen Machthunger, einem paranoiden Argwohn gegen Rivalen und einer pathologischen Rachsucht besessen war.[11] (Ich werde noch darauf zurückkommen, wie er die kommunistische Bewegung in ein Werkzeug der russischen Außenpolitik umwandelte.)

Wenn Stalins Ziel ein hochindustrialisiertes, zentralisiertes russisches Staats-Managertum war, so konnte er das natürlich nicht offen aussprechen. Terror allein, selbst in seiner extremsten Form, hätte nicht genügt, die Massen zur Kooperation zu zwingen, wäre es Stalin nicht gelungen, den Willen und das Denken der Menschen zu beeinflussen. Natürlich hätte er auch eine totale Kehrtwendung machen und eine ideologische Gegenrevolution inszenieren können, indem er sich einer faschistisch-nationalistischen Ideologie bedient hätte. Er hätte auf diese Weise ideologische Mittel zur Verfügung gehabt, die zu ähnlichen Reaktionen geführt hätten. Er entschied sich nicht für diesen Kurs, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der einzigen Ideologie zu bedienen, die damals überhaupt einen Einfluss auf die Massen hatte – der Ideologie des Kommunismus und der Weltrevolution. Die Religion war ebenso wie der Nationalismus von der Kommunistischen Partei verächtlich gemacht worden. Der „Marxismus-Leninismus“ war die einzige anerkannte Ideologie. Darüber hinaus besaßen die Gestalten von Marx, Engels und Lenin für das russische Volk eine charismatische Anziehungskraft, und Stalin bediente sich dieses Charismas, indem er sich selbst als legitimen Nachfolger hinstellte. Um diesen ungeheuren historischen Betrug verüben zu können, musste er sich Trotzkis entledigen und schließlich fast alle alten [V-072] Bolschewiken ausrotten. Nur so konnte er für seine Umwandlung des sozialistischen Ziels in ein reaktionäres Staats-Managertum den Weg freimachen. Er musste die Geschichte neu schreiben, um selbst noch die Erinnerung an die alten Revolutionäre und ihre Ideen auszulöschen. Vielleicht riefen die alten Revolutionäre in ihm eine unbewusste paranoide Angst hervor, weil er durch seinen Verrat an den Idealen, deren Symbole sie waren, Schuld empfand.

