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Seiten: (ca.) 50
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 26.6.2015
ISBN: eBook 9783959120449
Format: ePUB
Warum interessieren sich Psychotherapeuten für den Zen-Buddhismus? Was hat die im westlichen Denken beheimatete Psychoanalyse mit der östlich-mystischen Erlösungslehre des Zen zu tun? Gemeinsam ist ihnen, so Erich Fromm, das Interesse am Wohl-Sein und am Gelingen des Menschen.
Erich Fromm arbeitet in diesem Buch sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten von Psychoanalyse und Zen-Buddhismus heraus. Er zeigt, wie beide Methoden zu weniger Verdrängung und gleichzeitig zu mehr Bewusstsein führen und sich somit auf eine ganz besondere und außergewöhnliche Weise ergänzen. Nirgends sonst hat Erich Fromm die Bedeutung der Psychoanalyse so überzeugend dargestellt wie in diesem Buch.
(Psychoanalysis and Zen Buddhism)
Erich Fromm
(1960a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Marion Steipe
überarbeitet von Rainer Funk.
Psychoanalyse und Zen-Buddhismus erschien erstmals 1960 unter dem Titel Psychoanalysis and Zen Buddhism, in: D. T. Suzuki, E. Fromm and R. de Martino, Zen Buddhism and Psychoanalysis beim Verlag Harper and Brothers in New York. Eine von Marion Steipe besorgte deutsche Übersetzung wurde 1972 unter dem Titel Psychoanalyse und Zen Buddhismus bei Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main veröffentlicht. Anlässlich der Veröffentlichung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden 1980/1981 wurde die Übersetzung überarbeitet.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 301-356.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1960 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Wenn man den Zen-Buddhismus zur Psychoanalyse in Beziehung setzt, diskutiert man zwei Systeme, die sich beide mit einer Theorie über die Natur des Menschen und mit praktischen Maßnahmen für sein Wohl beschäftigen.[1] Jedes von ihnen ist charakteristisch, das eine für das östliche, das andere für das westliche Denken. Der Zen-Buddhismus ist eine Verschmelzung der indischen Rationalität und Abstraktion mit chinesischer Konkretheit und chinesischem Realismus. Wie die Psychoanalyse ein Spezifikum des Westens ist, so ist Zen für den Osten typisch. Die Psychoanalyse ist das Kind des westlichen Humanismus und Rationalismus sowie der romantischen Suche des neunzehnten Jahrhunderts nach den dunklen Kräften, die sich dem Rationalismus entziehen. Und viel weiter zurück standen die Weisheit der Griechen und die hebräische Ethik an der Wiege dieser wissenschaftlich-therapeutischen Sicht des Menschen.
Obgleich sich sowohl die Psychoanalyse als auch das Zen mit der Natur des Menschen und mit einem Weg befassen, der zu seiner Wandlung führt, scheinen doch die Unterschiede diese Ähnlichkeiten zu überwiegen. Die Psychoanalyse ist eine wissenschaftliche und durch und durch unreligiöse Methode, das Zen hingegen eine Theorie und eine Technik, die zur „Erleuchtung“ führen, einem Erlebnis, das man im Westen religiös oder mystisch nennen würde. Die Psychoanalyse ist eine Therapie für Geisteskrankheiten; das Zen ein Weg zur geistigen Erlösung. Kann die Diskussion der Beziehungen zwischen Psychoanalyse und dem Zen-Buddhismus zu etwas anderem als der Feststellung führen, dass die einzige Beziehung zwischen ihnen eine radikale und unüberbrückbare Verschiedenheit ist?
Und doch besteht unter den Psychoanalytikern ein unverkennbares und wachsendes Interesse am Zen-Buddhismus.[2] Was sind die Quellen für dieses Interesse? Was [VI-304] bedeutet es? Hier soll versucht werden, diese Fragen zu beantworten. Ich will dabei keine systematische Darstellung der Gedanken des Zen-Buddhismus geben, eine Aufgabe, die mein Wissen und meine Erfahrung übersteigen würde, noch will ich eine vollständige Darstellung der Psychoanalyse geben, weil das über den Rahmen dieser Arbeit hinausginge. Trotzdem will ich in meinem ersten Teil einigermaßen ausführlich diejenigen Aspekte der Psychoanalyse behandeln, die für die Beziehung zwischen ihr und dem Zen-Buddhismus von unmittelbarer Bedeutung sind und die gleichzeitig Grundauffassungen jener Weiterentwicklung der Freudschen Analyse sind, die ich gelegentlich „humanistische Psychoanalyse“ genannt habe. Ich hoffe, damit zeigen zu können, warum das Studium des Zen-Buddhismus für mich von wesentlicher Bedeutung war und, wie ich glaube, für alle Psychoanalytiker wichtig ist.
Wir wollen zuerst die geistige Krise betrachten, in der sich der westliche Mensch heute befindet, sowie die Funktion der Psychoanalyse in dieser Krise. Obwohl die meisten der im Westen lebenden Menschen nicht bewusst das Gefühl haben, in einer Krise der westlichen Kultur zu leben (wahrscheinlich war sich die Mehrheit in einer wirklich kritischen Situation niemals der Krise bewusst), sind sich zumindest eine Anzahl kritischer Beobachter über das Vorhandensein und das Wesen dieser Krise einig. Es ist die Krise, die man als malaise, ennui, mal du siècle, als Abstumpfung des Lebens, Automation des Menschen und seine Entfremdung von sich selbst, seinen Mitmenschen und von der Natur bezeichnet hat.[3] Der Mensch ist dem Rationalismus bis zu dem Punkt gefolgt, wo der Rationalismus zur äußersten Irrationalität wurde. Seit Descartes hat der Mensch in immer größerem Ausmaß das Denken vom Affekt getrennt; nur das Denken wird für rational gehalten – der Affekt gilt schon seiner Natur nach als irrational; die Person, das Ich, wurde in einen Intellekt (intellect) abgespalten, der mein Selbst darstellt und mich ebenso beherrschen soll, wie er die Natur beherrscht. Die Herrschaft des Intellekts über die Natur und die Produktion von immer mehr und mehr Dingen wurden die höchsten Lebensziele. In diesem Prozess hat sich der Mensch in ein Ding verwandelt, das Leben ist dem Eigentum untergeordnet, das Sein wird vom Haben beherrscht. Während in den Anfängen der westlichen Kultur, und zwar sowohl bei den Griechen als auch bei den Juden, die Vervollkommnung des Menschen als Ziel des Lebens galt, befasst sich der moderne Mensch mit der Vervollkommnung der Dinge und mit dem Wissen, wie man sie herstellt. Der westliche Mensch befindet sich in einem Zustand schizoider Unfähigkeit, einen Affekt zu empfinden, und ist deshalb ängstlich, niedergeschlagen und verzweifelt. Mit dem Mund bezeichnet er immer noch Glück, Individualismus und Initiative als Ziele – aber in Wahrheit hat er kein Ziel. Fragen Sie ihn, wofür er lebt, was das Ziel seines Strebens ist – und er wird in Verlegenheit geraten. Manche sagen vielleicht, sie lebten für die Familie, andere „für [VI-306] das Vergnügen“, wieder andere, um Geld zu erwerben, aber in Wirklichkeit weiß keiner, wofür er lebt; er hat kein Ziel außer dem Wunsch, der Unsicherheit und dem Alleinsein zu entrinnen. Zwar gibt es heute mehr Kirchenbesucher als je zuvor, Bücher über Religion werden zu Bestsellern und mehr Menschen sprechen von Gott als je. Und doch verdeckt diese Art von religiösem Bekenntnis nur eine zutiefst materialistische und unreligiöse Einstellung und ist als ideologische Reaktion – hervorgerufen durch Unsicherheit und Konformismus – auf die Tendenz des neunzehnten Jahrhunderts zu verstehen, die Nietzsche mit seinem berühmten „Gott ist tot“ charakterisierte. Eine wahrhaft religiöse Einstellung ist sie nicht.
