Zusammenfassung
Ein paar der vorgestellten Persönlichkeiten, etwa Sigmund Freud oder C. G. Jung, durften auf keinen Fall fehlen, bei anderen hat meine Auswahl durchaus subjektive Anteile. Einige Gründergestalten musste ich weglassen, und das gilt ebenso für etliche Forscherinnen und Forscher, die sich mit den verschiedenen wissenschaftlichen Aspekten der Psychologie beschäftigt haben, ohne eine Therapieform zu begründen. Aus Platzgründen konnte all dies hier leider nicht berücksichtigt werden.
Vielen Leserinnen und Lesern wird auffallen, dass vergleichsweise wenige Frauen vorgestellt werden. Das hat mit dem Umstand zu tun, dass es im psychotherapeutischen Bereich deutlich mehr „Gründerväter“ als „Gründermütter“ gibt, obwohl dieses Berufsbild von vielen hervorragenden Therapeutinnen, Forscherinnen und Autorinnen geprägt wurde und bis heute geprägt wird.
Sicherlich ist dieses Missverhältnis der Tatsache geschuldet, dass es für Frauen in der Zeit, in der die wichtigen „Therapieschulen“ entstanden, also vom Ende des 19. bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, noch schwieriger war als heute, Karriere zu machen, Führungspositionen einzunehmen und bekannt zu werden.
Auf jeden Fall hoffe ich, die Neugier meiner Leserinnen und Leser auf die Lebensgeschichten einiger ungewöhnlicher Persönlichkeiten zu wecken, aus denen manch ein Ansatz und manch ein Gedanke hervorging, der uns vielleicht auch heute noch etwas sagen kann.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Der kleine Taschenpsychologe: Von Freud bis Watzlawick
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1) Tiefenpsychologische Ansätze: Die Macht des Unbewussten
- Sigmund Freud: Triebe und Ängste beherrschen den Menschen (Psychoanalyse)
- Carl Gustav Jung: Von Komplexen und Archetypen (Analytische Psychologie)
- Alfred Adler: Machtstreben und Ohnmachtsgefühle (Individualpsychologie)
- Anna Freud: Unterstützung beim Nachreifen (Psychoanalyse bei Kindern)
- Tiefenpsychologische Therapieformen gestern und heute
- 2) Lernpsychologische Ansätze: Orientierung an den Naturwissenschaften
- Iwan P. Pawlow: Von Hunden und Menschen (Klassische Konditionierung)
- Burrhus F. Skinner: Von unerwünschten zu erwünschten Verhaltensweisen kommen (Operante Konditionierung)
- Aaron T. Beck: Systematisch aus dem seelischen Tief herausfinden (Kognitive Verhaltenstherapie bei Depression)
- Verhaltenstherapeutische Therapieformen gestern und heute
- 3) Humanistische, hypnotherapeutische und körperorientierte Ansätze: Aufbruch zu neuen Ufern
- Carl Rogers: Der Klient weiß selbst am besten, was ihm hilft (Gesprächspsychotherapie)
- Jakob L. Moreno: In verschiedene Rollen schlüpfen (Psychodrama)
- Fritz Perls: Freundliche Provokationen und andere Experimente (Gestalttherapie)
- Milton Erickson: Das Unbewusste ansprechen (Hypnotherapie)
- Wilhelm Reich: Heilung über die physiologische Ebene (Körpertherapie)
- Humanistische, hypnotherapeutische und körperorientierte Therapieformen gestern und heute
- 4) Familientherapeutische Ansätze und paradoxe Methoden: Das ganze System steht im Mittelpunkt
- Virginia Satir: Allen Familienmitgliedern hilfreich zur Seite stehen (Wachstumsorientierte Familientherapie)
- Mara Selvini Palazzoli: Heilsame Verwirrung stiften (Strategische Familientherapie)
- Paul Watzlawick: Kommunikationsregeln und die Wahrnehmung der Welt (Konstruktivismus)
- Familientherapeutische Therapieformen gestern und heute
- Zum Weiterlesen
Einleitung
Der kleine Taschenpsychologe beschäftigt sich mit den wichtigsten Gründergestalten der Psychotherapie, stellt in Kurzform Leben, Ideen und Werk vor und beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich das jeweilige Gedankengebäude bis in die Gegenwart auf die Gesellschaft und auf die Behandlung seelischer Störungen ausgewirkt hat.
Ein paar der vorgestellten Persönlichkeiten, etwa Sigmund Freud oder C. G. Jung, durften auf keinen Fall fehlen, bei anderen hat meine Auswahl durchaus subjektive Anteile. Einige Gründergestalten musste ich weglassen, und das gilt ebenso für etliche Forscherinnen und Forscher, die sich mit den verschiedenen wissenschaftlichen Aspekten der Psychologie beschäftigt haben, ohne eine Therapieform zu begründen. Aus Platzgründen konnte all dies hier leider nicht berücksichtigt werden.
Vielen Leserinnen und Lesern wird auffallen, dass vergleichsweise wenige Frauen vorgestellt werden. Das hat mit dem Umstand zu tun, dass es im psychotherapeutischen Bereich deutlich mehr „Gründerväter“ als „Gründermütter“ gibt, obwohl dieses Berufsbild von vielen hervorragenden Therapeutinnen, Forscherinnen und Autorinnen geprägt wurde und bis heute geprägt wird.
Sicherlich ist dieses Missverhältnis der Tatsache geschuldet, dass es für Frauen in der Zeit, in der die wichtigen „Therapieschulen“ entstanden, also vom Ende des 19. bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, noch schwieriger war als heute, Karriere zu machen, Führungspositionen einzunehmen und bekannt zu werden.
Auf jeden Fall hoffe ich, die Neugier meiner Leserinnen und Leser auf die Lebensgeschichten einiger ungewöhnlicher Persönlichkeiten zu wecken, aus denen manch ein Ansatz und manch ein Gedanke hervorging, der uns vielleicht auch heute noch etwas sagen kann.