Stalin erreichte sein Ziel, das nicht die Weltrevolution, sondern ein industrialisiertes Russland war, welches zur stärksten Industriemacht Europas, wenn nicht der ganzen Welt, werden sollte. Der wirtschaftliche Erfolg seiner Methode einer totalitären staatlichen Planung, wie sie Malenkow und Chruschtschow später mit gewissen Veränderungen weiterführten, wird heute nicht mehr bestritten. „Das Sowjetsystem mit seiner zentralisierten Wirtschaftslenkung hat sich mehr und mehr als mit der Marktwirtschaft der Vereinigten Staaten gleichrangig herausgeschält“ (W. S. Nutter, 1959, S. 118). Dieses Urteil wird durch das russische Industriewachstum bestätigt. (Vgl. die Berichte von W. S. Nutter, 1959, S. 118, und von M. Bornstein sowie von W. W. Rostow, ebenda; ferner N. E. Kaplan und R. H. Moorsteen, 1960.) Obwohl die Schätzungen der verschiedenen amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler variieren, sind doch die Meinungsunterschiede relativ geringfügig. Bornstein schätzt die jährliche Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts in der Sowjetunion zwischen 1950 und 1958 auf 6,5 bis 7,5 Prozent bei 2,9 Prozent in den Vereinigten Staaten. Kaplan und Moorsteen nehmen für den gleichen Zeitraum eine Wachstumsrate der russischen Industrie von 9,2 Prozent an. R. W. Campell (1960, S. 51) spricht von einer gegenwärtigen Wachstumsrate in der Sowjetunion von 6 Prozent. Betrachtet man die jährliche Wachstumsrate seit 1913, das heißt über einen Zeitraum, der auch die Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg mitumfasst, so ergeben sich natürlich völlig andere Zahlen. Nach W. S. Nutter (1959, S. 100) beträgt die Wachstumsrate des nicht-militärischen Industrieaufkommens von 1913 bis 1955 in der Sowjetunion nur 4,2 Prozent im Vergleich zu 5,3 Prozent während der letzten vierzig Jahre im zaristischen Russland. (Es ist uneinsichtig, dass die beträchtlichen Investitionen ausländischen Kapitals in die zaristische Wirtschaft berücksichtigt werden. Genau wie später China, so musste auch Sowjetrussland fast seine gesamte Wirtschaft aus eigenen Mitteln finanzieren.) Demgegenüber betrug die sowjetische Wachstumsrate zwischen 1928 und 1940 (also in einer Friedensphase) 8,3 Prozent und zwischen 1950 und 1955 sogar 9,0 Prozent. Sie war damit doppelt so hoch wie die in den Vereinigten Staaten im gleichen Zeitraum, und etwas weniger als doppelt so hoch wie im zaristischen Russland. (Siehe auch die Vergleiche bezüglich der Schätzungen verschiedener amerikanischer Volkswirtschaftler hinsichtlich der Wachstumsrate in den Ausführungen von Kaplan und Moorsteen.) W. S. Nutter (1959, S. 119) schließt daraus für die nächste Zukunft: „Es scheint ziemlich sicher, dass das Industriewachstum in der Sowjetunion schneller vorangehen wird als in den Vereinigten Staaten, falls es in keinem der beiden Länder zu radikalen institutionellen Veränderungen kommt, (während) es zweifelhafter ist, ob das Industriewachstum in der Sowjetunion schneller vorangehen wird als in den sich rasch ausweitenden westlichen Wirtschaftsbereichen wie zum Beispiel der Bundesrepublik, [V-073] Frankreich und Japan.“ Nutter bezweifelt jedoch, dass das Sowjetsystem auf lange Sicht ein schnelleres Wachstum erreichen wird als das System der Privatwirtschaft. Im Gegensatz zur Industrieproduktion ist die russische Agrarproduktion weit hinter den Planzahlen zurückgeblieben und stellt noch immer eines der schwierigsten Probleme des sowjetischen Systems dar.

Für den Konsum schätzt man das jährliche Wachstum unter Berücksichtigung der Bevölkerungszunahme auf etwa 5 Prozent, wobei der Verbrauch der Landbevölkerung in der letzten Zeit gestiegen ist. (Vgl. L. Turgeon, 1959, S. 319°ff.) L. Turgeon meint: „Was die Ernährung und Kleidung betrifft, so haben die Sowjets die beste Chance, unseren Lebensstandard zu erreichen“ (L. Turgeon, 1959, S. 335), während die Vereinigten Staaten bezüglich der Automobile und anderer langlebiger Verbrauchsgüter und mit ihren Ausgaben für Dienstleistungen und Reisen weit an der Spitze liegen.

Stalin hat die Grundlagen für ein neues, industrialisiertes Russland gelegt. In einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren hat er das ökonomisch rückständigste Land unter den europäischen Großmächten in ein Industriesystem verwandelt, das bald zum ökonomisch fortgeschrittensten und reichsten werden könnte und nur hinter den Vereinigten Staaten zurückbliebe. Er erreichte dieses Ziel durch eine erbarmungslose Vernichtung von Menschenleben und menschlichem Glück, durch eine zynische Verfälschung der sozialistischen Ideen und durch eine Unmenschlichkeit, die – gemeinsam mit der Hitlers – das Gefühl für Menschlichkeit in der übrigen Welt untergraben hat. Lässt man jedoch die Frage außer acht, ob dieses Ziel auch auf eine weniger unmenschliche Weise zu erreichen gewesen wäre, so bleibt die Tatsache bestehen, dass er seinen Erben ein lebensfähiges und starkes wirtschaftliches und politisches System hinterlassen hat. Viele Merkmale des Stalinismus sind unverändert erhalten geblieben – andere haben sich verändert. Im Folgenden will ich die Grundlagen der sowjetischen Gesellschaft von heute zu beschreiben versuchen.