Es war von einem bestimmten Gesichtspunkt aus keine geringe Leistung des neunzehnten Jahrhunderts, die theistischen Ideen aufzugeben. Der Mensch stürzte sich kopfüber in die Objektivität. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt des Universums; der Mensch verlor seine Hauptrolle als Geschöpf, das von Gott dazu bestimmt war, alle anderen Geschöpfe zu beherrschen. Freud untersuchte mit einer neuen Objektivität die verborgenen Motivierungen des Menschen und erkannte, dass der Glaube an einen allmächtigen und allwissenden Gott seine Wurzel in der Hilflosigkeit menschlicher Existenz hatte sowie im Versuch des Menschen, mit seiner Hilflosigkeit mittels eines Glaubens an einen helfenden Vater oder an eine solche Mutter, die von Gott im Himmel verkörpert wurden, fertig zu werden. Er sah, dass nur der Mensch sich selbst erlösen kann; die Lehren der großen Lehrer, die liebevolle Hilfe von Eltern, Freunden und geliebten Menschen kann ihm helfen – aber nur dazu, dass er es wagt, die Herausforderung der Existenz anzunehmen und sie mit ganzer Kraft und seinem ganzen Herzen zu beantworten.
Der Mensch ließ die Illusion eines väterlichen Gottes als Helfer fallen – aber er gab auch die wahren Ziele aller großen humanistischen Religionen auf: die Überwindung der Grenzen, die ein egoistisches Ich setzt, die Verwirklichung von Liebe, Objektivität und Demut und die Ehrfurcht vor dem Leben, die als Ziel des Lebens das Leben selbst sieht und den Menschen zu dem macht, was er potenziell ist. Das waren die Ziele der großen Religionen des Westens ebenso wie die des Ostens. Der Osten war jedoch nicht mit der Vorstellung eines transzendenten Vaters und Erlösers belastet, in dessen Gestalt die monotheistischen Religionen ihre Sehnsucht zum Ausdruck brachten. Der Taoismus und der Buddhismus besaßen eine Rationalität und einen Realismus, die denen der westlichen Religionen überlegen waren. Sie konnten den Menschen realistisch und objektiv sehen, da es nur die „Erweckten“ gab, um ihn zu leiten, und er konnte sich leiten lassen, weil in jedem Menschen die Fähigkeit steckt, erweckt und erleuchtet zu werden. Genau das ist der Grund, warum heute die religiösen Gedanken des Ostens, Taoismus und Buddhismus – und ihre Verschmelzung im Zen-Buddhismus – für den Westen eine solche Bedeutung annehmen. Der Zen-Buddhismus hilft dem Menschen, auf die Frage seiner Existenz eine Antwort zu finden, die im wesentlichen die gleiche ist wie die der jüdisch-christlichen Tradition und die dennoch keinen Widerspruch zur Rationalität, zum Realismus und zur Unabhängigkeit bildet, den kostbaren Errungenschaften des modernen Menschen. Paradoxerweise stellt sich heraus, dass die religiösen Gedanken des Ostens dem westlichen rationalen Denken kongenialer sind, als die religiösen Gedanken des Westens selbst.
Die Psychoanalyse ist ein charakteristischer Ausdruck der geistigen Krise des westlichen Menschen und ein Versuch, eine Lösung zu finden. Das gilt ganz besonders für die neueren Entwicklungen der Psychoanalyse, die „humanistische“ oder „existenzialistische“ Analyse. Bevor ich jedoch meine eigene „humanistische“ Auffassung diskutiere, möchte ich zeigen, dass, im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Annahme, Freuds eigenes System über eine Theorie von „Krankheit“ und „Heilung“ hinausgeht und sich mit der „Erlösung“ des Menschen und nicht nur mit einer Therapie für geisteskranke Patienten befasste. Oberflächlich gesehen war Freud der Schöpfer einer neuen Therapie für Geisteskrankheiten, und das war auch der Gegenstand, dem sein Leben lang sein Hauptinteresse und alle seine Bemühungen galten. Bei näherer Betrachtung stellen wir jedoch fest, dass sich hinter dieser Idee einer medizinischen Therapie zur Heilung von Neurosen ein vollkommen anderes Interesse verbarg, dem Freud selten Ausdruck verlieh und dessen er sich wahrscheinlich kaum bewusst war. Diese versteckte oder nur implizierte Idee betraf nicht in erster Linie die Heilung von Geisteskrankheiten, sondern etwas, das über den Begriff von Krankheit und Heilung hinausging. Was war dieses Etwas? Was war das Wesen der „psychoanalytischen Bewegung“, die er begründete? Was war Freuds Vision der Zukunft der Menschheit? Was war das Dogma, auf das sich seine Bewegung gründete?