1) Tiefenpsychologische Ansätze: Die Macht des Unbewussten
Zunächst werden die historisch frühesten modernen Therapieformen beschrieben, beginnend mit den Theorien und Forschungen des „Vaters der Psychoanalyse“, Sigmund Freud, Ende des 19. Jahrhunderts. Einige seiner ehemaligen Mitarbeiter haben eigene, mehr oder weniger tiefenpsychologische Richtungen entwickelt, von denen die wichtigsten ebenfalls dargestellt werden.
Meistens steht die Bewältigung von Problemen und Konflikten aus der Vergangenheit des Patienten im Zentrum. Die Erfahrungen der früheren Kindheit gelten oft als besonders wichtig, und neben bewussten Erkenntnissen sind die unbewussten Prozesse beim Klienten entscheidend für den Behandlungserfolg.
Sigmund Freud: Triebe und Ängste beherrschen den Menschen (Psychoanalyse)
Sein Leben
Sigmund Freud, der bis heute bekannteste Psychotherapieschulengründer, wurde 1856 als ältestes Kind seiner Eltern im heutigen Tschechien geboren und lebte die meiste Zeit in Wien. Er wuchs mit zwei Halbbrüdern und sechs leiblichen Geschwistern auf und war, wie es hieß, der Liebling seiner Mutter. Ursprünglich hieß er Sigismund, bis er 1878 seinen Vornamen ändern ließ.
Es wird berichtet, dass Freud als Junge davon träumte, später einmal ein General oder ein berühmter Minister zu sein. Doch als Erwachsener war ihm, dem säkularen Juden, klar, dass die höheren militärischen und politischen Kreise in Österreich oft stark antisemitisch und nationalistisch dachten. Hier hätte er keine beruflichen Chancen gehabt. Stattdessen studierte Freud Medizin, denn er hoffte, dass diese Kreise weniger anfällig für rechte Ideologien seien.
Als Medizinstudent, während der Jahre 1873 bis 1881, beschäftigte sich Sigmund Freud mit den Arbeiten des damals bekannten Physiologen Ernst Brücke, der davon ausging, dass der Mensch ein dynamisches, ausschließlich materielles System ist, das nach dem Prinzip der Erhaltung von Energie funktioniert. Diese Theorie machte Freud später zur Grundlage seiner Ideen darüber, was den Menschen ausmacht, was ihn antreibt und was ihn häufig davon abhält, seinen Trieben zu folgen.
Nach seiner Promotion arbeitet Freud ab 1882 als Arzt im Krankenhaus. 1885 beeindrucken ihn während eines einjährigen Studienaufenthalts bei dem berühmten Mediziner Jean M. Charcot (1825 – 1893) in Paris Schicksale von Patienten mit seelischen Erkrankungen ohne organischen Befund.
In der sinnesfeindlichen spätviktorianischen Zeit Ende des 19. Jahrhunderts traten besonders viele charakteristische seelische Störungen auf, die man unter dem Begriff „Hysterie“ zusammenfasste. Ein seinerzeit aktuelles Beispiel wäre ein junges Mädchen, das jedes Mal wenn es eine sexuelle Phantasie hat, ohnmächtig zusammenbricht. Der Konflikt zwischen dem erotischen Wunsch und dem Verbot solcher Bedürfnisse im ausgehenden 19. Jahrhundert, so erklärt es Freuds Psychoanalyse, wird durch die „Übersetzung“ in einen kranken körperlichen Zustand entschärft. Außerdem empfindet die Umgebung des Mädchens nach dem Zusammenbruch wahrscheinlich Mitgefühl und unterstützt es.
Bei der Therapie solcher Störungen erwies sich Hypnose, durchgeführt von einem erfahrenen Hypnotiseur, als relativ wirksam. Zunächst übernahm Freud vieles aus der Hypnosetherapie Charcots für die eigene neue Behandlungsform der Psychoanalyse, später wandte er sich eher davon ab. Er hielt es für sinnvoller, dass seine Patienten ihre Konflikte aktiv durcharbeiten, als dass ihnen jemand, etwa ein Hypnotiseur, die Probleme gleichsam wegsuggeriert.
Seit 1885 arbeitete Sigmund Freud zudem als Dozent für Neuropathologie. Von 1886 bis 1897 leitete er die neurologische Abteilung eines Kinderkrankenhauses, ab 1902 war er Professor an der Universität von Wien.
Zunächst betrieb er hirnanatomische Forschungen und entdeckte die schmerzbetäubende Wirkung des Kokains. Den Gebrauch dieses Rauschmittels empfahl er unverantwortlich lange, bis er selbst ein Drogenproblem hatte und schließlich, nach dessen Bewältigung, einräumen musste, dass regelmäßiger Kokainkonsum eine Vielzahl negativer Folgen mit sich bringt. Heute ist bekannt, dass dazu seelische Abhängigkeiten, Wahnzustände und Organschädigungen gehören können.
In Wien eröffnet Freud schließlich eine Praxis, in der er die in den letzten Jahren theoretisch formulierte Lehre der Psychoanalyse praktisch anwendet. Dem war eine sogenannte Eigenanalyse vorangegangen, die Sigmund Freud, da es in dem neuentwickelten Verfahren noch keine versierten Kollegen gab, bei sich selbst durchführen musste. Hier ging es um eine jahrelange Selbsterfahrungsphase, die noch heute den vielleicht wichtigsten Teil der Analytikerausbildung ausmacht und in allen späteren Fällen bei einem psychoanalytisch geschulten Supervisor stattfinden würde, was dem Ausbildungskandidaten dabei helfen sollte, die Ursachen für seine eigenen seelischen Probleme zu erkennen und, wenn möglich, therapeutisch aufzulösen. Freud hingegen lag damals sozusagen bei sich selbst auf der Couch.