c) Das System Chruschtschows
1. Das Ende des Terrors

Der augenfälligste neue Faktor, durch den sich das System Chruschtschows von dem Stalins unterscheidet, ist die Aufhebung des Terrors. War der Terror in einem System unumgänglich, in dem die Massen hart arbeiten mussten, ohne eine entsprechende materielle Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erhalten, so konnte er reduziert werden, sobald die Arbeiter die Früchte ihrer Arbeit ernten und auf mehr Lebensfreude hoffen konnten. Auch waren Stalins Nachfolger selbst traumatisiert durch den aberwitzigen Terror, den dieser während der letzten Jahre seiner Herrschaft ausgeübt hatte und der jeden aus der obersten Führung täglich mit dem Tod bedroht hatte. Wahrscheinlich existierte in der obersten russischen Führung ein psychologisches Phänomen ähnlich dem in Frankreich vor dem Sturz Robespierres, das zusammen mit den obenerwähnten Gründen zu dem Entschluss führte, den Terror abzuschaffen.

Alle Berichte aus Russland bestätigen, dass das System des Terrors heute nicht mehr [V-074] existiert. Die Sklavenarbeitslager, die unter Stalin nicht nur Terroreinrichtungen, sondern auch eine Quelle für billige Arbeitskräfte waren, wurden aufgelöst. Willkürliche Verhaftungen und Strafen wurden abgeschafft. Man könnte den Staat Chruschtschows vom Aspekt der politischen Freiheit her mit einem reaktionären Polizeistaat des neunzehnten Jahrhunderts vergleichen, der sich wohl nicht allzu sehr vom zaristischen System unterschied. Aber dieser Vergleich wäre doch irreführend, nicht nur wegen der offensichtlichen Unterschiede beider Systeme hinsichtlich ihrer ökonomischen Struktur, sondern auch aus einem anderen, komplexeren Grund. Die politische Freiheit wird als Problem erst dort manifest, wo es bei grundlegenden Strukturfragen der Gesellschaft zu beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten kommt. Im zaristischen Russland stand die Mehrheit der Bevölkerung – Bauern, Arbeiter und Mittelstand – in Opposition zum System, und das System griff zu Unterdrückungsmaßnahmen, um seine eigene Existenz zu sichern. Andererseits besteht Grund zu der Annahme, dass es dem System Chruschtschows gelungen ist, die Mehrheit der Sowjetbürger für sich zu gewinnen. Es gelang ihm dies teils dank der realen ökonomischen Bedürfnisbefriedigung, die man derzeit beobachten kann, außerdem wegen der berechtigten Hoffnungen auf weit größere Verbesserungen in der Zukunft sowie wegen der erfolgreichen ideologischen Manipulation der inneren Einstellung der Bevölkerung.

Aus allen Berichten scheint relativ eindeutig hervorzugehen, dass die meisten Russen davon überzeugt sind, dass das System recht gut funktioniert, sodass sie auf eine bessere Zukunft hoffen und sich über größere Möglichkeiten zu Bildung und Lebensgenuss freuen können. Sie haben nur noch vor einem Angst: vor dem Krieg. Wenn sie das System kritisieren, dann kritisieren sie es in Einzelpunkten, wie es gehandhabt wird, seinen Bürokratismus oder die minderwertige Qualität von Konsumgütern, doch sie kritisieren nicht das System als solches. Ganz sicher möchten sie es nicht durch ein System wie den Kapitalismus ersetzt wissen.