Freud hat diese Frage vielleicht am klarsten mit dem Satz beantwortet: „Wo Es war, soll Ich werden“ (S. Freud, 1933a, S. 86). Sein Ziel war die Beherrschung irrationaler und unbewusster Leidenschaften durch die Vernunft; die Befreiung des Menschen innerhalb seiner Möglichkeiten aus der Macht des Unbewussten. Der Mensch musste sich der unbewussten Mächte in ihm bewusst werden, um sie zu beherrschen und in der Gewalt zu haben. Freuds Ziel war die optimale Erkenntnis der Wahrheit, und das heißt die Erkenntnis der Wirklichkeit; diese Erkenntnis war für ihn die einzige Richtschnur, die der Mensch auf dieser Erde besitzt. Es waren dies die traditionellen Ziele des Rationalismus, der Philosophie der Aufklärung und der puritanischen Ethik. Aber während die Religion und die Philosophie diese Ziele der Beherrschung des Selbst in einer, wie man es nennen könnte, utopischen Weise gefordert hatten, war Freud der erste – oder glaubte, der erste zu sein –, der sie (durch die Erforschung [VI-308] des Unbewussten) auf eine wissenschaftliche Grundlage stellte und so den Weg zu ihrer Verwirklichung zeigte. Obwohl Freud den Höhepunkt des westlichen Rationalismus repräsentiert, überwand er doch gleichzeitig durch sein Genie die falschen rationalistischen und oberflächlich optimistischen Aspekte des Rationalismus und schuf eine Synthese mit der Romantik, die sich im neunzehnten Jahrhundert durch ihre Wertschätzung der irrationalen, affektiven Seite des Menschen und ihre Beschäftigung damit, dem Rationalismus entgegenstellte.[4]
Was die Behandlung des Individuums betrifft, so war Freuds Ziel ebenfalls mehr philosophischer und ethischer Natur als im allgemeinen angenommen wurde. In den Einführungsvorlesungen (S. Freud, 1916-17; 1933a) spricht er von den Bemühungen gewisser mystischer Praktiken, eine grundlegende Wandlung innerhalb der Persönlichkeit herbeizuführen. „Immerhin wollen wir zugeben“, fährt er fort,
dass die therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse sich einen ähnlichen Angriffspunkt gewählt haben. Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so dass es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee. (S. Freud, 1933a, S. 86.)
In der gleichen Art sagte er von der psychoanalytischen Therapie, dass sie aus der „Befreiung des Menschen von seinen neurotischen Symptomen, Hemmungen und Charakterabnormitäten“ bestehe. Auch geht die Rolle des Analytikers, wie er sie versteht, über die des Arztes, der den Patienten „heilt“, hinaus. Der Analytiker, sagt er, muss „eine gewisse Überlegenheit“ besitzen,
um auf den Patienten in gewissen analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken. Und endlich ist nicht zu vergessen, dass die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, d.h. auf die Anerkennung der Realität gegründet ist und jeden Schein und Trug ausschließt. (S. Freud, 1937c, S. 59 und 94; Hervorhebungen E. F.)
Es gibt noch andere Faktoren in Freuds Auffassung der Psychoanalyse, die über die herkömmliche Vorstellung von Krankheit und Heilung hinausgehen. Wer mit dem östlichen Denken und vor allem mit dem Zen-Buddhismus vertraut ist, wird bemerken, dass die Faktoren, die ich erwähnen will, nicht ohne Bezug zu Auffassungen und Gedanken des Ostens sind. Als erstes ist hier Freuds Auffassung zu nennen, dass Erkenntnis zur Wandlung führt, dass man Theorie und Praxis nicht trennen darf und dass die Wandlung schon durch bloße Selbsterkenntnis eintritt. Es ist kaum nötig, darauf hinzuweisen, wie sehr sich diese Idee von den Auffassungen der wissenschaftlichen Psychologie zu Freuds Zeit oder in der Gegenwart unterscheidet, wo die Erkenntnis an sich theoretische Erkenntnis bleibt und im Erkennenden keine Wandlung bewirkt.
Noch ein weiterer Aspekt der Methode Freuds ist mit dem Denken des Ostens und insbesondere mit dem Zen-Buddhismus eng verwandt. Freud teilte nicht die hohe Einschätzung unserer bewussten Gedanken, die so charakteristisch für den modernen Menschen des Westens ist. Im Gegenteil, er glaubte, dass unser bewusstes Denken nur ein kleiner Teil des gesamten psychischen Vorgangs sei, der in uns stattfindet, und zwar ein unbedeutender Teil im Vergleich zu der ungeheuren Macht jener Quellen in uns, die dunkel und irrational und gleichzeitig unbewusst sind. In seinem Wunsch, [VI-309] Einsicht in die wahre Natur eines Menschen zu gewinnen, wollte Freud mit seiner Methode der freien Assoziation das bewusste Gedankensystem durchbrechen. Die freie Assoziation sollte das logische, bewusste, konventionelle Denken umgehen und zu einer neuen Quelle unserer Persönlichkeit, dem Unbewussten, führen. Welche Kritik man an den Inhalten des Freudschen Unbewussten auch üben mag, die Tatsache bleibt bestehen, dass Freud durch das Hervorheben der freien Assoziation gegenüber dem logischen Denken in einem wesentlichen Punkt über die konventionelle, rationalistische Denkweise der westlichen Welt hinausging und eine Richtung einschlug, die im Denken des Ostens viel weiter und weitaus gründlicher entwickelt worden war.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, in dem sich Freud grundlegend von der gegenwärtigen Einstellung im Westen unterscheidet. Ich meine hier die Tatsache, dass er bereit war, einen Menschen ein, zwei, drei, vier, fünf oder noch mehr Jahre lang zu analysieren. Das rief tatsächlich eine Menge Kritik gegen Freud hervor. Es erübrigt sich zu sagen, dass man versuchen sollte, die Analyse so wirksam wie möglich zu machen, aber was ich hier hervorheben will, ist, dass Freud den Mut hatte zu sagen, es habe einen Sinn, mit einer Person Jahre zu verbringen, nur um ihr zu helfen, sich selbst zu verstehen. Vom Standpunkt der Nützlichkeit, vom Standpunkt des Gewinnes und Verlustes ist das nicht sehr sinnvoll. Man würde vielmehr sagen, dass die mit einer dermaßen ausgedehnten Analyse verbrachte Zeit sich nicht lohne, wenn man den gesellschaftlichen Gewinn der Änderung einer einzigen Person in Betracht zieht. Freuds Methode hat nur dann einen Sinn, wenn man über die moderne Idee des „Wertes“, des richtigen Verhältnisses zwischen Mittel und Zweck, der Bilanz sozusagen, hinausgeht. Wenn man glaubt, dass ein Mensch nicht mit demselben Maße zu messen ist wie irgendein Ding, dass seine Emanzipation, sein Wohl, seine Erleuchtung, oder wie immer wir es auch nennen wollen, eine Sache ist, „die uns unbedingt angeht“ (P. Tillich), dann kann kein Aufwand an Zeit und Geld in quantitativem Sinne zu diesem Ziel in Beziehung gesetzt werden. Dass Freud die Vision und den Mut hatte, eine Methode zu entwickeln, die eine so ausgedehnte Beschäftigung mit einer Person mit sich brachte, zeugte von einer Einstellung, die in einem wichtigen Punkt über das herkömmliche Denken des Westens hinausging.
Die vorstehenden Bemerkungen sollen nicht bedeuten, dass Freud in seinen bewussten Absichten dem Denken des Ostens oder insbesondere dem Denken des Zen-Buddhismus nahestand. Viele der Elemente, die ich zuvor erwähnt habe, waren in Freuds eigenem Denken mehr implizit als explizit und mehr unbewusst als bewusst. Freud war zu sehr ein Kind der westlichen Zivilisation und vor allem der Gedankenwelt des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, als dass er dem östlichen Denken, wie es im Zen-Buddhismus zum Ausdruck kommt, nahegestanden hätte, selbst wenn er damit vertraut gewesen wäre. Freuds Vorstellung vom Menschen entsprach in wesentlichen Zügen dem Bild, das die Nationalökonomen und Philosophen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hatten. Sie sahen den Menschen als ein im wesentlichen auf Wettbewerb eingestelltes, isoliertes Wesen, das mit anderen nur durch die Notwendigkeit der Befriedigung wirtschaftlicher und triebhafter Bedürfnisse in Beziehung stehe. Für Freud ist der Mensch eine Maschine, die von [VI-310] der Libido angetrieben und durch das Prinzip, die Erregung der Libido auf einem Minimum zu halten, gesteuert wird. Für ihn war der Mensch im Grunde egoistisch und mit anderen nur durch die gemeinsame Notwendigkeit, Triebwünsche zu befriedigen, verbunden. Die Lust war für Freud eine Befreiung von Spannung, nicht das Erleben von Freude. Man hat den Menschen als in seinen Verstand und seine Affekte aufgeteilt gesehen; er war nicht der ganze Mensch, sondern das Verstandeswesen der Philosophen der Aufklärung. Die brüderliche Liebe war eine unvernünftige Forderung und widersprach der Wirklichkeit; mystische Erfahrungen waren ein Rückfall auf kindlichen Narzissmus.
Ich habe zu zeigen versucht, dass es in Freuds System trotz dieser offensichtlichen Widersprüche zum Zen-Buddhismus Elemente gab, die über die herkömmlichen Begriffe von Krankheit und Heilung und die traditionellen rationalistischen Auffassungen vom Bewusstsein hinausgingen und zu einer Weiterentwicklung der Psychoanalyse führten, die mit dem Denken des Zen-Buddhismus in engerem und positiverem Zusammenhang steht.
Bevor wir jedoch den Zusammenhang zwischen einer solchen „humanistischen“ Psychoanalyse und dem Zen-Buddhismus diskutieren, möchte ich auf eine Wandlung hinweisen, die eine Grundvoraussetzung für das Verständnis der Weiterentwicklung der Psychoanalyse ist: die Wandlung der Art der Patienten, die zur Analyse kommen, und der Probleme, die sie vorbringen.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts gingen zum Psychiater hauptsächlich solche, die an Symptomen litten. Sie hatten einen gelähmten Arm, litten an Zwangssymptomen, beispielsweise an einem Waschzwang oder an Wahnvorstellungen, die sie nicht loswerden konnten. Mit anderen Worten, sie waren krank in dem Sinne, in dem das Wort „Krankheit“ in der Medizin verwendet wird; etwas hinderte sie daran, gesellschaftlich so zu funktionieren, wie der sogenannte normale Mensch funktioniert. Wenn sie an solchen Symptomen litten, entsprach ihre Vorstellung von Heilung der Auffassung vom Kranksein. Sie wollten die Symptome loswerden, und ihre Vorstellung von „Gesundheit“ war – nicht krank zu sein. Sie wollten so gesund sein wie der Durchschnittsmensch oder, wie wir es auch ausdrücken könnten, sie wollten nicht unglücklicher und ebenso normal sein, als es der Durchschnittsmensch in unserer Gesellschaft ist.
Diese Menschen kommen noch immer zum Psychoanalytiker, um Hilfe zu suchen, und für sie ist die Psychoanalyse noch immer eine Therapie mit dem Ziel, ihre Symptome zu beseitigen und sie gesellschaftsfähig zu machen. Aber während sie früher die Mehrzahl der Klienten eines Psychoanalytikers ausmachten, befinden sie sich heute in der Minderheit – und zwar wahrscheinlich nicht, weil ihre absolute Zahl heute geringer ist als früher, sondern weil ihre Anzahl relativ kleiner ist im Vergleich zu den vielen neuen „Patienten“, die gesellschaftlich funktionieren und im herkömmlichen Sinne nicht krank sind, sondern die an der maladie du siècle, der Malaise, der inneren Abgestorbenheit leiden, von der ich oben gesprochen habe.[5] Diese neuen „Patienten“ kommen zum Psychoanalytiker, ohne zu wissen, woran sie wirklich leiden. Sie klagen, dass sie niedergeschlagen seien, an Schlaflosigkeit litten, in ihren Ehen unglücklich seien, keine Freude an ihrer Arbeit hätten, und über alle möglichen ähnlichen Beschwerden. Gewöhnlich glauben sie, dass dieses oder jenes bestimmte [VI-311] Symptom ihr Problem sei und dass sie gesund wären, wenn sie diese bestimmte Beschwerde loswerden könnten. Diese Patienten sehen jedoch nicht, dass nicht Niedergeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ehe oder Arbeit ihr Problem ist. Ihre verschiedenen Beschwerden sind nur die Form, in der ihnen unsere Kultur gestattet, etwas bewusst zum Ausdruck zu bringen, was viel tiefer liegt und an dem all die verschiedenen Menschen gleichermaßen kranken, die glauben, an diesem oder jenem bestimmten Symptom zu leiden. Das allgemeine Leiden ist die Entfremdung von sich selbst, von den Mitmenschen und von der Natur; das Bewusstsein, dass uns das Leben wie Sand durch die Finger läuft, dass wir sterben werden, ohne gelebt zu haben, dass wir im Überfluss leben und doch ohne Freude sind.
Welche Hilfe kann die Psychoanalyse denen bieten, die an der maladie du siècle leiden? Diese Hilfe ist verschieden – und muss verschieden sein – von der „Heilung“, die in der Aufhebung von Symptomen besteht und denen geboten wird, die gesellschaftlich nicht funktionieren. Für den, der an Entfremdung leidet, besteht die Heilung nicht im Fehlen einer Krankheit, sondern im Vorhandensein von Wohl-Sein (well-being).[6]
Wenn wir Wohl-Sein jedoch definieren wollen, stehen wir vor beträchtlichen Schwierigkeiten. Wenn wir im Freudschen System bleiben, müsste Wohl-Sein in der Terminologie der Libidotheorie als Fähigkeit zur uneingeschränkten Funktion des Geschlechtstriebes, oder von einem anderen Blickwinkel, als Bewusstheit der verborgenen Ödipus-Situation definiert werden. Diese Definitionen berühren meiner Ansicht nach das wirkliche Problem der menschlichen Existenz und der Erlangung des Wohl-Seins des ganzen Menschen nur am Rande. Jeder Versuch, das Problem des Wohl-Seins zu lösen, muss den Freudschen Rahmen sprengen und zu einer, wenn auch unvollkommenen, Diskussion der Grundauffassung der menschlichen Existenz führen, die der humanistischen Psychoanalyse zugrunde liegt. Nur auf diese Weise können wir die Grundlage für einen Vergleich zwischen der Psychoanalyse und dem Gedankengut des Zen-Buddhismus schaffen.
Eine vorläufige Definition von Wohl-Sein kann folgendermaßen formuliert werden: Wohl-Sein heißt, mit der Natur des Menschen in Einklang stehen. Wenn wir über diese formale Feststellung hinausgehen, erhebt sich die Frage: Was bedeutet hier: in Einklang mit den Bedingungen der menschlichen Existenz sein? Was sind diese Bedingungen?[7]
Die menschliche Existenz wirft eine Frage auf. Der Mensch ist ohne seinen Willen in diese Welt geworfen und wird ohne seinen Willen wieder aus ihr genommen. Im Gegensatz zum Tier, das in seinen Instinkten einen „eingebauten“ Mechanismus der Anpassung an seine Umwelt besitzt und derart völlig in der Natur aufgeht, fehlt dem Menschen dieser instinktive Mechanismus. Er muss sein Leben leben, er wird nicht von ihm gelebt. Er ist in der Natur und geht doch über sie hinaus; er ist sich seiner selbst bewusst, und dieses Bewusstsein seiner selbst als einer abgetrennten Größe bewirkt, dass er sich unerträglich einsam, verloren und ohnmächtig fühlt. Allein die Tatsache, dass man geboren wird, wirft ein Problem auf. Im Augenblick der Geburt stellt das Leben dem Menschen eine Frage, die er in jedem Augenblick seines Lebens beantworten muss; nicht sein Geist, nicht sein Körper, sondern er, der Mensch, der denkt und träumt, schläft und isst, weint und lacht – der ganze Mensch –, muss sie beantworten. Was ist diese Frage, die das Leben stellt? Sie lautet: Wie können wir das Leiden, das Eingekerkertsein, die Schande überwinden, die die Erfahrung des Abgetrenntseins erzeugt; wie können wir zu einer Einheit mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit der Natur gelangen? Der Mensch muss diese Frage irgendwie beantworten; und selbst im Wahnsinn gibt er eine Antwort, indem er die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst auslöscht, völlig innerhalb der Schale seines Selbst lebt und so die Angst vor der Abgetrenntheit überwindet.
Die Frage ist immer die gleiche. Es gibt jedoch verschiedene Antworten, im Grunde freilich nur zwei. Die eine versucht, die Abgetrenntheit zu überwinden und eine Einheit dadurch zu finden, dass sie zu einem Stadium der Einheit, wie sie vor dem Bewusstwerden gegeben war, regrediert: in den Zustand vor der Geburt. Die andere Antwort lautet, ganz geboren zu werden, das Bewusstsein, die Vernunft, die Fähigkeit zu lieben bis zu einem Grad zu entwickeln, dass man seine eigene egozentrische Ichbezogenheit [VI-313] hinter sich lässt und zu einer neuen Harmonie, einem neuen Einssein mit der Welt gelangt.
Wenn wir von Geburt sprechen, meinen wir gewöhnlich die physiologische Geburt, die beim Menschenkind ungefähr neun Monate nach der Empfängnis stattfindet. Vielfach wird die Bedeutung dieser Geburt jedoch überschätzt. Noch eine Woche nach der Geburt gleicht das Leben des Kindes in wichtigen Punkten mehr dem Leben im Mutterleib als dem Leben eines Erwachsenen. Die Geburt hat jedoch einen einzigartigen Aspekt: Die Nabelschnur wird durchtrennt, und das Kind beginnt seine erste Aktivität: atmen. Von da an ist jede Durchtrennung primärer Bindungen nur soweit möglich, als sie mit eigenem Tätigsein verbunden ist.
Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Prozess. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört. Physiologisch gesehen, befindet sich unser Zellsystem in einem Prozess fortwährender Geburt; psychologisch gesehen, hört die Geburt der meisten von uns an einem bestimmten Punkte auf. Manche sind Totgeburten; sie leben physiologisch weiter, während sie sich geistig danach sehnen, in den Mutterschoß, die Erde, die Dunkelheit, den Tod zurückzukehren; sie sind tatsächlich oder beinahe geisteskrank. Viele andere schreiten auf dem Pfad des Lebens weiter, und können doch die Nabelschnur sozusagen nicht vollständig zerreißen; sie bleiben symbiotisch mit Mutter, Vater, Familie, Rasse, Staat, Stand, Geld, Göttern usw. verknüpft; niemals werden sie ganz sie selbst und sind daher niemals ganz geboren.[8] [VI-314]
Der Versuch, das Problem der Existenz regressiv zu beantworten, kann verschiedene Formen annehmen; ihnen allen ist gemeinsam, dass sie notwendigerweise fehlschlagen und Leiden bringen. Wenn einmal der Mensch aus der vormenschlichen, paradiesischen Harmonie mit der Natur gerissen ist, kann er niemals dorthin zurückkehren, von wo er gekommen ist; zwei Engel mit feurigen Schwertern versperren ihm den Rückweg. Nur im Tod oder im Wahnsinn kann die Rückkehr verwirklicht werden – nicht im Leben und in geistig-seelischer Gesundheit.
Der Mensch kann sich bemühen, auf verschiedenen Ebenen zu dieser regressiven Einheit zu gelangen, die gleichzeitig verschiedene Stufen der Pathologie und Irrationalität sind. Er kann von der Leidenschaft besessen sein, in den Mutterleib, die Mutter Erde, den Tod zurückzukehren. Wenn dieses Streben übermächtig und unbeherrscht ist, führt es zu Selbstmord oder Wahnsinn. Eine weniger gefährliche und pathologische Form einer regressiven Suche nach der Einheit ist das Bestreben, an der Brust oder der Hand der Mutter oder dem Befehl des Vaters hängenzubleiben. Die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Bestrebungen kennzeichnen die Verschiedenheiten zwischen verschiedenen Persönlichkeiten. Wer an der Brust der Mutter bleibt, ist der ewig abhängige Säugling, der das Gefühl der Euphorie empfindet, wenn er geliebt, umsorgt, beschützt und bewundert wird, und der von unerträglicher Angst erfüllt ist, wenn ihm die Trennung von der all-liebenden Mutter droht. Wer an den Befehl des Vaters gebunden bleibt, kann eine Menge Initiative und Aktivität entfalten, doch immer unter der Voraussetzung, dass eine Autorität vorhanden ist, die Befehle gibt, lobt und straft. Eine andere Form regressiver Orientierung ist die Destruktivität, der Wunsch, die Getrenntheit durch die Leidenschaft zu überwinden, alles und jeden zu zerstören. Man kann dabei den Wunsch hegen, alles und jeden aufzuessen und sich einzuverleiben, das heißt die Welt und alles, was sie enthält, als Nahrung empfinden oder alle Dinge unmittelbar zerstören mit Ausnahme des einen – seiner selbst. Eine weitere Form, das Leiden der Getrenntheit zu heilen, besteht darin, das eigene Ich als selbständiges, gewappnetes, unzerstörbares „Ding“ aufzubauen. Man erfährt sich dann als seinen eigenen Besitz, als seine Macht, sein Prestige oder seinen Verstand.
Wenn das Individuum aus der regressiven Einheit heraustritt, überwindet es auch allmählich den Narzissmus. Das Neugeborene hat nicht einmal das Bewusstsein einer Wirklichkeit außerhalb seiner selbst im Sinne einer Sinneswahrnehmung; Kind und Brustwarze und Brust der Mutter sind noch eins; das Kind befindet sich in einem Stadium, in dem Subjekt und Objekt noch nicht unterschieden werden. Nach einiger Zeit entwickelt sich in jedem Kind die Fähigkeit, Subjekt und Objekt zu unterscheiden – jedoch eindeutig nur in dem Sinne, dass es sich des Unterschiedes zwischen Ich und Nicht-Ich bewusst wird. Im Gefühlsbereich jedoch muss es sich bis zur völligen Reife entwickeln, um die narzisstische Haltung der Allwissenheit und Allmacht zu überwinden, vorausgesetzt, dass es dieses Stadium überhaupt jemals erreicht. Wir können [VI-315] diese narzisstische Einstellung deutlich im Verhalten von Kindern und Neurotikern beobachten, nur dass sie bei ersteren gewöhnlich bewusst, bei den letzteren unbewusst ist. Das Kind nimmt die Wirklichkeit nicht so, wie sie ist, sondern wie es sie haben möchte. Es lebt in seinen Wünschen und sieht die Wirklichkeit so, wie es sie sich wünscht. Wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, wird es wütend, und der Zweck dieser Wut ist, die Welt (durch seine Eltern als Mittler) zu zwingen, seinem Wunsch zu entsprechen. Im Laufe der normalen Entwicklung des Kindes verwandelt sich diese Haltung allmählich in die des reifen Menschen, der sich der Wirklichkeit bewusst ist und sie und ihre Gesetze und somit eine Notwendigkeit anerkennt. Bei dem Neurotiker finden wir stets, dass er diesen Punkt nicht erreicht hat und die Wirklichkeit noch immer narzisstisch interpretiert. Er besteht darauf, dass die Wirklichkeit seinen Ideen entsprechen muss, und wenn er erkennt, dass das nicht der Fall ist, reagiert er entweder mit dem Impuls, die Wirklichkeit zu zwingen, dass sie seinen Wünschen entspricht (das heißt, das Unmögliche zu tun), oder mit dem Gefühl der Ohnmacht, weil er das Unmögliche nicht vollbringen kann. Unter der Freiheit versteht dieser Mensch narzisstische Allmacht, ob er sich dessen nun bewusst ist oder nicht, während der Freiheitsbegriff der voll ausgereiften Persönlichkeit darin besteht, die Wirklichkeit und ihre Gesetze anzuerkennen und innerhalb der Gesetze der Notwendigkeit zu handeln, indem man sich dadurch produktiv mit der Welt in Beziehung setzt, dass man sie mit seinen eigenen Kräften des Denkens und Fühlens erfasst.
Diese verschiedenen Ziele und die Wege zu ihrer Verwirklichung sind nicht in erster Linie verschiedene Gedankensysteme, sondern verschiedene Arten des Seins, verschiedene Antworten des ganzen Menschen auf die Frage, die ihm das Leben stellt. Sie sind ebenso die Antworten der verschiedenen Religionen, aus denen Religionsgeschichte besteht. Vom primitiven Kannibalismus bis zum Zen-Buddhismus hat die menschliche Rasse nur wenige Antworten auf die Frage des Seins gegeben, und jeder Mensch gibt in seinem Leben eine dieser Antworten, wenn er sich ihrer auch im allgemeinen nicht bewusst ist. In unserer westlichen Kultur glaubt fast jeder, dass er die Antwort der christlichen oder jüdischen Religion oder die Antwort eines aufgeklärten Atheismus gibt, und doch, wenn wir ein geistiges Röntgenbild jedes Menschen machen könnten, würden wir soundso viele Anhänger des Kannibalismus, soundso viele Totemanbeter, soundso viele Anbeter von Idolen verschiedener Art, und einige wenige Christen, Juden, Buddhisten und Taoisten finden. Die Religion ist die formalisierte und ausgearbeitete Antwort auf das Dasein des Menschen, und da man sie bewusst und mit anderen gemeinsam erfährt, ruft selbst die niedrigste Religion allein schon durch die Gemeinschaft mit anderen das Gefühl hervor, dass sie vernünftig ist und Sicherheit bietet. Wenn man nicht daran teilnimmt, wenn die regressiven Wünsche zum Bewusstsein und den Forderungen der Kultur im Widerspruch stehen, dann ist die geheime, private „Religion“ eine Neurose.
Um den einzelnen Patienten – oder irgendeinen Menschen – zu verstehen, muss man wissen, wie seine Antwort auf die Frage des Seins lautet, oder anders ausgedrückt, was seine geheime, individuelle Religion ist, der er all seine Bemühungen und Leidenschaften widmet. Die meisten der sogenannten „psychologischen Probleme“ sind nur sekundäre Folgen seiner fundamentalen „Antwort“, und es ist daher ziemlich [VI-316] nutzlos zu versuchen, sie zu „heilen“, bevor man nicht diese fundamentale Antwort – das heißt, seine geheime, private Religion – verstanden hat.
Wie sollen wir nun angesichts des bisher Gesagten das Wohl-Sein definieren?
Das Wohl-Sein ist der Zustand, in dem die Vernunft ihr volles Entwicklungsstadium erreicht hat, und zwar die Vernunft nicht im Sinne einer rein intellektuellen Urteilsfähigkeit, sondern in dem Sinne, dass man die Wahrheit erfasst, indem man „die Dinge sein lässt“, wie sie sind (um Heideggers Ausdruck zu verwenden). Wohl-Sein gibt es nur in dem Maße, als man den eigenen Narzissmus überwunden hat; in dem Maße, als man offen, aufnahmefähig, empfindsam, wach und leer (im Sinne des Zen) ist. Wohl-Sein bedeutet, gefühlsmäßig ganz auf den Menschen und die Natur bezogen sein, die Getrenntheit und die Entfremdung zu überwinden, zur Erfahrung des Einsseins mit allem Lebendigen zu kommen, und doch gleichzeitig sich als die separate Ganzheit, die man ist, als das In-dividuum, das Ungeteilte, zu erleben. Wohl-Sein bedeutet, ganz geboren zu sein und das zu werden, was man potenziell ist. Es bedeutet, Freude und Traurigkeit unbeeinträchtigt empfinden zu können, oder noch anders ausgedrückt, aus dem Halbschlaf zu erwachen, in dem der Durchschnittsmensch sein Leben führt, und hellwach zu sein.
Wenn Wohl-Sein das alles ist, so bedeutet es auch, schöpferisch zu sein, das heißt, als der wirkliche, ganze Mensch, der ich bin, auf mich, auf andere, auf alles Existierende, so wie er oder es wirklich ist, zu reagieren und einzugehen. In diesem wahren Eingehen liegt das Schöpferische, es bedeutet, die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie gleichzeitig als meine Welt zu sehen, als die Welt, die durch mein schöpferisches Begreifen geschaffen und verwandelt wurde, so dass sie nicht mehr eine fremde Welt „dort drüben“ ist, sondern zu meiner Welt wird. Wohl-Sein bedeutet endlich, dass man sein Ich fallen lässt, seine Gier abstreift, nicht mehr der Erhaltung und Mehrung des Ich nachjagt, dass man ist und sich selbst im Sein, und nicht in dem erfährt, was wir haben, bewahren, begehren, gebrauchen.
Ich habe in den vorstehenden Bemerkungen auf die parallele Entwicklung des Einzelnen und der Religionen in der Geschichte hingewiesen. Da sich diese Arbeit mit dem Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Zen-Buddhismus befasst, ist es meiner Ansicht nach notwendig, wenigstens einige psychologische Aspekte der Entwicklung der Religion eingehender zu behandeln.
Ich habe gesagt, dass dem Menschen allein durch die Tatsache seiner Existenz eine Frage gestellt wird, die der Widerspruch in ihm selbst aufwirft – der Widerspruch, dass er in der Natur ist und gleichzeitig dadurch über die Natur hinausgeht, dass er das sich seiner selbst bewusste Leben ist. Jeder Mensch, der auf diese ihm gestellte Frage hört und für den es eine Angelegenheit ist, die ihn unbedingt angeht, diese Frage als ganzer Mensch und nicht nur in Gedanken zu beantworten, der ist ein „religiöser“ Mensch; und alle Systeme, die versuchen, solche Antworten zu geben, zu lehren und zu vermitteln, sind „Religionen“. Andererseits ist jeder Mensch – und jede Kultur –, der versucht, sich gegenüber der Existenzfrage taub zu stellen, unreligiös. Das beste Beispiel für Menschen, die taub sind gegenüber der Frage, die uns das Dasein stellt, sind wir selbst, die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir versuchen, dieser Frage auszuweichen, indem wir uns mit Besitz, Prestige, Macht, [VI-317] Produktion und Vergnügen befassen, und schließlich, indem wir versuchen zu vergessen, dass wir – ich – existieren. Es ist gleichgültig, wie oft jemand an Gott denkt oder zur Kirche geht, oder wie fest er an religiöse Anschauungen glaubt. Wenn er, der ganze Mensch, gegen die Frage der Existenz taub ist und keine Antwort darauf hat, tritt er auf der Stelle, und er entsteht und vergeht wie eines der Millionen Dinge, die er erzeugt. Er denkt an Gott, anstatt die Erfahrung des Gott-Seins zu machen.
Es ist jedoch irreführend zu glauben, die Religionen hätten notwendigerweise etwas Gemeinsames außer der Bestrebung, irgendeine Antwort auf die Frage des Seins zu geben. Was den Gehalt der Religionen betrifft, gibt es keinerlei Einheitlichkeit; im Gegenteil, es gibt zwei grundlegend verschiedene Antworten, die oben in Bezug auf das Individuum bereits erwähnt wurden: Die eine Antwort besagt, man solle zur vormenschlichen, vorbewussten Existenz zurückkehren, die Vernunft abschaffen, zu einem Tier werden und so wieder mit der Natur eins werden. Die Formen, in denen dieses Bestreben zum Ausdruck kommt, sind vielgestaltig.
Auf der einen Seite gibt es Erscheinungen, wie wir sie in den germanischen Geheimgesellschaften der „Berserker“ (wörtlich: Bärenhemden) finden, die sich mit Bären identifizierten und in denen ein junger Mann bei seiner Einweihung „seine menschliche Natur in einem Anfall aggressiver und furchterregender Wut, der ihn dem rasenden Raubtier ähnlich machte, umwandeln musste“ (M. Eliade, 1961, S. 119°f.). (Dass diese Tendenz, zur vormenschlichen Einheit mit der Natur zurückzukehren, keineswegs auf primitive Gesellschaften beschränkt ist, wird deutlich, wenn wir die „Bärenhemden“ mit Hitlers „Braunhemden“ vergleichen. Während ein großer Teil der Anhänger der Nationalsozialistischen Partei ganz einfach aus weltlichen, opportunistischen, unbarmherzigen und machtgierigen Politikern, Junkern, Generalen, Geschäftsleuten und Bürokraten bestand, unterschied sich der Kern, durch das Triumvirat Hitler, Himmler und Goebbels repräsentiert, im wesentlichen nicht von den primitiven „Bärenhemden“, die von einer „heiligen“ Wut getrieben wurden und die Zerstörung als höchste Erfüllung ihrer religiösen Vision sahen. Diese „Bärenhemden“ des zwanzigsten Jahrhunderts, die die „Ritualmord“-Legende über die Juden wiederaufleben ließen, projizierten damit in Wirklichkeit einen ihrer eigenen tiefsten Wünsche: den Ritualmord. Zuerst begingen sie Ritualmorde an den Juden, dann an fremden Völkern, dann am deutschen Volk selbst, und schließlich mordeten sie ihre eigenen Frauen und Kinder und sich selbst im letzten Ritus der vollständigen Zerstörung.) Es gibt viele andere weniger archaische religiöse Formen, die nach der vormenschlichen Einheit mit der Natur streben. Man findet sie in Kulten, in denen der Stamm mit einem Totemtier identifiziert wird, in religiösen Systemen, die der Verehrung von Bäumen, Seen, Höhlen usw. geweiht sind, und in orgiastischen Kulten, deren Ziel die Auslöschung von Bewusstsein, Vernunft und Gewissen ist. In all diesen Religionen ist das Heilige das, was zur Vision einer Verwandlung des Menschen in einen vormenschlichen Teil der Natur gehört; der „heilige Mann“ (zum Beispiel der Schamane) ist der, der in der Verwirklichung dieses Zieles am weitesten gekommen ist.
Den anderen Pol repräsentieren alle jene Religionen, die die Antwort auf die Frage des menschlichen Seins darin suchen, die vormenschliche Existenz vollkommen hinter sich zu lassen, die spezifisch menschlichen Fähigkeiten der Vernunft und Liebe [VI-318] zu entwickeln und so eine neue Harmonie zwischen Mensch und Natur – und zwischen Mensch und Mensch – zu finden. Obgleich solche Bemühungen auch bei Individuen relativ primitiver Gesellschaften festzustellen sind, so scheint doch die große Trennlinie für die gesamte Menschheit in der Zeit von ungefähr 2000 v. Chr. und dem Beginn unserer Ära zu liegen. Der Taoismus und Buddhismus im Fernen Osten, Echnatons religiöse Revolution in Ägypten, die Religion Zarathustras in Persien, die Mosaische Religion in Palästina, die Quetzalcoatl-Religion in Mexiko (vgl. L. Séjournée, 1957), sie alle kennzeichnen die vollständige Wendung, die die Menschheit gemacht hat.
Alle diese Religionen suchen die Einheit – nicht die regressive Einheit, die durch Rückkehr zur vor-individuellen, vorbewussten Harmonie des Paradieses gefunden wird, sondern die Einheit auf einer neuen Ebene, die der Mensch nur erreichen kann, nachdem er seine Getrenntheit empfunden und das Stadium der Entfremdung von sich selbst und von der Welt durchlaufen hat und ganz geboren wurde. Eine Voraussetzung dieser neuen Einheit ist die volle Entwicklung der Vernunft des Menschen bis zu einem Stadium, in dem sie ihn nicht mehr daran hindert, die Realität unmittelbar und intuitiv zu erfassen. Für dieses Ziel, das vor uns liegt und nicht in der Vergangenheit, gibt es viele Symbole: Tao, Nirwana, Erleuchtung, das Gute, Gott. Die Unterschiede in diesen Symbolen gehen auf die gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede in den einzelnen Ländern zurück, in denen sie entstanden sind. In der westlichen Tradition wurde als Symbol für „das Ziel“, die autoritäre Gestalt des höchsten Königs oder des höchsten Stammeshäuptlings gewählt. Jedoch schon zu Zeiten des Alten Testaments änderte sich diese Gestalt vom willkürlichen Herrscher zum Herrscher, der durch den Bund und die darin enthaltenen Versprechungen dem Menschen gegenüber verpflichtet ist. In der prophetischen Literatur wird das Ziel als neue Harmonie zwischen Mensch und Natur in der messianischen Zeit gesehen; im Christentum offenbart sich Gott als Mensch; in der Philosophie von Maimonides sowie in der Mystik sind die anthropomorphen und autoritären Elemente fast vollständig eliminiert, wenn sie auch in den populären Formen der westlichen Religionen ohne wesentliche Änderung beibehalten wurden.
Was das jüdisch-christliche und das zen-buddhistische Denken gemeinsam haben, ist das Bewusstsein, dass ich meinen „Willen“ (in der Bedeutung meines Verlangens, die Welt außerhalb und in mir zu zwingen, zu lenken und zu unterdrücken) aufgeben muss, um vollständig offen, aufnahmefähig, wach und lebendig zu sein. In der Terminologie des Zen heißt das oft „sich leer machen“ – was nichts Negatives bedeutet, sondern die Offenheit, um etwas aufzunehmen. In der christlichen Terminologie heißt es „sich abtöten und dem Willen Gottes beugen“. Es scheint zwischen der christlichen und der buddhistischen Erfahrung, die hinter diesen beiden verschiedenen Formulierungen steckt, wenig Unterschied zu geben. Nach der populären Auslegung und Erfahrung bedeutet diese Formulierung jedoch, dass der Mensch, anstatt selbst Entscheidungen zu treffen, diese Entscheidungen einem allwissenden und allmächtigen Vater überlässt, der über ihn wacht und weiß, was für ihn gut ist. Es ist klar, dass der Mensch durch diese Erfahrung nicht offen und aufnahmefähig, sondern gehorsam und unterwürfig wird. Dem Willen Gottes zu folgen, im Sinne einer wahren [VI-319] Aufgabe des Egoismus, gelingt am besten, wenn es keinen Gottesbegriff gibt. Paradoxerweise folge ich dann dem Willen Gottes richtig, wenn ich Gott selbst vergesse. Die Auffassung des Zen von der Lehre hat die richtige Bedeutung, dass man seinen Willen aufgibt, jedoch ohne die Gefahr eines Rückschrittes zu dem götzenhaften Begriff eines helfenden Vaters.
Im vorigen Kapitel habe ich versucht, die Vorstellungen vom Menschen und der menschlichen Existenz zu umreißen, die den Zielen der humanistischen Psychoanalyse zugrunde liegen. Die Psychoanalyse hat diese allgemeinen Vorstellungen jedoch mit anderen philosophischen oder religiösen humanistischen Auffassungen gemeinsam. Wir müssen nun beschreiben, wie die Psychoanalyse im besonderen versucht, ihr Ziel zu erreichen.