Parallel dazu veröffentlichte er eine Vielzahl von Studien, Artikeln und Büchern, in denen er seine Weltsicht beschrieb. Sein möglicherweise berühmtestes Buch ist „Traumdeutung“, das er eigentlich 1899 veröffentlicht hatte, aber aus Gründen des Effekts auf das Jahr 1900 vordatierte. In ihm beschreibt Sigmund Freud, welche Wege das Unbewusste gehen kann, um Wünsche, Ängste und Konflikte auszudrücken und deren wahren Kern gleichzeitig zu verhüllen.
Einmal stellt sich Freud in eine Reihe mit Kopernikus, der mit der Illusion aufräumte, die Erde sei der Mittelpunkt des Sonnensystems, und mit Darwin, der die Menschheit der Vorstellung beraubte, die Welt sei innerhalb von einigen Tagen aus dem Nichts geschaffen worden, wie es verschiedene Religionen formuliert haben. Er selbst, so Freud, habe mit der Idee aufgeräumt, der Mensch sei kraft seines freien Willens „Herr im eigenen Haus“, wo doch in Wirklichkeit das Unbewusste die wichtigsten Vorgänge innerhalb und zwischen den Individuen steuere. Bescheidenheit galt nicht als eine von Freuds bemerkenswerten Persönlichkeitseigenschaften, auch wenn er kein General oder Minister geworden war.
1902 hatte er die Psychologische Mittwochs-Gesellschaft in Wien gegründet, deren Mitglieder sich Mitte der Woche trafen und sowohl das Welterklärungsmodell als auch die Therapieform der Psychoanalyse weiterentwickeln wollten. Dieser Zirkel sollte 1908 in einem Verein mit dem Namen „Wiener Psychoanalytische Vereinigung“ aufgehen, 1910 global erweitert zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
In den verschiedenen Gesellschaften erinnerte Freuds Vorgehensweise bei Auseinandersetzungen mit den Kollegen, bei Konflikten, die sich zumeist an Abweichungen von der reinen Lehre der Psychoanalyse festmachten, tatsächlich ein wenig an einen General, der unbotmäßige Untergebene am liebsten herauswirft und sich gerne mit bedingungslosen Anhängern umgibt: Innerhalb weniger Jahre waren Freuds möglicherweise brillanteste Schüler, C. G. Jung, Alfred Adler und Wilhelm Reich, nicht mehr Mitglied der psychoanalytischen Vereinigungen.
Neben der rasanten Verbreitung seiner Lehre musste Sigmund Freud auch mehrere Schicksalsschläge hinnehmen, wie den Verlust sämtlicher Ersparnisse durch die Folgen des Ersten Weltkriegs (1919) und den Tod einer Tochter, die 1920 schon im Alter von 26 Jahren starb. Gegenüber seinen sechs Kindern soll Freud sehr liebevoll gewesen sein, und die jüngste Tochter, Anna, trat sogar in seine Fußstapfen und wurde selbst eine berühmte Theoretikerin und Psychotherapeutin.
1933 verbrannten die Nazis in Deutschland Freuds Bücher, was neben seiner jüdischen Herkunft auch mit dem Umstand zu tun hatte, dass den Rechtsextremisten seine emanzipatorischen Ideen und die Feststellung aggressiver und sexueller Motive hinter allem, was ein Mensch vorgibt, für einen anderen, für ein Volk oder eine Gemeinschaft zu tun, nicht geheuer waren. Um den Preis der Kollaboration mit dem NS-Regime ließ man dennoch die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Reich fortbestehen, die 1935 willig ihre jüdischen Mitglieder ausschloss und bald in der Bedeutungslosigkeit endete.
Freud floh mit seiner Familie 1938 nach London, nachdem seine Arbeitsbedingungen immer schlechter geworden waren und die SA seine Wohnung durchsucht hatte. Während der letzten Lebensjahre setzte der Begründer der Psychoanalyse trotz chronischer Krebsschmerzen seine publizistischen und therapeutischen Tätigkeiten fast bis zuletzt fort. Sigmund Freud erlag 1939 im Alter von 83 Jahren einem Mundkrebsleiden, wenige Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Menschenbild, wichtige Ideen und ihre Auswirkungen
Sigmund Freuds Persönlichkeitstheorie entspricht ihrem Erfinder im Pessimismus, der ihr zugrunde liegt. Einmal schrieb er: „Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“ Das Beste, was jemand für sich erreichen könne, ob durch eine Psychoanalyse oder auf andere Weise, sei es, irgendwann liebes- und arbeitsfähig zu sein.
Die Freudsche Psychoanalyse basiert auf der Idee, dass der Mensch ein Energiesystem ist. Die seelische Energie kann frei fließen, aber auch auf einen Nebenstrang geschoben oder an einer bestimmten Stelle aufgestaut werden. Wenn seelische Energie zu einem speziellen Zweck eingesetzt wird, steht davon für andere Bereiche weniger zur Verfügung. Menschliches Verhalten ist grundsätzlich rückführbar auf gemeinsame sexuelle oder aggressive Energieformen.
Innere Motive richten sich hier auf das Erleben von Lust, beschrieben als eine Verringerung von Spannung bei gleichzeitiger Freisetzung von Energie. Diese Lustenergie nennt Freud „Libido“. Später, nach den schlimmen Erfahrungen im und nach dem Ersten Weltkrieg, ging Freud davon aus, dass es außerdem noch einen Destruktions- oder Todestrieb gebe, den er mit dem Namen „Thanatos“ versah.
In dieser Sichtweise wird der Mensch von sexuellen und aggressiven Trieben beherrscht. Er strebt zunächst eine Übereinstimmung mit dem sogenannten Lustprinzip an, das sich an einer uneingeschränkten Befriedigung der eigenen Wünsche orientiert. Die entsprechende innere Instanz, der entsprechende Persönlichkeitsaspekt wird von Freud „Es“ genannt.