Zweifellos war die Situation unter Stalins Schreckensherrschaft völlig anders. Die erbarmungslose Willkür seines Terrors bedrohte einen jeden, ob hoch oder niedrig, mit Gefangenschaft oder physischer Vernichtung, nicht nur wenn er einen Fehler gemacht hatte, sondern auch auf Grund von Denunziationen, Intrigen usw. Aber mit dem Terror ist es heute vorbei, und die Dinge haben sich geändert. Die meisten Amerikaner beurteilen die Situation in Russland insofern falsch, als sie sich selbst in die Rolle des Antikommunisten in Russland hineindenken und sich überlegen, bis zu welchem Grade ihre eigene freie Meinungsäußerung dann behindert würde. Sie vergessen, dass – von Schriftstellern und Sozialwissenschaftlern abgesehen – der russische Bürger hierzu kaum das Bedürfnis empfindet. Daher ist auch das Problem der politischen Freiheit für ihn weit weniger real, als es sich vom amerikanischen Standpunkt aus darstellt. (Ein Russe dürfte ähnliche Gefühle wie ein Amerikaner hegen, wenn er sich die Behinderungen und Risiken vorstellt, denen er als Kommunist in den Vereinigten Staaten ausgesetzt wäre.)

All das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass das Russland Chruschtschows ein Polizeistaat ist, in welchem die Freiheit des Einzelnen, eine abweichende Meinung zu vertreten und die Regierung und die Auffassung der [V-075] Mehrheit zu kritisieren, weit geringer ist als in den westlichen Demokratien. Außerdem wird es nach vielen Jahren hemmungslosen Terrors noch Jahre in Anspruch nehmen, um den Rest der durch den Terror erzeugten Angst und Einschüchterung zu beseitigen. Alles in allem bedeutet das System Chruschtschows hinsichtlich der politischen Freiheit eine beträchtliche Verbesserung gegenüber der stalinistischen Ära.

In engem Zusammenhang mit dem Verschwinden des Terrorsystems steht auch eine Veränderung bezüglich der Führungsmethoden in Russland. Stalins Herrschaft war ein Ein-Mann-Regime ohne jede ernsthafte Beratung mit Mitarbeitern und ohne etwas, was man im weitesten Sinn als Diskussion oder Mehrheitsregierung bezeichnen könnte. Es ist klar, dass ein solches Ein-Mann-Regime über eine terroristische Gewalt verfügen musste, mit der der Diktator jeden treffen konnte, der es wagte, sich dagegen aufzulehnen. Seit der Liquidierung Berijas wurde die Macht der terroristischen Staatspolizei erheblich eingeschränkt, und keiner der russischen Führer seit Stalins Tod hat eine diktatorische Stellung eingenommen, die mit der Stalins vergleichbar wäre. Es sieht jetzt so aus, als müsse der Führer, wer immer er auch sei, die oberste Parteispitze von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugen und als gäbe es in der Führungsspitze so etwas wie Diskussion und Mehrheitsbeschlüsse. Alle Ereignisse der letzten Jahre zeigen deutlich, dass Chruschtschow seine Politik gegen Gegner verteidigen muss, dass er Erfolge aufweisen muss, um sich an der Spitze halten zu können und dass er sich tatsächlich in gewisser Weise in einer Lage befindet, welche nicht allzu sehr von der eines Staatsmannes im Westen abweicht, der von der politischen Bildfläche verschwinden würde, wenn er ständig politische Fehler beginge.