Hemmungslos lustorientierte Verhaltensweisen widersprechen jedoch im Allgemeinen den Anforderungen der Außenwelt bei Erwachsenen und den Erwartungen der Eltern bei kleinen Kindern. Diesen Gegenpol zum Es bezeichnete Freud mit dem Begriff „Über-Ich“. Hierbei geht es um eine Instanz, die normalerweise mit Schuldgefühlen und Schuldgedanken auf jeden Wunsch nach einer Missachtung der gesellschaftlichen Richtlinien reagiert.
Die Vermittlung zwischen Es und Über-Ich obliegt einer dritten Instanz, dem „Ich“. Während das Es nach dem Lustprinzip funktioniert, entspricht das Ich dem sogenannten Realitätsprinzip, einer Haltung, die unsere Träume an der Wirklichkeit misst und sie daran anpassen will. Zwischen den Wünschen des Es und den Ge- oder Verboten des Über-Ich versuchen wir also nach Freud im Laufe des Erwachsenwerdens unser Ich aufzubauen, was uns, je nachdem wie neurotisch wir sind, mehr oder weniger gut gelingt.
Psychische Schwierigkeiten entstehen nach Freud, wenn die Wünsche des Es so stark mit den Forderungen des Über-Ichs kollidieren, dass die seelische Energie in unbefriedigender Weise abgebremst und sozusagen in eine Sackgasse umgeleitet wird. Es gibt eine ganze Palette neurotischer Abwehrmechanismen, die dazu beitragen, das unterdrückte Bedürfnis (bzw. die Angst davor) kaum noch wahrzunehmen oder die entsprechenden Gefühle in ungefährlichere Bahnen zu lenken.
Zu diesen Abwehrmechanismen gehört zum Beispiel die Rationalisierung. Hier redet sich jemand seine wirklichen Bedürfnisse aus, indem er sie rational rechtfertigt. Wer im übertragenen Sinn nicht an die Trauben, die zu hoch für ihn wachsen, herankommt, kann sich zum Beispiel vor dem Gefühl, versagt zu haben, dadurch schützen, indem er sich klar macht, dass die Trauben so sauer gewesen wären, dass sie ihm sowieso nicht geschmeckt hätten.
Ein anderer Abwehrmechanismus ist die Verleugnung. Hier schützt man sich vor einer kaum erträglichen Wirklichkeit, indem man sie, zumindest kurzfristig, ableugnet. Der Ausruf „Das darf doch nicht wahr sein“ verdeutlicht diese Haltung.
Ein drittes und besonders wichtiges Beispiel für die Vielzahl von Abwehrmechanismen, die Freud und seine Schüler gefunden haben, ist die Verdrängung. Das, was für mein Ich nicht zu ertragen ist, vielleicht ein Trauma, das ich irgendwann erlitten habe, oder etwas, das in mir starke Schuldgefühle auslöst, „vergesse“ ich, indem ich es aus meinem Bewusstsein streiche und ins Unbewusste verschiebe. Dadurch, dass es sich nicht an das Problem oder den Konflikt erinnern kann, hält sich mein Ich von den entsprechenden Anfechtungen frei. Der Selbstschutzaspekt spielt in solchen Fällen oft eine entscheidende Rolle.
Nur einen Abwehrmechanismus hält Freud für völlig unproblematisch, die sogenannte Sublimierung. Wer seine Triebenergien sublimiert, wer sie nutzen kann, konstruktiv und ohne jemandem zu schaden, ob für zwischenmenschliche, berufliche, kulturelle, intellektuelle oder auf ein Hobby bezogene Zwecke, lenkt damit seine aggressiven oder libidinösen, also auf die Libido bezogenen Triebe auf sinnvolle, der Gemeinschaft angemessene Ziele.
Eine andere entscheidende Grundlage der Freudschen Psychoanalyse ist die Lehre der verschiedenen Bewusstseinszustände. Als Bewusstes bezeichnet Freud alle vollständig bewussten Anteile unserer Wahrnehmung. Das Vorbewusste, heute weniger bekannt, bezieht sich auf Erlebnisse, die wir uns grundsätzlich bewusst machen können, während das Unbewusste alle Erfahrungen beinhaltet, die uns nicht bewusst sind und die nur in besonderen seelischen Zuständen sichtbar werden, vor allem im Traum und in Wahnzuständen (Psychosen). Den Traum und die Entschlüsselung seiner Symbole bezeichnete Freud als „Königsweg zum Unbewussten“.
Das Unbewusste, wie es im Traum erlebt werden kann, ist nicht logisch, denn das Gleiche kann auch durch sein Gegenteil ausgedrückt werden. Es ignoriert außerdem reale Orts-, Größen- und Zeitunterschiede.
Freud machte in seiner Praxis die Erfahrung, dass es seinen Patienten oft besser ging, nachdem sie von ihren Problemen erzählt hatten. Ein solches Wiedererleben und Bewältigen von Gefühlen, indem man von den eigenen Schwierigkeiten berichtet, nennt man Katharsis. Mit den Jahren entwickelte Sigmund Freud eine noch heute wohlbekannte therapeutische Methode, die, wie er fand, besonders gut dazu geeignet war, kathartische Reaktionen hervorzurufen und den Patienten bei der Heilung zu unterstützen.
Der Analysand soll sich auf eine Couch legen, seinen Blick zur Decke wenden, um Ablenkungen zu minimieren, und erzählen, was ihm in den Sinn kommt. Diese Technik nannte Freud freie Assoziation. Manchmal geht es hier um aktuelle Erlebnisse, manchmal um Erinnerungen, Phantasien oder Nachtträume, wobei der Patient darum gebeten wird, nach Möglichkeit nichts von dem, was ihm gerade einfällt, bewusst zu zensieren. Gelegentlich fragt der Analytiker, der sich traditionell an der Kopfseite des Sofas Notizen macht, nach, ab und an deutet er das Gehörte, indem er es in einen erhellenden Sinnzusammenhang stellt. Auf diese Weise sollen die wichtigsten Konflikte des Analysanden, die nach Freud in der frühen Kindheit wurzeln, wiedererinnert, durchgearbeitet und bewältigt werden.