2. Die sozio-ökonomische Struktur

Das auffälligste Merkmal einer sozialistischen Wirtschaft ist die Tatsache, dass es bei den Produktionsmitteln keinen Privatbesitz gibt und dass alle Unternehmen von einer vom Staat ernannten Manager-Bürokratie verwaltet werden. (Natürlich gibt es genau wie in den Vereinigten Staaten Privateigentum an Konsumgütern, an Häusern, Möbeln, Automobilen und persönlichen Ersparnissen wie zum Beispiel Bankguthaben und Staatspapiere. Der Unterschied liegt nur darin, dass man keine Fabrik und keine Geschäftsanteile bei einer größeren Firma besitzen kann – ein Unterschied, der nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Bedeutung wäre. Nach R. L. Heilbronner (1960, S. 125) sind in den Vereinigten Staaten vier Fünftel aller Industrieanteile, die sich im Besitz einzelner Personen befinden dürfen, im Besitz von 1 Prozent der Familien.) Das sowjetische Volk und die Führer glauben, der marxistische Sozialismus sei dadurch gekennzeichnet, dass die Unternehmen im Besitz des Staates sind und von ihm geführt werden. Darum halten sie ihr System für Sozialismus. Wir werden später noch darauf zu sprechen kommen, ob diese Behauptung berechtigt ist oder nicht, wobei zu bemerken sein wird, dass die derzeitigen Entwicklungen im Sowjetsystem in mancher Hinsicht mehr den Tendenzen im Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts verwandt sind als dem Sozialismus. Eine Gesamtplanung, wie sie 1928 zum ersten Mal durch Stalins Fünfjahresplan eingeführt [V-076] wurde, liefert der Sowjetideologie einen weiteren Grund, ihr System als ein sozialistisches zu bezeichnen. Der Gesamtplan (Gosplan) wird nach intensiver Beratung über eine große Menge von Einzeldaten zentral für die UdSSR in Moskau aufgestellt. Im Gegensatz zu dem relativ freien Markt in den westlichen Ländern wird bei dieser Planung darüber entschieden, was zu produzieren ist und in welchem Tempo dies zu geschehen hat. Bis 1957 waren die verschiedenen Moskauer Industrieministerien die zentralen Autoritäten für die jeweils ihrer Verwaltung unterstehenden Einzelindustrien. Chruschtschow hat dieses zentralisierte System abgeschafft, das über zwanzig Jahre lang bestanden hatte, und einen Dezentralisationsprozess eingeleitet, in dem er die Ministerien durch regionale Wirtschaftsräte ersetzte.

Diese Räte übernahmen in den verschiedenen Regionen der Sowjetunion die Funktion der Ministerien. Es gibt innerhalb der Sowjetunion über hundert solcher Räte. Sie ernennen die Spitzenfunktionäre (oder bestätigen deren Ernennung) in den ihnen unterstellten Unternehmen, bestimmen das Produktionsprogramm „ihrer“ Industrien (wenn auch innerhalb des Rahmens des Gesamtplans), beteiligen sich an der Festsetzung der Preise und Produktionsmethoden und der Beschaffung von knappem Material, führen Qualitätskontrollen durch usw. Die Kontrolle dieser Wirtschaftsräte über die verschiedenen ihrer Kontrolle unterstehenden Industrien wird durch Unterabteilungen, die sogenannten „Hauptverwaltungen“, durchgeführt, die ihrerseits die einzelnen Unternehmen kontrollieren, deren Leitung in den Händen ihrer Manager liegt.

Wer sind nun aber diese Verwalter, die in den regionalen Räten, den Hauptverwaltungen und den einzelnen Unternehmen arbeiten? (Vgl. zum Folgenden D. Granick, 1960.)

Die meisten haben eine akademische Ausbildung genossen (tatsächlich handelt es sich um einen größeren Prozentsatz als in den Vereinigten Staaten), wobei der größere Teil ein technisches und der kleinere Teil ein betriebswirtschaftliches Studium absolviert hat. Weitaus die meisten sind Mitglieder der Kommunistischen Partei. (Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass die Kommunistische Partei in Russland keine Massenpartei sein will, sondern die Elite derer repräsentiert, die nach den höchsten Stellungen streben und zu den größten Anstrengungen bereit sind; tatsächlich sind nur etwa 4 Prozent der Gesamtbevölkerung Parteimitglieder.) Der Leiter eines Unternehmens verdient (einschließlich der Sonderzulagen) zwischen fünf- und zehnmal soviel wie ein Arbeiter, je nach Größe und Art des Betriebs.

Wollten wir die Situation in Amerika damit vergleichen, so müsste der Leiter eines amerikanischen Unternehmens im Jahr 22 000 Dollar verdienen, wenn er im gleichen Verhältnis zum Arbeiter stehen wollte. Eine 1957 in kleinem Rahmen durchgeführte Untersuchung amerikanischer Firmen hat ergeben, dass „die Spitzenmanager in Firmen mit unter 1 000 Angestellten jährlich im Durchschnitt 28 000 Dollar an Gehalt und Sondervergütungen verdienten“ (D. Granick, 1960, S. 41°f.). Diese Zahlen sind nur schwer miteinander zu vergleichen, da einerseits die Preise für die Konsumgüter in der Sowjetunion relativ höher sind als in den USA, während andererseits die Mieten in der Sowjetunion viel niedriger und die Sozialleistungen wiederum höher sind als in den Vereinigten Staaten. So sind die Einkommensunterschiede zwischen [V-077] Managern und Arbeitern in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten nicht allzu groß.