Bis heute wird der therapeutischen Beziehung zwischen Analytiker und Patient viel Beachtung geschenkt, ebenso dem, was das Gegenüber in der Sitzung emotional in beiden Beteiligten auslöst. (Die Tiefenpsychologie spricht von „Übertragung“ beim Patienten und von „Gegenübertragung“ beim Therapeuten.) Ziel ist häufig, zu Freuds Zeiten wie in der Gegenwart, eine Nachreifung der Persönlichkeit, mehr Autonomie und weniger neurotisches Leid.
Diese Behandlungsform existiert bis heute und wird in Deutschland „Große Psychoanalyse“ genannt. Neben dem Liegen auf der Couch ist hier die lange Therapiedauer und die hohe Zahl an Behandlungsstunden charakteristisch, nämlich bis zu fünf Sitzungen pro Woche über mehrere Jahre. Daneben gibt es inzwischen psychoanalytische Therapien (auch „tiefenpsychologisch fundiert“ genannt), die höchstens ein oder zwei Jahre dauern. Hier beschränkt man sich zumeist auf einen Termin pro Woche. Bei schwereren Störungen, die Sigmund Freud noch für „nicht analysefähig“ hielt, empfiehlt es sich, dass Analytiker und Analysand einander gegenübersitzen, vor allem damit der Patient nicht Gefahr läuft, beim freien Assoziieren und Zur-Decke-Gucken den Kontakt zur Realität zu verlieren.
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts stieß insbesondere Freuds Behauptung, Kinder hätten eine eigene Sexualität und begehrten mit vier bis fünf Jahren im Rahmen des „ödipalen Konflikts“ den gegengeschlechtlichen Elternteil, während sie den gleichgeschlechtlichen Elternteil als Rivalen betrachteten, auf wütenden Protest konservativer und kirchennaher Kreise. Heute, ungefähr hundert Jahre später, sind diese Ideen zumindest in aufgeklärten Kreisen der Industriestaaten Teil der Allgemeinbildung.
Allerdings wurde Freud in den 1980er Jahren kritisiert, weil er hundert Jahre zuvor wegen des unerträglichen massiven Widerstands der Öffentlichkeit schnell von seiner ursprünglichen Idee abgerückt war, vor allem die sexuellen Schilderungen seiner weiblichen Patienten basierten auf realen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Nachdem seine Karriere ernsthaft zu scheitern drohte, sprach Sigmund Freud nur noch davon, dass es hier um sexuelle Phantasien von Kindern gegenüber Erwachsenen in einer dafür typischen Lebensphase gehe, die keinesfalls einen realen Hintergrund hätten.
Vieles von dem, was Sigmund Freud über die menschliche Existenz sagte, ist heute noch sehr aktuell, etwa die meisten Aussagen über das Unbewusste, die sich durch die modernen Neurowissenschaften bestätigen ließen. Anderes, zum Beispiel der Gedanke, jede Frau sei irgendwann in ihrer frühen Entwicklung eifersüchtig auf die Anatomie von Bruder oder Vater („Penisneid“), erwies sich als unzutreffend und ideologisch.
Bis heute bilden Freuds Theorien den Hintergrund der psychoanalytischen Therapie, deren Wirksamkeit in etlichen wissenschaftlichen Studien bewiesen werden konnte – mit Ausnahme von Behandlungen, die viele Jahre dauern. Bei den letztgenannten haben sich die wichtigsten Veränderungen zum Positiven entweder schon in den ersten Monaten gebildet, oder es kommt kaum noch zu Verbesserungen. (In Einzelfällen und bei sehr schweren psychischen Störungen kann dies allerdings anders sein.)
Bis zur Gegenwart wird der therapeutischen Beziehung zwischen Analytiker und Patient viel Beachtung geschenkt, ebenso wie dem, was das Gegenüber in der Sitzung emotional bei beiden Beteiligten auslöst. Ziel ist häufig, zu Freuds Zeiten wie in der Gegenwart, eine Nachreifung der Persönlichkeit, mehr Autonomie und weniger neurotisches Leid.
Bei allen therapeutischen oder wissenschaftlichen Erfolgen hat Sigmund Freuds Lehre auch einiges von einem Glaubenssystem. Jemand, der zum Beispiel die Vorstellung von einem „Es“, das in ständigem Widerstreit mit einem „Über-Ich“ steht, absurd findet, wird sich durch noch so differenzierte psychologische Argumente nicht davon überzeugen lassen, dass die Psychoanalyse mehr ist als ein Gedankengebäude. Auf der anderen Seite haben psychoanalytische Überlegungen nicht nur unsere Kultur verändert, ob im Bereich des Films, der Literatur oder der Malerei, sondern auch und vor allem unser Bild von uns selbst.
Carl Gustav Jung: Von Komplexen und Archetypen (Analytische Psychologie)
Sein Leben
Carl Gustav Jung, der wahrscheinlich berühmteste „abtrünnige“ Freud-Schüler, wurde 1875 im schweizerischen Kanton Thurgau geboren. Er hat die Sicht vieler Menschen ein Stück weit verändert, ähnlich wie Freud, aber mit einer ziemlich unterschiedlichen Ideenwelt im Hintergrund.
Jung, der seine Vornamen meist mit „C. G.“ abkürzte, wuchs in einer verklemmten, puritanisch orientierten, bürgerlichen Familie auf. Er studierte Medizin und spezialisierte sich als Facharzt auf Psychiatrie. Ab 1900, also bereits mit 25 Jahren, arbeitete er als Psychiater in der Burghölzli-Nervenklinik in Zürich. Zehn Jahre später ernennt man ihn an der Züricher Universität zum Professor.
Einige Jahre ist C. G. Jung ein erklärter Anhänger der Freudschen Lehren, die er auch gegen massive bürgerliche Widerstände in der Schweiz anwendet und verteidigt, da er ihre Kernaussagen in der Klinik überprüfen kann. Freud und er lernen sich 1907 persönlich kennen und reisen 1909 gemeinsam in die USA, um die Psychoanalyse international zu verbreiten. Jung gilt als Freuds „Lieblingsschüler“. Das wechselseitige Vertrauensverhältnis ist so stark, dass Jung sich im Jahr 1907 traut, dem Freund in einem Brief von einem sexuellen Missbrauchserlebnis in seiner Kindheit zu berichten, auch wenn er sich, was den Täter betrifft, auf Andeutungen beschränkt („homosexuelles Attentat eines von mir früher verehrten Menschen“).
Doch nach der Überseereise, im Jahr 1912, kehrte sich Jung von seinem Lehrer ab. Er hatte schon seit längerem Abstand zu Freuds Auffassung gehalten, alles Geistige sei rückführbar auf sexuelle und aggressive Triebe.
Jung vermisste hier jeden spirituellen Zugang zur Welt. Eines Tages forderte Sigmund Freud von ihm: „Versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben, das ist das Allerwesentlichste.“ Jung war nicht einverstanden mit diesem Schwur, er kam ihm dogmatisch und fast schon religiös-überhöht vor. Für ihn war Freuds Libido nichts als eine Chiffre für einen allgemeinen Lebenstrieb.
Als Freud und Jung sich in dieser Auseinandersetzung immer weiter voneinander entfernen und schließlich 1913/1914 jede Zusammenarbeit einstellen, bleiben bei beiden Männern Verletzungen zurück. Kollegiale und menschliche Sympathien verkehren sich in eine unversöhnliche Gegnerschaft. Jung wirft Freud vor, er behandle seine Kollegen wie Patienten und bleibe stets in einer väterlichen, unangreifbaren Position. Freud antwortet auf autoritäre Weise. Schließlich tritt Jung 1914 als Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zurück, eine Stellung, die er seit 1910 innehat.
Nach dem Bruch erlebte Jung eine mehrmonatige Krise, in der er, wie man seinen Schilderungen entnehmen kann, fast psychotisch geworden wäre, also beinahe Wahnzustände entwickelt hätte. Doch er bewältigte die Krise mit Hilfe seiner Familie, und konnte sie später sogar als Chance betrachten, denn seine „gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewussten aufgebrochen war und was mich zunächst überflutete“, wie C. G. Jung einmal schrieb.
Anschließend baute Jung seine Gedankenwelt und die daraus abgeleitete Psychotherapie weiter aus. 1933/1934 gab es antisemitische Äußerungen von ihm, er übernahm die Leitung eines NS-konformen Psychotherapieverbands und verbreitete sich über den germanischen Obergott Wotan, der in der Nazibewegung zur Geltung komme. Ursprünglich, 25 Jahre zuvor, hatte sich Jung als einer von wenigen Nicht-Juden in der psychoanalytischen Szene nicht gescheut, zu versuchen, auch den eher nationalistisch gesinnten Kollegen die Ideenwelt der Tiefenpsychologie nahe zu bringen. Doch Mitte der 1930er Jahre erwies sich Jung als anfällig für völkisch-esoterische Gedanken. Nach 1945 ging er einigermaßen selbstkritisch mit seiner naiven und opportunistischen Haltung zu Gericht.
Je älter er wurde, umso mehr interessierte sich Jung für Astrologie und Parapsychologie. Unter anderem veröffentlichte er eine Studie, die beweisen sollte, dass Personen, denen nach dem Geburtszeitraum bestimmte, „passende“ Sternzeichen zugeordnet wurden, öfter heirateten als solche mit Sternzeichen, die nach astrologischer Deutung „nicht zusammenpassen“. Die entsprechenden Untersuchungen wurden jedoch vielfach aus methodischen Gründen angezweifelt.
Bis zu seinem Tod 1961 publizierte und praktizierte Jung über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert. Der Therapeut starb im Alter von 85 an seinem letzten Wohnort im schweizerischen Küsnacht. Dort befindet sich noch heute das größte jungianische Ausbildungsinstitut.
Menschenbild, wichtige Ideen und ihre Auswirkungen
C. G. Jung berichtete, er habe einmal einen Traum gehabt, in dem er in einem Haus, das er als sein eigenes erkannte, von Stockwerk zu Stockwerk herunterstieg, wobei jede Etage anders eingerichtet war. Es wirkte beim Herabgehen, als reise Jung rückwärts durch die Zeit: vom 19. Jahrhundert über das Rokoko, das Mittelalter und die Römerzeit bis in die menschliche Vorgeschichte.
So wie es symbolisch in diesem Traum dargestellt ist, näherte sich Jung, ein lebenslustiger und neugieriger Mensch, der eigenen Person, den Patienten und, wenn man an sein Modell glaubt, der gesamten Menschheit.
Für Carl Gustav Jung ist nur ein Teil des Unbewussten individuell. Ein anderer sei der ganzen Menschheit eigen. Jung nennt diesen Teil „kollektives Unbewusstes“, denn er hat bei einem Vergleich verschiedener Kulturen festgestellt, dass Märchen, Mythen, Sagen und Legenden weltweit ganz ähnlich aufgebaut sind. Neben Aufbau und Verlauf der Geschichten gleichen sich auch die verwendeten Bilder und ebenso die Protagonisten – wie Hexe, Zauberer, Abenteurer oder Königstochter. Schriftliche oder künstlerische Zeugnisse aus vergangenen Kulturen und Epochen legen nahe, dass dies auch in der Vergangenheit so war. Einige Wissenschaftler behaupten sogar, dass sich manche unserer Volksmärchen auf steinzeitliche Rituale zurückführen lassen.
In jedem Fall behauptet Jung, dieser Teil unserer Phantasien, Erzählungen, Befürchtungen oder Sehnsüchte sei überindividuell und werde in verschiedenen Zeiten und Kulturen nur oberflächlich variiert. Die Grundlagen des kollektiven Unbewussten betrachtet der Wissenschaftler als genetisch festgelegtes Erbe der Menschheit.
Dies alles ist sicherlich Glaubenssache. Da C. G. Jung eine Vorliebe für esoterische Weltmodelle hatte, schrieb er einer guten Verbindung mit diesem inneren Urgrund heilerische Kräfte zu. Auch hier gibt es große Unterschiede zu Sigmund Freud, der einmal in einem Gespräch mit Jung bemerkt hatte, man müsse aus der Sexualtheorie ein „unerschütterliches Bollwerk“ machen „gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus“. Dazu gehörte für Freud alles, was mit Religion, Parapsychologie, Astrologie oder anderen esoterischen Denkmustern zusammenhing.
Für Jung wiederum ist der Mensch ein Bürger zweier Welten, der biologisch-animalischen, die von der Trieblehre Freuds beschrieben wird, und einer geistig-spirituellen, die nach etwas strebt, was C. G. Jung „Individuation des Selbst“ nennt. Individuation ist für den Schweizer der Weg eines Menschen hin zur Authentizität, um im Einklang mit sich selbst und mit der Welt zu leben. Eine Aufgabe, die sich, nach Jung, jedem Menschen irgendwann stellt, meist in der zweiten Lebenshälfte. Individuation sei ein langandauernder innerseelischer Prozess, bei dem die kollektiven, überpersönlichen Anteile der Seele in Form von sogenannten Archetypen mit dem individuellen Unbewussten zur Übereinstimmung kämen. (Manches von dem, was C. G. Jung gerade in den späteren Lebensjahren schreibt, klingt etwas merkwürdig und erinnert an den heutigen Esoterik-Jargon.)
Ein Teil der Jungschen Analytischen Psychologie als Therapieform besteht darin, den Patienten beim Individuationsprozess behutsam und hilfreich zu unterstützen. Diese Sichtweise ist optimistischer und mehr auf das ausgerichtet, was der seelisch beeinträchtigte Mensch tun kann (Ressourcen), als auf das, was er nicht beherrscht, also die Defizite. (Die Freudsche Psychoanalyse gilt demgegenüber eher als defizitorientiert.)
Zurück zu Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten, das man sich als „Reich der Archetypen“ vorstellen muss. Archetyp kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet in der spätantiken Philosophie „Urtypus“, „Urbild“ oder „Idee“. Jung versteht darunter althergebrachte, angeborene Leitbilder von Verhalten, Vorstellungen und Erfahrungen im kollektiven Unbewussten. Zu den bekanntesten Jungschen Archetypen gehören Schatten, Anima und Animus.
Anima nannte Jung das Urbild der Frau in der Sichtweise des Mannes, Animus steht dementsprechend für das Urbild des Mannes in der Sichtweise der Frau. Diese Archetypen umfassen sowohl kollektive als auch individuelle Aspekte, die, wie Jung vermutete, stark von den kindlichen Erfahrungen mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil geprägt werden. Manche Aspekte dieser Urbilder stimmen angeblich bei allen Männern, andere bei allen Frauen überein.
Bei einer solchen Denkweise besteht die Gefahr, dass gesellschaftliche Unterschiede in der Behandlung von Frauen und Männern als „natürlich“ oder „erblich“ dargestellt werden, was es dann auch unsinnig erscheinen lässt, entsprechende Strukturen verändern zu wollen.
Der Schatten ist nach Jung ein besonders wichtiger Archetyp, da er all das symbolisiert, was unser Bewusstsein gerne wegerklärt und gleichsam unter den Teppich kehrt: Unsere destruktiven, aggressiven und sadistischen Anteile, unser Egoismus und unsere Machtbedürfnisse. Gerade Menschen, die solche Persönlichkeitsanteile niemals eingestehen würden, sind oft besonders intolerant gegenüber jedem, der ihre Weltsicht nicht teilt. Manchmal spüren sie auch, zum Beispiel in heftigen, destruktiven Alpträumen, dass sich in ihnen noch eine andere Seite verbirgt. In Jungs Therapie geht es nicht darum, die Schattenseiten der eigenen Persönlichkeit hemmungslos auszuleben. Eine Bewusstmachung und Durcharbeitung der entsprechenden Tendenzen genügt normalerweise.
So wie Jung es sieht, entstehen, sobald ein kleiner Mensch Bewusstsein entwickelt, verschiedene Polaritäten. Etwa zwischen dem Selbst und seinem Schatten, zwischen Männlichem und Weiblichem, Individuum und Gesellschaft, Gutem und Bösem. In der Integration dieser Gegensätze liegt hier die Herausforderung.
Mit solchen Aussagen nahm C. G. Jung die „Psycho-Welle“ der 1970er vorweg. Eine Vielzahl spirituell-esoterischer Heilungsansätze der letzten 30 oder 40 Jahre ließ sich von ihm inspirieren. Gleichzeitig besteht bei einer solchen Herangehensweise die Gefahr, dass leichtgläubige oder psychisch labile Leute in den Bannkreis von sektiererischen Heilern geraten, deren Lehren sich ungesund auswirken können, was die eigene Autonomie betrifft oder die Fähigkeit, reale Probleme wahrzunehmen und sie mehr oder weniger selbständig zu lösen.
Auch die Beobachtung, dass es Jung eine Zeitlang möglich war, sein mythologisches Weltbild mit den völkisch-germanisch angehauchten Herrenmenschenmythen der Nazis zu verbinden, wirkt problematisch. Dieser Umstand lässt sich wohl auf die antiaufklärerischen Gemeinsamkeiten der beiden Weltbilder zurückführen.
In jedem Falle bleiben einige Ideen Carl Gustav Jungs bis zur Gegenwart fruchtbar. Was die Psychotherapie betrifft, war Jung einer der ersten, die sich für die Behandlung zusätzlich zur Sprache andere Ebenen der Kommunikation erschlossen haben. Zum Beispiel vom Therapeuten angeleitete Phantasien zu Nacht- oder Tagträumen, aber auch „unbewusstes Gestalten“ mit Ton und Malerei oder in Form eines Tanzes. Jungs Lehren beeinflussen noch heute viele Ansätze im Bereich der Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit.
Jungianische Psychotherapie wird inzwischen in Deutschland in einigen Fällen von den Krankenkassen bezahlt. Meist hat der Behandler eine Approbation, eine berufsrechtliche Anerkennung in „tiefenpsychologisch fundierter Therapie“. Die meisten Kassenärztliche Vereinigungen können entsprechende Adressen und Telefonnummern vermitteln.
Neben seiner therapeutischen Herangehensweise prägte Jung auch das Gegensatzpaar introvertiert und extravertiert, also nach innen bzw. nach außen gekehrt zu sein. Das ist unbestritten eine der zentralen Persönlichkeitseigenschaften des Menschen.
Den Begriff „Komplex“ für bestimmte Kombinationen seelischer Störungen führte er ebenfalls in die Wissenschaft ein. Ein Beispiel ist der bekannte Minderwertigkeitskomplex, bei dem sich die Gedanken, Gefühle und Phantasien des Patienten immer wieder damit beschäftigen, wie negativ die soziale Umwelt auf ihn reagiert. Da jemand mit einem solchen Minderwertigkeitskomplex in allen möglichen Situationen zeigt, dass er wenig von sich hält, sorgt er nicht selten dafür, dass er tatsächlich von anderen Menschen abgelehnt wird.
Mehr als durch solche Definitionen wird Jung jedoch als einer der ersten Forscher in Erinnerung bleiben, die Bildern und Mythen die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt haben. Außerdem hat er, wie auch immer man dazu steht, die Frage aufgeworfen, ob es Anteile unserer Vorstellung und unseren Verhaltens geben könnte, die in der gesamten Menschheit eine wichtige Rolle spielen und die sich nur in den kulturell geprägten Details voneinander unterschieden.
Alfred Adler: Machtstreben und Ohnmachtsgefühle (Individualpsychologie)
Sein Leben
Alfred Adler wurde 1870 in Wien geboren und wuchs dort in einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf, die eher kleinbürgerlich geprägt war. Seine Familie lebte in einer Armenvorstadt. Adler selbst litt als Kind unter verschiedenen Krankheiten wie Rachitis oder nächtlichen Erstickungsanfällen.
Schon zu dieser Zeit wuchs in ihm der Ehrgeiz, endlich so stark und ausdauernd zu sein wie die meisten Altersgenossen. Deshalb machte er systematisch sportliche Übungen, bis es ihm gelang, das, was er später „körperliche Minderwertigkeit“ nannte, zu überwinden, sich selbst zu akzeptieren und letztlich kaum noch von anderen Jungen oder Männern zu Machtkämpfen herausgefordert zu werden.
Es heißt, dass sein Wunsch, Medizin zu studieren, bei Adler dadurch entstand, dass er immer wieder Ärzte konsultieren musste, bis es ihm längerfristig körperlich und seelisch gut ging. Darüber hinaus entwickelte Alfred Adler eine starke Sensibilität für die Bedürfnisse und Probleme der sozial Schwächeren.
Bereits 1895, mit 25 Jahren, promoviert er, zwei Jahre später heiratet Adler eine russische Kaufmannstochter. Wieder zwei Jahre darauf, 1899, gründet er eine allgemeinmedizinische Praxis in einem Wiener Arme-Leute-Viertel. Er veröffentlicht erste Artikel zu sozialmedizinischen und pädagogischen Problemen der bildungsfernen Schichten, Menschen, die er oft und unbürokratisch für wenig Geld behandelt. Diese Erfahrungen prägten Alfred Adler auch noch, als er später, ähnlich wie Freud, viele groß- und bildungsbürgerliche Patienten hatte.
War bei Freud der Wunsch zentral, Einblicke in die Triebstruktur der menschlichen Seele zu gewinnen, interessierte sich Adler mehr für zwischenmenschliche Beziehungen, für ökonomische und soziale Verhältnisse. Während sich Freud vor allem mit der Vergangenheit eines Patienten beschäftigte, war Adler neugierig auf die gegenwärtige Situation und für Wege hin zu positiven Zukunftsperspektiven. Sein Fokus lag hierbei auf der Veränderbarkeit psychischer Schwierigkeiten, hauptsächlich durch das bewusste Mitwirken der Patienten an diesem Veränderungen.
Seine Mitarbeiter und seine Angehörigen beschreiben Adler als umgänglich, kontaktfreudig, humorvoll und als Gegner falscher Autoritäten. Er wird als Menschenfreund und Optimist dargestellt, höchstens einmal in Gefahr, allzu freundlich und zu versöhnlich zu sein. Was die Persönlichkeit betrifft, ist er ziemlich genau das Gegenteil von Freud, was allerdings die Vehemenz, mit der jener Adler bekämpfte, nachdem er die Allgewalt der Sexualität in Frage gestellt hatte, nur unzureichend erklärt.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (eBook)
- 9783959120340
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (April)
- Schlagworte
- Psychologie Sigmund Freud C. G. Jung Pawlow Carl Rogers Verhaltenstherapie Depression Paul Watzlawick Familientherapie