Eine besonders wichtige Rolle spielt das Bonussystem, das Sonderzulagen von 50 bis 100 Prozent des Einkommens eines Managers einbringt und den wichtigsten Anreiz für eine optimale Produktion darstellt. (Oft liegt bei diesem System allerdings der Nachdruck auf der Quantität und nicht auf der Qualität – was zur Produktion minderwertiger Konsumgüter führt.) So stellen die Manager eine soziale Gruppe dar, die sich in Bezug auf Einkommen, Konsum und Autorität von den Arbeitern genauso unterscheidet, wie in irgendeinem kapitalistischen Lande des Westens. Nach vielen Berichten zu urteilen sind die Klassen- und Statusunterschiede sogar noch schärfer ausgeprägt als in den Vereinigten Staaten.

Es gibt noch ein weiteres charakteristisches Merkmal der Managergruppe. Für D. Granick geht aus Daten aus der Sowjetunion hervor, dass dort bereits in den dreißiger Jahren eine beträchtliche soziale Stabilität erreicht war.

Leider hören die entsprechenden Statistiken in den dreißiger Jahren auf. (...) Auch sind die Daten bezüglich der elterlichen Berufe nur in drei Kategorien, in Arbeiter, Bauern und Büroangestellte aufgefächert. Trotzdem sprechen auch diese Daten eine recht deutliche Sprache. Es geht aus ihnen hervor, dass die Chancen des Sohnes eines Büroangestellten, eines Akademikers oder Geschäftsinhabers, in den Vereinigten Staaten ins Top-Management zu gelangen, [1952] achtmal so groß sind wie die von Söhnen von Handarbeitern und Bauern, und dass er in der Sowjetunion [1936] eine sechsmal so große Chance hatte. (D. Granick, 1960, S. 54; Hervorhebung E. F.)

Zur gegenwärtigen Situation sind wir lediglich auf Vermutungen angewiesen. Aber es klingt überzeugend, wenn D. Granick (1960, S. 56) sagt, die von einer sozialen Mobilität wegführende Tendenz hat sich „im heutigen Russland vermutlich einfach deshalb vergrößert, weil die feindselige Einstellung gegen die Kinder von Eltern mit höheren Berufen nachgelassen hat“. Diese Klassenschichtung ist trotz der Tatsache vorhanden, dass die Ausbildung in der Sowjetunion völlig kostenlos erfolgt und die meisten der begabteren Studenten außerdem Stipendien erhalten. Dieser scheinbare Widerspruch dürfte zum Teil damit zu erklären sein, dass viele junge Sowjetbürger die Universität nicht besuchen können, weil ihre Familie auf ihren Verdienst angewiesen ist. (Vgl. J. S. Berliner, 1959, S. 352.) Auch dürfte der sehr hohe Wissensstandard der Gebildeten in Russland zur Folge haben, dass die kulturelle Atmosphäre in einer Funktionärsfamilie eine bessere Vorbereitung auf die Universität darstellt als die in einer Arbeiter- oder Bauernfamilie.

Es ist eine erstaunliche Tatsache – erstaunlich für den, der an den sozialistischen Charakter des Sowjetsystems glaubt –, dass, wie J. S. Berliner, 1959, S. 350, sagt, „die meisten jungen Leute einen regelrechten Widerwillen dagegen haben, Arbeiter zu werden, wenn sie das Hochschulniveau erreicht haben“. Diese Einstellung zum Beruf des Arbeiters kommt natürlich in der offiziellen Ideologie nicht zum Ausdruck, die den Arbeiter als den wahren Herrn der Sowjetgesellschaft preist, und der Mythos von der wunderbaren sozialen Mobilität besteht in der Sowjetunion weiter.

Kann man deshalb mit Recht in der Sowjetunion von einer Klasse der Manager sprechen? Wenn man den Begriff der Klasse im Sinn von Marx versteht, kann man ihn [V-078] hier kaum anwenden, weil er im marxistischen Denken eine gesellschaftliche Gruppe je nach ihrer Beziehung zu den Produktionsmitteln meint, das heißt je nachdem, ob die betreffende Gruppe Kapital besitzt oder die Werkzeuge dazu (Handwerker) oder ob sie sich aus besitzlosen Arbeitern zusammensetzt. Natürlich gibt es in einem Land, wo der Staat sämtliche Produktionsmittel besitzt, keine Manager-“Klasse“ in diesem Sinn – und übrigens auch keine andere Klasse –; ja wenn man den Begriff „Klasse“ im streng marxistischen Sinn nimmt, kann man wohl behaupten, dass die Sowjetunion eine klassenlose Gesellschaft ist. In Wirklichkeit trifft dies jedoch nicht zu. Marx hat nicht vorausgesehen, dass im Verlauf der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft eine große Gruppe von Managern entstehen würde, denen zwar die Produktionsmittel nicht gehören, die aber die Kontrolle über sie ausüben und sämtlich ein hohes Einkommen beziehen und einen hohen gesellschaftlichen Status haben. (Vgl. A. A. Berle und G. C. Means, 1940, sowie J. A. Schumpeter, 1962.) Daher hat Marx mit seinem Klassenbegriff stets nur den Besitz der Produktionsmittel gemeint und hat nie auch die Kontrolle der Produktionsmittel und des „Menschenmaterials“ miteinbegriffen, das im Prozess von Produktion, Verteilung und Konsum eingesetzt wird.

In Bezug auf die Kontrolle ist die Sowjetunion eine Gesellschaft mit strengen Klassenunterschieden. Neben der Manager-Bürokratie gibt es die politische Bürokratie der Kommunistischen Partei und die militärische Bürokratie. Die drei teilen sich die Kontrolle, das Prestige und das Einkommen. Wichtig ist, dass sie sich weitgehend überschneiden. Nicht nur sind die meisten Manager und hohen Funktionäre Parteimitglieder, sie „wechseln auch oft den Hut“, das heißt, sie arbeiten eine Zeitlang als Manager und dann wieder als Parteifunktionäre. (Nach D. Granick, 1960, S. 309, waren 1936 98 Prozent aller Fabrikdirektoren in der Schwerindustrie Parteimitglieder.) Am Rand der drei Bürokratien stehen die Wissenschaftler, andere Intellektuelle sowie Künstler, die hohe Einkünfte beziehen, wenn sie auch an der Machtposition der drei Hauptgruppen keinen Anteil haben.

Aus obigen Erwägungen geht eines klar hervor: Die Sowjetunion hat im Entwicklungsprozess zu einem hochindustrialisierten System nicht nur neue Fabriken und Maschinen, sondern auch neue Klassen produziert, welche die Produktion leiten und verwalten. Diese Klassen verfolgen eigene Interessen, welche sich völlig von denen der Revolutionäre unterscheiden, die 1917 die Macht übernahmen. Sie streben nach materiellem Komfort, nach Sicherheit, nach einer guten Ausbildung und sozialem Aufstieg für ihre Kinder – kurz nach den gleichen Zielen wie die entsprechenden Klassen in den kapitalistischen Ländern.

Dass der Mythos von der Gleichheit weiterbesteht, bedeutet nicht, dass die Tatsache des Aufkommens einer neuen Hierarchie in der Sowjetunion bestritten würde. Bereits 1925 hat Stalin – natürlich stets unter Anführung von passenden, aber aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten von Marx und Lenin – den 14. Kongress gewarnt: „Man darf nicht mit der Phrase von der Gleichheit spielen, da dies ein Spiel mit dem Feuer ist.“ I. Deutscher (1960, S. 339; dt. 1959, Band 1, S. 362) meint dazu: „In späteren Jahren sprach er gegen die Gleichmacherei mit einer Schärfe und einem Hass, dass er zu erkennen gab, dass er hier den wichtigsten, aber auch den verwundbarsten Teil seiner Politik verteidigte. Dieser Punkt war deshalb so empfindlich, weil die [V-079] hoch bezahlten und privilegierten Gruppen der Manager ganz von selbst zu Hauptstützen des stalinistischen Systems wurden.“ Tatsächlich hat die Sowjetunion das gleiche Problem wie die kapitalistischen Länder zu bewältigen: Wie lässt sich die Ideologie von einer offenen, mobilen Gesellschaft mit der Notwendigkeit einer hierarchisch organisierten Bürokratie vereinbaren und wie kann man denen an der Spitze Ansehen und eine moralische Rechtfertigung verschaffen? Die Lösung der Sowjets unterscheidet sich nicht allzu sehr von unserer eigenen: Beide Prinzipien werden verfochten, und vom Einzelnen wird erwartet, dass er nicht über diesen Widerspruch stolpert.

Das Wachstum der sowjetischen Industrie hat nicht nur eine neue Klasse von Managern, sondern auch eine wachsende Klasse von Handarbeitern hervorgebracht. 1928 waren noch 76,5 Prozent der russischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig gegenüber 23,5 Prozent in nicht-landwirtschaftlichen Berufen. 1958 war das entsprechende Verhältnis 52 Prozent gegenüber 48 Prozent. (Vgl. W. W. Eason, 1959, S. 75.) Aber die Entwicklung der Industrie erfordert mehr als nur eine ständig wachsende Zahl von Industriearbeitern. Sie erfordert auch eine zunehmende Produktivität der Arbeit. Wie schwerwiegend diese Notwendigkeit für die Sowjetunion ist, geht daraus hervor, dass nach der offiziellen Zeitschrift des Gosplan (Gesamtplan) in der Maschinenbauindustrie in den Vereinigten Staaten die Produktivität der Arbeit 2,8 bis 3mal so hoch ist wie in der Sowjetunion. (Zahlen nach L. Herman, 1961.) Neben dem höheren Niveau der Technologie ist der Charakter der Arbeiter einer der entscheidenden Faktoren bei der Arbeitsproduktivität. Um unabhängigere und verantwortungsbewusstere Charaktere zu fördern, hat man nicht nur die Strafmaßnahmen abgeändert (während zum Beispiel das Fernbleiben vom Arbeitsplatz unter Stalin eine kriminelle Handlung war, ist es jetzt eine Disziplinarangelegenheit, mit der sich das Management befasst), sondern „die sowjetische Arbeitspolitik ist in vielerlei Hinsicht dazu übergegangen, überzeugende Bekundung von Arbeitseifer und Tüchtigkeit in der Berufsausübung zu honorieren“ (W. W. Eason, 1959, S. 92). Über die Änderung im Bereich der Lohnpolitik hinaus räumt man seit einiger Zeit dem Arbeiter sogar eine wichtigere Rolle bei den täglich zu treffenden betriebsinternen Entscheidungen ein, „ohne jedoch dem Management grundsätzlich seine Vorrechte zu nehmen“ (W. W. Eason, 1959, S. 92).

Die Sowjethierarchie hat im allgemeinen erkannt, welch wichtige Rolle Bildung, materielle Befriedigung und Leistungsanreize spielen, und der Staat versucht sein Bestes, um hier Verbesserungen einzuführen und auf diese Weise die Produktivität der Arbeit zu erhöhen. Diese Entwicklung wird zweifellos genau zu dem führen, wozu sie auch in den westlichen Ländern geführt hat. Die Arbeiter arbeiten nicht nur besser, sie sind auch zufriedener und loyaler dem System gegenüber: im einen Fall gegenüber dem „Kapitalismus“, im anderen gegenüber dem „Kommunismus“.

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120456
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Erich Fromm Psychologie Mensch Außenpolitik Kalter Krieg Atomkrieg USA Sowjetunion Weltpolitik Projektion Abrüstung Frieden
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Titel: Es geht um den Menschen! Eine Untersuchung der Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik