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Erscheinungsform:
Erscheinungsdatum: 24.3.2015
ISBN: eBook 9783959120319
Format: ePUB
Dieses Buch markiert eine wichtige Vertiefung im Denken und politischen Wirken von Erich Fromm: Der Charakter eines einzelnen, aber auch der vieler Menschen wird sich nur ändern, wenn sich die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Lebenspraxis ändert, die die Gesellschafts-Charakterorientierung hervorbringt. In einer krank machenden oder gar kranken Gesellschaft werden die individuellen Bemühungen um eine produktive Charakterorientierung kaum Aussicht auf Erfolg haben – geht man mit Fromm davon aus, dass der Mensch ein Bezogenheitswesen ist und dass sein Bezogensein auf eine soziale Gruppe von existenzieller Bedeutung für ihn ist.
Die Frage, ob das gesellschaftliche Zusammenleben das psychische Gelingen des Menschen fördert, hemmt oder gar vereitelt, steht deshalb im Mittelpunkt von Wege aus einer kranken Gesellschaft. Fromm fragt deshalb in diesem Buch nach alternativen Gesellschaftsentwürfen zur vorherrschenden kapitalistischen Gesellschaft. Am Ende des Buches macht er konkrete Vorschläge, wie eine psychisch gesunde Gesellschaft gestaltet und organisiert sein müsste.
Der Ausgangspunkt ist eine Konfrontation des kranken Menschen der Gegenwart mit seinen wahren Bedürfnissen. Die in Kapitel 3 ausgeführte Bedürfnislehre findet sich in dieser Ausführlichkeit nirgends mehr sonst in den Schriften Fromms. Die Tatsache spezifisch menschlicher Bedürfnisse und die Notwendigkeit ihrer Befriedigung ist die Basis eines normativen Humanismus, der den Versuch unternimmt, das zu formulieren, was seelische Gesundheit in der jeweiligen Gesellschaft heißt. In Kapitel 4 beleuchtet Fromm die gesamte Wertungsfrage „krank-gesund“ beim Einzelnen wie bei der Gesellschaft.
(The Sane Society)
Erich Fromm
(1955a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel
Erstveröffentlichung unter dem Titel The Sane Society, New York (Holt, Rinehart and Winston) 1955. Eine deutsche Übersetzung von Elisabeth Rotten erschien erstmals 1960 unter dem Titel Der moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische Untersuchung bei der Europäischen Verlagsanstalt, Frankfurt am Main. Eine neue Übersetzung von Liselotte und Ernst Mickel wurde anlässlich der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden angefertigt und erschien dort in Band IV unter dem Titel Wege aus einer kranken Gesellschaft erstmals 1980. Im Jahr 1982 wurde das Buch unter dem Titel Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung bei der Europäischen Verlagsanstalt veröffentlicht.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IV, S. 1-254.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1955 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Er spricht Recht im Streit vieler Völker,
er weist mächtige Nationen in die Schranken
bis in die Ferne.
Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern
und Winzermesser aus ihren Lanzen.
Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk,
und übt sich nicht mehr für den Krieg.
Jeder sitzt unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum,
und niemand schreckt ihn auf.
So hat der Mund des Herrn der Heere gesprochen.
Micha, 4,3 f.
Es gibt keine schwierigere Kunst als zu leben.
Für andere Künste und Wissenschaften
kann man überall zahlreiche Lehrer finden.
Selbst junge Leute glauben, sie hätten sich diese Kunst schon soweit erworben,
dass sie andere darin unterrichten könnten:
Während seines ganzen Lebens muss man immer weiter lernen zu leben,
und, was euch noch mehr erstaunen wird,
während des ganzen Lebens muss man lernen zu sterben.
Seneca
Diese Welt und die jenseitige Welt gebären ständig Neues:
jede Ursache ist eine Mutter, ihre Wirkung das Kind.
Wenn die Wirkung geboren ist, wird auch sie zur Ursache
und gebiert wunderbare Wirkungen.
Diese Ursachen sind die aufeinanderfolgenden Generationen,
aber man braucht schon ein scharfes Auge,
um die Glieder in ihrer Kette zu erkennen.
Rumi
Die Dinge sitzen im Sattel und reiten die Menschheit.
Emerson
Die menschliche Rasse ist weise genug, um Wissenschaft und Kunst zu schaffen; weshalb sollte sie nicht auch fähig sein, eine Welt der Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und des Friedens zu schaffen? Die Menschheit hat Plato, Homer, Shakespeare und Hugo, Michelangelo und Beethoven, Pascal und Newton hervorgebracht, alle diese menschlichen Heroen, deren Genie nichts anderes ist als der Kontakt mit den fundamentalen Wahrheiten, mit dem innersten Wesen des Universums. Weshalb sollte dann die gleiche Menschheit nicht auch die Führer hervorbringen, die in der Lage sind, sie zu jenen Formen des Gemeinschaftslebens hinzuführen, die dem Leben und der Harmonie des Universums am nächsten kommen?
Léon Blum
Dieses Buch[1] ist eine Fortsetzung von Die Furcht vor der Freiheit (1941a), das ich vor nunmehr fünfzehn Jahren geschrieben habe. Dort versuchte ich zu zeigen, dass die totalitären Bewegungen an eine tief sitzende Sehnsucht im Menschen appelliert haben, vor der Freiheit zu fliehen, die er sich in der modernen Welt errungen hat. Dieser moderne Mensch, der frei ist von Bindungen an das Mittelalter, war noch nicht frei genug zum Aufbau eines sinnvollen Lebens, das sich auf Vernunft und Liebe gründet, und suchte daher eine neue Sicherheit in der Unterwerfung unter einen Führer, unter die Rasse oder den Staat.
Im vorliegenden Buch versuche ich zu zeigen, dass das Leben in der Demokratie des 20. Jahrhunderts in vieler Hinsicht ebenfalls eine Flucht vor der Freiheit ist. Die Analyse dieser speziellen Flucht, in deren Mittelpunkt der Begriff der Entfremdung steht, macht einen großen Teil dieses Buches aus.
Auch noch in einem anderen Sinn ist dieses Buch eine Fortsetzung von Die Furcht vor der Freiheit und zu einem gewissen Grade auch von meinem Buch Psychoanalyse und Ethik (1947a). Ich behandle in beiden Büchern spezielle psychologische Mechanismen, soweit diese etwas mit dem Hauptthema zu tun haben. In Die Furcht vor der Freiheit habe ich mich hauptsächlich mit dem Problem des autoritären Charakters (also mit Sadismus, Masochismus usw.) befasst. In Psychoanalyse und Ethik habe ich den Gedanken von verschiedenen Charakter-Orientierungen entwickelt, und an die Stelle des Freudschen Schemas der Libido-Entwicklung habe ich ein Schema der Charakterentwicklung in zwischenmenschlichen Beziehungen gesetzt. In dem vorliegenden Buch versuche ich die Grundvorstellungen dessen, was ich „humanistische Psychoanalyse“ nenne, etwas systematischer zu entwickeln. Natürlich konnte ich nicht umhin, auf frühere Ideen zurückzugreifen, aber ich habe versucht, sie kürzer zu behandeln und jenen Aspekten mehr Raum zu geben, die ich aus meinen Beobachtungen und Gedanken in den letzten Jahren gewonnen habe.
Ich hoffe, dass es dem Leser meiner früheren Bücher nicht schwerfallen wird, die Kontinuität meiner Gedanken, aber auch einige Veränderungen zu erkennen, die mich zu folgender Hauptthese der humanistischen Psychoanalyse geführt haben: Die grundlegenden Leidenschaften eines Menschen wurzeln nicht in seinen triebhaften [IV-006] Bedürfnissen, sondern in den spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz, im Bedürfnis, eine neue Beziehung zum Menschen und zur Natur zu finden, nachdem er seine ursprüngliche Beziehung im vormenschlichen Stadium verloren hat. Obwohl sich meine Vorstellungen in dieser Hinsicht wesentlich von denen Freuds unterscheiden, bauen sie dennoch auf seinen grundlegenden Erkenntnissen auf, wie sie unter dem Einfluss der Ideen und Experimente der Generation nach Freud weitergeführt wurden. Aber eben wegen der implizit und explizit auf diesen Seiten enthaltenen Kritik an Freud möchte ich deutlich feststellen, dass ich große Gefahren in manchen gegenwärtigen Tendenzen innerhalb der Psychoanalyse sehe, die mit den Irrtümern auch die wertvollsten Bestandteile von Freuds Lehre über Bord werfen[2]: seine wissenschaftliche Methode, sein evolutionäres Konzept und seine Vorstellung vom Unbewussten als einer echten irrationalen Macht, und nicht als einer Summe von irrigen Ideen. Zudem besteht die Gefahr, dass der Psychoanalyse ein weiterer grundlegender Zug von Freuds Denken verlorengeht: sein Mut, dem „gesunden Menschenverstand“ und der „öffentlichen Meinung“ die Stirn zu bieten.
Schließlich geht dieses Buch von der kritischen Analyse, wie sie in Die Furcht vor der Freiheit (1941a) vorgenommen wurde, weiter zu konkreten Vorschlägen, wie eine gesunde Gesellschaft aussehen könnte. Mein Hauptargument in diesem letzten Teil des Buches ist nicht so sehr die Überzeugung, dass eine jede der von mir empfohlenen Maßnahmen unbedingt „richtig“ ist, sondern dass es nur zu einem Fortschritt kommen kann, wenn Veränderungen gleichzeitig auf wirtschaftlichem, gesellschaftspolitischem und kulturellem Gebiet vorgenommen werden und dass jeder Fortschritt, der sich nur auf ein einziges Gebiet beschränkt, den Fortschritt in allen Bereichen verhindert.
Ich bin einer Reihe von Freunden zu tiefem Dank verpflichtet, die mir beim Durchlesen des Manuskripts, und mit Vorschlägen und konstruktiver Kritik geholfen haben. Dies gilt besonders für George Fuchs, der während der Arbeit an diesem Buch starb. Wir hatten ursprünglich geplant, es gemeinsam zu schreiben, aber dieser Plan war seiner langen Krankheit wegen nicht durchzuführen. Trotzdem hat er mir sehr geholfen. Wir hatten lange Diskussionen, und er hat mir viele Briefe und Notizen zugeschickt, besonders in Bezug auf die Probleme der sozialistischen Theorie. Dies hat mir geholfen, mir über meine eigenen Ideen klar zu werden und sie gelegentlich auch zu revidieren. Ich habe seinen Namen einige Male im Text erwähnt, doch bin ich ihm weit mehr verpflichtet, als aus diesen besonderen Hinweisen hervorgeht.
Mein Dank gehört auch Dr. G. R. Hargreaves, dem Leiter der Mental Health Section, der Welt-Gesundheits-Organisation, der mir zu den statistischen Angaben über Alkoholismus, Selbstmord und Mord verholfen hat.
E. F.
Keine Idee ist so verbreitet wie die, dass wir, die in der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts lebenden Menschen, überaus gesund seien. Trotz der Tatsache, dass viele von uns unter mehr oder weniger schweren Formen seelischer Erkrankung leiden, zweifeln wir kaum an dem allgemein guten Zustand unserer seelischen Gesundheit. Wir sind sicher, dass wir durch die Einführung besserer Methoden seelischer Hygiene den Zustand unserer seelischen Gesundheit noch weiter verbessern werden. Was aber die psychischen Störungen bei einzelnen betrifft, so sehen wir darin nur durchaus individuelle Vorkommnisse, wobei wir uns vielleicht lediglich etwas darüber wundern, dass in unserer angeblich so gesunden Kultur derartige Einzelfälle so häufig anzutreffen sind.
Können wir tatsächlich so sicher sein, dass wir uns nicht täuschen? Mancher Insasse einer Nervenheilanstalt ist überzeugt, dass alle anderen verrückt seien, nur er selbst nicht. Mancher schwerkranke Neurotiker glaubt, dass seine Zwangsrituale und seine hysterischen Ausbrüche die normale Reaktion auf irgendwie anomale Umstände seien. Und wie ist das mit uns selbst?
Sehen wir uns nach altbewährter psychiatrischer Methode die Tatsachen einmal näher an. Wir haben in den letzten hundert Jahren in der westlichen Welt einen größeren materiellen Reichtum geschaffen, als es irgendeiner anderen Gesellschaft in der Geschichte der menschlichen Rasse gelungen ist. Dennoch haben wir es fertiggebracht, Millionen von Menschen durch eine Einrichtung zu töten, die wir „Krieg“ nennen. Von kleineren Kriegen abgesehen, hatten wir 1870, 1914 und 1939 drei große Kriege. Während dieser Kriege glaubte jeder Kriegsteilnehmer fest, dass er zu seiner eigenen Verteidigung und um seine Ehre kämpfe, oder dass Gott auf seiner Seite stehe. Die Gruppen, mit denen man sich im Krieg befindet, sieht man – oft von einem Tag zum anderen – als grausame, unvernünftige, schlimme Feinde, die man vernichten müsse, um die Welt von allem Bösen zu erretten. Aber wenn dann ein paar Jahre nach dem gegenseitigen Gemetzel verstrichen sind, sind aus den Feinden von gestern Freunde geworden, und die Freunde von gestern sind unsere Feinde, und wir fangen wieder allen Ernstes an, sie in den entsprechenden Schwarz-Weiß-Farben zu malen. Heute, im Jahre 1955, sind wir auf ein Massengemetzel gefasst, das – wenn [IV-008] es dazu kommen sollte – jedes andere Gemetzel, das die menschliche Rasse bisher arrangiert hat, übertreffen wird. Eine der größten Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft steht zu diesem Zweck bereit. Jedermann blickt mit einer Mischung von Vertrauen und Angst auf die „Staatsmänner“ der verschiedenen Völker – bereit, sie in den Himmel zu heben, wenn es ihnen gelingt, einen Krieg zu vermeiden, wobei man völlig übersieht, dass es ausschließlich diese Staatsmänner sind, die die Kriege verursachen, und gewöhnlich nicht einmal aus böser Absicht, sondern durch einen unvernünftigen und falschen Umgang mit den ihnen anvertrauten Angelegenheiten.
Bei diesen Ausbrüchen von Destruktivität und paranoidem Misstrauen benehmen wir uns nicht anders, als es der zivilisierte Teil der Menschheit in den letzten dreitausend Jahren seiner Geschichte getan hat. Nach Victor Cherbulliez sind von 1500 v. Chr. bis 1860 n. Chr. nicht weniger als achttausend Friedensverträge unterzeichnet worden, von denen jeder angeblich den ewigen Frieden sicherstellte und von denen jeder durchschnittlich zwei Jahre dauerte! (Vgl. H. B. Stevens, 1949, S. 221.)
Auch die Art, wie wir unsere wirtschaftlichen Angelegenheiten handhaben, ist nicht ermutigender. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, in dem eine besonders gute Ernte oft eine wirtschaftliche Katastrophe ist, und wir schränken unsere landwirtschaftliche Produktivität ein, um „den Markt zu stabilisieren“, obwohl es Millionen von Menschen gibt, die eben die Dinge, deren Erzeugung wir einschränken, nicht haben und sie bitter nötig hätten. Im Augenblick funktioniert unser Wirtschaftssystem sehr gut, neben vielen anderen Gründen deshalb, weil wir pro Jahr Milliarden Dollar für die Herstellung von Waffen ausgeben. Unsere Wirtschaftswissenschaftler sehen der Zeit mit einiger Besorgnis entgegen, in der wir die Waffenproduktion einstellen werden, und der Gedanke, dass der Staat Häuser und andere nützliche und benötigte Dinge anstelle von Waffen herstellen könnte, führt leicht zu dem Vorwurf, dies gefährde die Freiheit und lähme die persönliche Initiative.
Etwa 90 Prozent unserer Bevölkerung können lesen und schreiben. Wir bieten jedermann täglich Rundfunk, Fernsehen, Filme und Zeitungen. Statt dass diese Medien uns aber täglich neben der Reklame das Beste aus der früheren und gegenwärtigen Literatur und Musik bieten, stopfen sie die Köpfe mit billigstem Schund, dem jeder Bezug zur Realität abgeht, voll, und mit sadistischen Phantasien, die so sind, dass sich jeder nur halbwegs gebildete Mensch schämen würde, wenn er ihnen auch nur vorübergehend nachhinge. Und während so das Denken von jedermann, ob jung oder alt, vergiftet wird, achten wir unverdrossen weiter darauf, dass nichts „Unmoralisches“ auf den Bildschirm kommt. Jeder Vorschlag, die Regierung solle die Herstellung von Filmen und Radioprogrammen finanzieren, welche die Menschen aufklären und weiterbringen, würde nur immer wieder auf Entrüstung und Vorwürfe im Namen von Freiheit und Idealismus stoßen.
Im Vergleich zu der Zeit vor hundert Jahren haben wir die Arbeitszeit auf etwa die Hälfte reduziert. Wir haben heute mehr Freizeit zur Verfügung, als es sich unsere Vorfahren hätten jemals träumen lassen. Aber was ist geschehen? Wir wissen nicht, was wir mit dieser neugewonnenen Freizeit anfangen sollen; wir versuchen, die gewonnene Zeit totzuschlagen, und sind froh, wenn wieder einmal ein Tag vorüber ist. [IV-009]
Ich brauche dieses Bild, das ohnehin jeder kennt, nicht weiter auszumalen. Wenn jemand das täte, würden sicher ernsthafte Zweifel an seiner geistigen Gesundheit laut. Behauptete er dagegen, nichts liege im Argen und man benehme sich völlig vernünftig, so würde die Richtigkeit dieser Diagnose nicht einmal angezweifelt.
Dennoch weigern sich viele Psychiater und Psychologen zuzugeben, dass die Gesellschaft als Ganzes vielleicht nicht mehr ganz gesund sein könne. Sie behaupten, das Problem der seelischen Gesundheit in einer Gesellschaft betreffe nur die Zahl der „nicht angepassten“ Individuen und nicht eine mögliche Nicht-Anpassung der Kultur selbst. Das vorliegende Buch befasst sich mit dem zweiten Problem, also nicht mit der individuellen Pathologie, sondern mit der Pathologie der Normalität, insbesondere mit der Pathologie der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft. Aber bevor wir an die komplizierte Diskussion des Begriffs der gesellschaftlichen Pathologie herangehen, wollen wir uns zunächst einige Daten ansehen, die schon an sich aufschlussreich und bezeichnend sind und die sich auf das Auftreten individueller Erkrankungen in der westlichen Kultur beziehen.
Wie häufig treten seelische Erkrankungen in den verschiedenen Ländern der westlichen Welt auf? Es ist eine höchst erstaunliche Tatsache, dass uns keine Daten zur Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stehen. Während wir exakte vergleichende Statistiken über materielle Mittel, über Beschäftigung, Geburts- und Todesraten besitzen, gibt es keine adäquate Information über psychische Krankheiten. Wir besitzen bestenfalls einige exakte Daten für einige Länder, wie für die Vereinigten Staaten und Schweden, aber diese beziehen sich nur auf die Aufnahme von Patienten in Nervenheilanstalten. Man kann daraus keine Schlüsse ziehen auf die relative Häufigkeit von psychischen Krankheiten. Solche Zahlen sagen uns genauso wenig über eine verbesserte psychiatrische Versorgung und institutionelle Möglichkeiten wie über die Zunahme der Häufigkeit von psychischen Krankheiten. (Vgl. H. Goldhamer und A. Marshall, 1953.) Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Krankenhausbetten in den Vereinigten Staaten von Patienten mit psychischen Störungen belegt sind, für die wir jährlich eine Summe von über einer Milliarde Dollar ausgeben, braucht kein Hinweis auf eine größere Häufigkeit von psychischen Krankheiten zu sein, sondern könnte ebenso eine verbesserte Fürsorge signalisieren. Einige andere Zahlen jedoch weisen deutlicher auf die Häufigkeit schwererer psychischer Krankheiten hin. Wenn im letzten Krieg 17,7 Prozent aller für wehrdienstuntauglich Erklärten dies auf Grund von psychischen Krankheiten waren, so zeugt das gewiss von einem hohen Häufigkeitsgrad psychischer Störungen, selbst wenn uns keine Vergleichszahlen aus der Vergangenheit oder aus anderen Ländern zur Verfügung stehen.
Die einzigen Vergleichsdaten, die uns einen groben Hinweis auf den Zustand der psychischen Gesundheit geben, sind die Daten über Selbstmord, Mord und Alkoholismus. Zweifellos ist das Selbstmordproblem außerordentlich komplex, und man kann daher nicht einen einzigen Faktor als die Ursache annehmen. Aber auch wenn man bei der Erörterung des Selbstmords auf diesen Punkt nicht näher eingeht, so glaube ich doch mit Sicherheit annehmen zu dürfen, dass eine hohe Selbstmordrate bei einer bestimmten Population auf einen Mangel an psychischer Stabilität und psychischer Gesundheit hinweist. Dass Selbstmord nicht die Folge materieller Armut ist, geht [IV-010] deutlich aus allen Zahlen hervor. Die ärmsten Länder haben die niedrigsten Selbstmordraten, und mit dem wachsenden materiellen Wohlstand in Europa ging eine zunehmende Zahl von Selbstmorden Hand in Hand. (Vgl. M. Halbwachs, 1930, S. 109 und 112.) Was den Alkoholismus anbelangt, so ist auch er zweifellos ein Symptom seelischer und emotionaler Labilität.
Die Motive für einen Mord sind wahrscheinlich weniger bezeichnende Hinweise für seelisches Kranksein als die Motive für einen Selbstmord. Wenn auch Länder mit einer hohen Mordrate eine niedrige Selbstmordrate aufweisen, so kommen wir doch zu einer interessanten Schlussfolgerung, wenn wir beide Raten kombinieren. Wenn wir sowohl Mord als auch Selbstmord als „destruktive Handlungen“ klassifizieren, so zeigen unsere Tabellen, dass ihre kombinierte Rate nicht konstant ist, sondern zwischen den extremen Werten von 35,76 und 4,24 schwankt. Diese Zahlen stehen im Widerspruch zu Freuds Annahme von der relativen Konstanz der Destruktivität, die seiner Theorie vom Todestrieb zugrunde liegt. Sie widerlegen die Implikation, dass die Destruktivität eine Größe sei, die sich nur dadurch unterscheide, ob sie gegen die Außenwelt oder gegen das eigene Ich gerichtet sei.
Die folgenden Tabellen zeigen die Häufigkeit von Selbstmord, Mord und Alkoholismus in einigen der wichtigsten europäischen und nordamerikanischen Länder.[3]
Tabelle I: Selbstmorde und Morde (auf 100 000 Erwachsene)
Die Zahlenwerte der ersten zwei Tabellen beziehen sich auf das Jahr 1946
Land | Selbstmorde | Morde |
---|---|---|
Dänemark | 35,09 | 0,67 |
Schweiz | 33,72 | 1,42 |
Finnland | 23,35 | 6,45 |
Schweden | 19,74 | 1,01 |
Vereinigte Staaten | 15,52 | 8,50 |
Frankreich | 14,83 | 1,53 |
Portugal | 14,24 | 2,79 |
England und Wales | 13,43 | 0,63 |
Australien | 13,03 | 1,57 |
Kanada | 11,40 | 1,67 |
Schottland | 08,06 | 0,52 |
Norwegen | 07,84 | 0,38 |
Spanien | 07,71 | 2,88 |
Italien | 07,67 | 7,38 |
Nordirland | 04,82 | 0,13 |
Republik Irland | 03,70 | 0,54 |
Tabelle II: Destruktive Handlungen (auf 100.000 Erwachsene)
Land | Morde und Selbstmorde kombiniert |
---|---|
Dänemark | 35,76 |
Schweiz | 35,14 |
Finnland | 29,80 |
Vereinigte Staaten | 24,02 |
Schweden | 20,75 |
Portugal | 17,03 |
Frankreich | 16,36 |
Italien | 15,05 |
Australien | 14,60 |
England und Wales | 14,06 |
Kanada | 13,07 |
Spanien | 10,59 |
Schottland | 8,58 |
Norwegen | 8,22 |
Nordirland | 4,95 |
Republik Irland | 4,24 |
Tabelle III: Geschätzte Anzahl der Alkoholiker mit oder ohne Komplikationen (auf 100.000 Erwachsene)
Land | Anzahl | Jahr |
---|---|---|
Vereinigte Staaten | 3952 | (1948) |
Frankreich | 2850 | (1945) |
Schweden | 2580 | (1946) |
Schweiz | 2385 | (1947) |
Dänemark | 1950 | (1948) |
Norwegen | 1560 | (1947) |
Finnland | 1430 | (1947) |
Australien | 1340 | (1947) |
England und Wales | 1100 | (1948) |
Italien | 500 | (1942) |
Ein erster Blick auf diese Tabellen zeigt ein auffallendes Phänomen: Dänemark, die Schweiz, Finnland, Schweden und die Vereinigten Staaten sind die Länder mit der höchsten Selbstmordrate und der höchsten kombinierten Selbstmord- und Mordrate, während Spanien, Italien, Nordirland und die Republik Irland die niedrigste Selbstmord- und Mordrate haben. Die Werte für den Alkoholismus zeigen, dass die gleichen Länder – die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Schweden und Dänemark – welche die höchste Selbstmordrate aufweisen, auch die höchste Alkoholismus-Rate haben, und zwar mit dem Hauptunterschied, dass die Vereinigten Staaten in dieser Gruppe führend sind und dass Frankreich den zweiten anstatt wie bei den Selbstmordraten den sechsten Platz einnimmt.
Diese Zahlen sind in der Tat alarmierend und herausfordernd. Selbst wenn wir bezweifeln sollten, dass die starke Häufigkeit der Selbstmorde schon allein ein Hinweis auf mangelhafte seelische Gesundheit einer Bevölkerung ist, so scheint doch aus der Tatsache, dass die Selbstmord- und die Alkoholismuszahlen weitgehend koinzidieren, klar hervorzuheben, dass wir es hier mit den Symptomen einer seelischen Labilität zu tun haben.
Wir finden demnach, dass die Bewohner der europäischen Länder, die als demokratisch, friedliebend und reich gelten, sowie der Vereinigten Staaten, die das reichste Land der Welt sind, schwerste Symptome einer seelischen Störung aufweisen. Das Ziel der gesamten sozio-ökonomischen Entwicklung der westlichen Welt ist ein materiell komfortables Leben, eine relativ gleichmäßige Verteilung des Reichtums, eine stabile Demokratie und Frieden – aber eben die Länder, welche diesem Ziel am nächsten gekommen sind, weisen die schwersten Anzeichen von psychischer Labilität auf. Zwar beweisen die Zahlen an sich noch nichts, aber sie sind zum mindesten alarmierend. Noch bevor wir in eine gründliche Erörterung des Gesamtproblems eintreten, stellt sich auf Grund dieser Daten die Frage, ob nicht in Bezug auf unsere Lebensweise und die Ziele, die wir uns gesetzt haben, etwas grundsätzlich falsch ist.
Könnte es sein, dass das Wohlstandsleben der Mittelklasse zwar unsere materiellen Bedürfnisse befriedigt, uns aber das Gefühl einer intensiven Langeweile gibt und dass Selbstmord und Alkoholismus pathologische Auswege sind, um dieser Langeweile zu entrinnen? Könnte es sein, dass diese Zahlen die Richtigkeit der Behauptung drastisch illustrieren, dass „der Mensch nicht vom Brot allein lebt“, und dass sie zeigen, dass die moderne Zivilisation es nicht fertigbringt, die tiefen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen? Und wenn dies zutrifft, welches sind diese Bedürfnisse?
Ich möchte in den folgenden Kapiteln den Versuch machen, diese Frage zu beantworten und die Wirkung der gegenwärtigen westlichen Kultur auf das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit der unter diesem System lebenden Menschen kritisch unter die Lupe nehmen. Bevor wir jedoch an die Erörterung dieser Frage gehen, erscheint es mir angebracht, uns mit dem allgemeinen Problem der Pathologie der Normalität zu beschäftigen, das den in diesem Buch dargelegten Gedankengängen insgesamt zugrunde liegt.
Von einer ganzen Gesellschaft zu sagen, ihr mangele es an psychischer Gesundheit, impliziert eine Annahme, die im Gegensatz steht zu dem soziologischen Relativismus, der heute von den meisten Sozialwissenschaftlern vertreten wird. Sie postulieren, dass jede Gesellschaft in dem Maße normal ist, als sie funktioniert, und dass man nur bei einer mangelnden Anpassung des Einzelnen an die Lebensweise seiner Gesellschaft von Krankheit reden kann.
Wenn man von einer „gesunden Gesellschaft“ spricht, so bedeutet das eine vom soziologischen Relativismus abweichende Voraussetzung. Es hat nur einen Sinn, wenn wir annehmen, dass es eine Gesellschaft geben kann, die nicht gesund ist, und diese Annahme impliziert ihrerseits, dass es universale Kriterien für psychische Gesundheit gibt, die für die menschliche Rasse als solche gelten und nach denen man den Gesundheitszustand einer jeden Gesellschaft beurteilen kann. Diese Einstellung eines normativen Humanismus gründet sich auf einige wenige grundlegende Prämissen.
Man kann die Spezies „Mensch“ nicht nur mit Hilfe von anatomischen und physiologischen Begriffen definieren. Ihre Glieder haben auch grundlegende psychische Eigenschaften gemeinsam: Gesetze, die in ihrem psychischen und emotionalen Leben herrschen, und Ziele für eine befriedigende Lösung des Problems der menschlichen Existenz. Unser Wissen über den Menschen ist allerdings noch so unvollständig, dass wir keine befriedigende psychologische Definition des Menschen, geben können. Aufgabe der „Wissenschaft vom Menschen“ ist es, zu einer korrekten Beschreibung dessen zu gelangen, was es verdient, als „menschliche Natur“ bezeichnet zu werden. Was man oft „menschliche Natur“ genannt hat, ist nur eine ihrer vielen Manifestationen – und oft eine krankhafte – und eine solche irrige Definition diente gewöhnlich dazu, einen bestimmten Gesellschaftstyp als notwendiges Resultat der psychischen Konstitution des Menschen zu verteidigen.
Im Gegensatz zu einem solchen reaktionären Gebrauch des Begriffs der menschlichen Natur haben die Liberalen seit dem 18. Jahrhundert auf die Formbarkeit der menschlichen Natur und auf den entscheidenden Einfluss von Umweltfaktoren hingewiesen. So richtig und so wichtig es sein mag, nachdrücklich hierauf hinzuweisen, hat es doch viele Sozialwissenschaftler zu der Annahme verleitet, dass die psychische [IV-014] Konstitution des Menschen ein unbeschriebenes Blatt Papier sei, auf das die Gesellschaft und die Kultur ihren Text schreiben, und keine ihr innewohnenden eigenen Qualitäten besitze. Diese Annahme ist ebenso unhaltbar und für den gesellschaftlichen Fortschritt ebenso destruktiv, wie es die entgegengesetzte Auffassung war. Das wahre Problem besteht darin, auf den der gesamten menschlichen Rasse gemeinsamen Kern aus den unzähligen Manifestationen der menschlichen Natur zu schließen, und zwar ebenso aus den normalen wie auch aus den pathologischen Manifestationen, wie wir sie bei den verschiedenen Individuen und in den verschiedenen Kulturen beobachten können. Die Aufgabe besteht außerdem darin, die der menschlichen Natur innewohnenden Gesetze und Ziele zu erkennen, die ihrer Entwicklung und Entfaltung dienen.
Die hier vertretene Auffassung von der „menschlichen Natur“ unterscheidet sich von der Art, wie der Begriff „menschliche Natur“ herkömmlicherweise gebraucht wird. Genauso wie der Mensch die Welt um sich her verwandelt, so verwandelt er auch sich selbst im Prozess der Geschichte. Er ist sozusagen seine eigene Schöpfung. Aber genauso wie er die Stoffe der Natur nur entsprechend ihrer Eigenart umwandeln und verändern kann, so kann er auch sich selbst nur seiner eigenen Natur entsprechend umwandeln und verändern. Was der Mensch im Prozess der Geschichte tatsächlich tut, ist, dass er dieses Potenzial entwickelt und dass er es den Möglichkeiten entsprechend umformt. Die hier vertretene Auffassung ist weder eine „biologische“ noch eine „soziologische“, wenn das bedeutet, dass man die beiden Aspekte voneinander trennt. Es wird vielmehr der Versuch gemacht, eine derartige Dichotomie durch die Annahme zu überwinden, dass die Hauptleidenschaften und -triebe im Menschen aus seiner Gesamtexistenz resultieren, dass sie definierbar und ermittelbar sind und dass einige von ihnen zu Gesundheit und Glück und andere zu Krankheit und Unglück führen. Keine der bestehenden Gesellschaftsordnungen erzeugt diese fundamentalen Strebungen, aber sie bestimmt, welche aus der begrenzten Zahl potenzieller Leidenschaften manifest oder dominant werden. Wie der Mensch in einer bestimmten Kultur in Erscheinung tritt, ist stets eine Manifestation der menschlichen Natur, jedoch eine Manifestation, die in ihrer besonderen Ausprägung von den gesellschaftlichen Gegebenheiten bestimmt wird, unter denen er lebt. Genau wie das kleine Kind mit allen menschlichen Möglichkeiten geboren wird, die sich unter günstigen sozialen und kulturellen Bedingungen entwickeln werden, so entwickelt sich auch die menschliche Rasse im Prozess der Geschichte zu dem, was sie potenziell ist.
Der Ansatz des normativen Humanismus gründet sich auf die Annahme, dass es – genau wie bei jedem anderen Problem auch – richtige und falsche, befriedigende und unbefriedigende Lösungen für das Problem der menschlichen Existenz gibt. Seelische Gesundheit kommt zustande, wenn sich der Mensch entsprechend den charakteristischen Eigenschaften und Gesetzen der menschlichen Natur zur vollen Reife entwickelt. Zur psychischen Erkrankung kommt es, wenn diese Entwicklung fehlschlägt. Unter dieser Voraussetzung ist das Kriterium für die seelische Gesundheit nicht, dass der einzelne an eine bestimmte Gesellschaftsordnung angepasst ist, sondern es handelt sich um ein universales, für alle Menschen gültiges Kriterium, dass sie nämlich für das Problem der menschlichen Existenz eine befriedigende Antwort finden. [IV-015]
Was ein so falsches Bild vom seelischen Zustand der Mitglieder einer Gesellschaft bewirkt, ist der allgemeine Konsens über die Gültigkeit ihrer Vorstellungen. Man nimmt naiverweise an, die Tatsache, dass die Mehrheit des Volkes bestimmte Ideen und Gefühle teilt, sei ein Beweis für die Gültigkeit dieser Ideen und Gefühle. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Der allgemeine Konsens über die Gültigkeit hat als solcher mit Vernunft und seelischer Gesundheit überhaupt nichts zu tun. Genauso wie es eine folie à deux gibt, gibt es auch eine folie à millions. Die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Laster haben, macht diese Laster noch nicht zu Tugenden; die Tatsache, dass sie so viele Irrtümer gemeinsam haben, macht diese Irrtümer noch nicht zu Wahrheiten; und die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Formen psychischer Störungen aufweisen, heißt nicht, dass diese Menschen psychisch gesund seien.
Es besteht jedoch ein wichtiger Unterschied zwischen einer individuellen psychischen Erkrankung und einer solchen der Gesellschaft, der darauf hindeutet, dass zwischen dem Begriff des Defektes und dem der Neurose zu unterscheiden ist. Wenn es einem Menschen nicht gelingt, Freiheit und Spontaneität zu erlangen und sein Selbst unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, so kann man von ihm annehmen, dass er an einem schweren Defekt leidet, vorausgesetzt, wir gehen von der Annahme aus, dass Freiheit und Spontaneität objektive Ziele sind, die jedes menschliche Wesen erreichen sollte. Wird dieses Ziel von der Mehrheit der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft nicht erreicht, so haben wir es mit dem Phänomen eines gesellschaftlich ausgeprägten Defektes zu tun. Der Einzelne teilt diesen Defekt mit vielen anderen. Er empfindet ihn nicht als Defekt, und seine Sicherheit gerät nicht durch die Erfahrung, anders – sozusagen ein Ausgestoßener – zu sein, in Gefahr. Was ihm an innerem Reichtum und an echtem Glücksgefühl verlorengegangen sein mag, wird durch die Sicherheit kompensiert, die das Gefühl gibt, zur übrigen Menschheit zu passen – so wie er sie kennt. Tatsächlich besteht sogar die Möglichkeit, dass eben sein Defekt von der Kultur, in der er lebt, zur Tugend erhoben wird, was sein Gefühl, etwas zu leisten, noch verstärkt.
Dies veranschaulichen zum Beispiel die Schuld- und Angstgefühle, die Calvins Lehren in den Menschen erweckten. Man kann sagen, dass ein Mensch, der ganz unter dem Eindruck des Gefühls seiner eigenen Ohnmacht und Wertlosigkeit steht, der ständig Zweifel hegt, ob er zu den Auserwählten oder zu den ewig Verdammten gehört, der kaum zu einer echten Freude fähig ist, unter einem schweren Defekt leidet. Trotzdem war dieser Defekt kulturell vorgeprägt; er wurde als etwas besonders Wertvolles angesehen, und der Einzelne wurde hierdurch vor der Neurose bewahrt, die er in einer Kultur entwickelt hätte, in welcher der gleiche Defekt ihm ein Gefühl tiefer Unzulänglichkeit und Isolation gegeben hätte.
Spinoza hat das Problem des gesellschaftlich vorgeprägten Defekts sehr klar formuliert:
Obgleich nun die Menschen vielerlei Affekten unterworfen sind und man daher selten Menschen findet, die immer von einem und demselben Affekte bedrängt werden, so fehlt es gleichwohl an solchen nicht, denen ein und derselbe Affekt beharrlich anhaftet. Sehen wir doch, wie Menschen manchmal von einem Objekte dergestalt affiziert sind, dass sie es vor sich zu haben glauben, auch wenn es nicht [IV-016] gegenwärtig ist; und wenn dies einem nicht schlafenden Menschen begegnet, dann sagen wir, er sei wahnsinnig oder närrisch. Dagegen, wenn der Habgierige an nichts anderes denkt als an Gewinn und Geld, und der Ehrgeizige an Ruhm usw., so gelten diese nicht als wahnsinnig, weil sie lästig zu sein pflegen und für hassenswert erachtet werden. In Wahrheit aber sind Habgier, Ehrgeiz, Wollust usw. Arten des Wahnsinns, wenn man sie auch nicht zu den Krankheiten zählt. (Spinoza, Ethik, 4. Teil, Anmerkung zu Lehrsatz 44.)
Diese Sätze wurden vor ein paar hundert Jahren geschrieben, aber sie treffen noch immer zu, obgleich die Defekte heute in einem solchen Maß kulturell vorgeprägt sind, dass man sie noch nicht einmal mehr als lästig oder hassenswert empfindet. Heute begegnen wir einem Menschen, der wie ein Automat handelt und fühlt, der niemals etwas erlebt, was wirklich zu ihm gehört, der sich ganz als die Person erlebt, die er seiner Ansicht nach sein sollte, dessen künstliches Lächeln an die Stelle eines echten Lachens getreten ist, dessen sinnloses Geschwätz die der Mitteilung dienende Sprache ersetzt, dessen dumpfe Verzweiflung den Platz eines echten Schmerzes einnimmt. Man kann bei einem solchen Menschen zweierlei feststellen: Einmal lässt sich von ihm sagen, dass er an einem Mangel an Spontaneität und Individualität leidet, der unheilbar zu sein scheint. Gleichzeitig lässt sich bei ihm feststellen, dass er sich nicht wesentlich von Millionen anderen unterscheidet, die sich in der gleichen Lage befinden. Für die meisten von ihnen liefert die Kultur das Modell, welches es ihnen ermöglicht, mit einem Defekt zu leben, ohne krank zu werden. Es ist, als ob jede Kultur ein Gegenmittel gegen den Ausbruch manifester neurotischer Symptome produziere, die der von ihr erzeugte Defekt ansonsten nach sich ziehen würde.
Nehmen wir an, es gäbe in unserer westlichen Kultur einmal nur vier Wochen lang weder Kino noch Rundfunk noch Fernsehen, weder sportliche Veranstaltungen noch Zeitungen. Welche Folgen hätte das für die Menschen, die auf sich selbst angewiesen wären, nachdem man ihnen diese Hauptfluchtwege verschlossen hätte? Ich zweifle nicht daran, dass es bereits innerhalb dieser kurzen Zeit zu Tausenden von Nervenzusammenbrüchen käme und dass außerdem noch viele Tausende in einen Zustand akuter Angst gerieten, der sich nicht von dem Bild unterscheiden würde, das klinisch als „Neurose“ diagnostiziert wird.[5]
Wenn man diesen Menschen das Opiat gegen den gesellschaftlich vorgeprägten Defekt entziehen würde, so käme die Krankheit zum Ausbruch.
Bei einer Minderheit funktioniert das von der Kultur vorgeprägte Modell nicht. Es handelt sich oft um diejenigen, deren individueller Defekt schwerer ist als der des [IV-017] Durchschnittsmenschen, so dass die von der Kultur angebotenen Gegenmittel nicht ausreichen, den Ausbruch einer manifesten Krankheit zu verhindern. (Ein solcher Fall wäre zum Beispiel ein Mensch, der sein Lebensziel darin sieht, zu Macht und Ruhm zu gelangen. Während dieses Ziel an sich pathologisch ist, besteht trotzdem ein Unterschied zwischen jemandem, der seine Macht dazu benutzt, dieses Ziel in Wirklichkeit zu erreichen, und einem schwerer Kranken, der aus seinem kindlichen Allmachtsgefühl so wenig herausgekommen ist, dass er nichts unternimmt, um sein Ziel zu erreichen, sondern darauf wartet, dass ein Wunder geschieht, und der sich so immer ohnmächtiger fühlt und schließlich mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens und in Verbitterung endet.) Aber es gibt auch Menschen, deren Charakterstruktur und damit auch deren Konflikte von denen der Mehrheit abweichen, so dass die Gegenmittel, die bei den meisten ihrer Mitmenschen ihre Wirkung nicht verfehlen, bei ihnen nichts helfen. In dieser Gruppe finden wir manchmal Menschen, die eine größere Integrität und Sensitivität als die meisten besitzen und die eben aus diesem Grund das kulturelle Opiat nicht akzeptieren können, während sie gleichzeitig nicht stark und gesund genug sind, um kräftig „gegen den Strom schwimmen“ zu können.
Diese Unterscheidung zwischen der Neurose und dem gesellschaftlich vorgeprägten Defekt könnte den Eindruck erwecken, dass alles gut gehen würde, wenn die Gesellschaft nur die Gegenmittel gegen den Ausbruch manifester Symptome bereitstellte, und dass dann alles auch weiterhin reibungslos funktionieren würde, wie schwer die Defekte auch immer sein mögen. Die Geschichte zeigt uns jedoch, dass dies nicht der Fall ist.
Es stimmt zwar, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier fast unbegrenzt formbar ist. Genauso wie er fast alles essen kann, wie er praktisch in jedem Klima leben und sich ihm anpassen kann, gibt es auch kaum eine psychische Bedingung, die er nicht ertragen und unter der er nicht fortbestehen könnte. Er kann als freier Mensch und als Sklave leben. Er kann in Reichtum und Luxus und unter Bedingungen leben, bei denen er halb verhungert. Er kann als Krieger und als friedlicher Bürger leben, als Ausbeuter und Räuber und als Glied einer kooperativen, liebevollen Gemeinschaft. Es gibt kaum einen seelischen Zustand, in dem der Mensch nicht leben kann, und es gibt kaum etwas, was man mit ihm nicht vornehmen könnte und wozu man ihn nicht benutzen könnte. Alle diese Erwägungen scheinen die Annahme zu rechtfertigen, dass es so etwas wie eine allen Menschen gemeinsame Natur nicht gibt und dass so etwas wie eine Spezies „Mensch“ außer im physiologischen und anatomischen Sinn nicht existiert.
Allem Augenschein zum Trotz zeigt die Geschichte jedoch, dass wir etwas vergessen haben. Despoten und Herrschercliquen können ihre Mitmenschen erfolgreich unterdrücken und ausbeuten, aber sie können Reaktionen gegen diese unmenschliche Behandlung nicht verhindern. Ihre Untertanen bekommen Angst, sie werden argwöhnisch und fühlen sich vereinsamt, und wenn ihr System nicht aus äußeren Ursachen zusammenbricht, so wird es an irgendeinem Punkt deshalb dazu kommen, weil Angst, Argwohn und Einsamkeit schließlich bewirken, dass die Majorität nicht mehr erfolgreich und vernünftig funktioniert. Man kann ganze Völker oder Gesellschaftsgruppen lange Zeit unterjochen und ausbeuten, aber sie werden reagieren. Sie reagieren mit [IV-018] Apathie oder mit einer derartigen Beeinträchtigung ihrer Intelligenz, Initiative und ihrer Fertigkeiten, dass sie allmählich ihre Funktionen im Dienst ihrer Beherrscher nicht mehr erfüllen. Oder sie reagieren mit einer solchen Anhäufung von Hass und Destruktivität, dass sie sich schließlich mitsamt ihren Beherrschern und ihrem System selbst vernichten. Aber ihre Reaktion kann auch in einer solchen Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit bestehen, dass sie mit ihren schöpferischen Impulsen eine bessere Gesellschaft aufbauen. Zu welcher Reaktion es kommt, hängt von vielen Faktoren ab, von wirtschaftlichen und politischen, wie auch von dem geistigen Klima, in dem diese Menschen leben. Aber wie sie auch immer reagieren mögen, die Behauptung, der Mensch könne unter fast allen Bedingungen leben, ist nur die halbe Wahrheit. Sie ist dadurch zu ergänzen, dass, wenn er unter Bedingungen lebt, die seiner Natur und den Grunderfordernissen menschlichen Wachstums und seelischer Gesundheit zuwiderlaufen, er nicht anders kann, als darauf zu reagieren. Er wird dann entweder immer mehr herunterkommen und zugrunde gehen, oder er muss Verhältnisse heraufführen, die seinen Bedürfnissen besser entsprechen.
Dass die menschliche Natur und die Gesellschaft in Bezug auf ihre Bedürfnisse miteinander in Konflikt geraten können und hierdurch eine ganze Gesellschaft krank werden kann, hat Freud sehr klar und am ausführlichsten in seinem Buch Das Unbehagen in der Kultur (1930a) zum Ausdruck gebracht.
Freud geht von der Voraussetzung aus, dass es in allen Kulturen und Zeitaltern eine der menschlichen Rasse gemeinsame menschliche Natur mit ihr innewohnenden feststellbaren Bedürfnissen und Strebungen gibt. Er glaubt, dass Kultur und Zivilisation sich so entwickeln, dass sie zu den Bedürfnissen des Menschen in einem immer größeren Gegensatz stehen, und kommt so zu einem Begriff der „Gemeinschaftsneurose“:
Wenn die Kulturentwicklung so weitgehende Ähnlichkeit mit der des Einzelnen hat und mit denselben Mitteln arbeitet, soll man nicht zur Diagnose berechtigt sein, dass manche Kulturen – oder Kulturepochen – möglicherweise die ganze Menschheit – unter dem Einfluss der Kulturstrebungen „neurotisch“ geworden sind? An die analytische Zergliederung dieser Neurosen könnten therapeutische Vorschläge anschließen, die auf großes praktisches Interesse Anspruch hätten. Ich könnte nicht sagen, dass ein solcher Versuch zur Übertragung der Psychoanalyse auf die Kulturgemeinschaft unsinnig oder zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre. Aber man müsste sehr vorsichtig sein, nicht vergessen, dass es sich doch nur um Analogien handelt und dass es nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Begriffen gefährlich ist, sie aus der Sphäre zu reißen, in der sie entstanden und entwickelt worden sind. Auch stößt die Diagnose der Gemeinschaftsneurosen auf eine besondere Schwierigkeit. Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als „normal“ angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse, er müsste anderswoher geholt werden. Und was die therapeutische Verwendung der Einsicht betrifft, was hülfe die zutreffendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen? Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwarten, dass jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen wird.(S. Freud, 1930a, S. 504 f. – Hervorhebung E. F.) [IV-019]
Das vorliegende Buch unternimmt das Wagnis dieser Untersuchung. Es gründet sich auf die Idee, dass eine Gesellschaft dann gesund ist, wenn sie den Bedürfnissen des Menschen entspricht – nicht unbedingt dem, was er als seine Bedürfnisse empfindet, weil selbst die pathologischsten Ziele von dem Betreffenden subjektiv als sein höchster Wunsch empfunden werden können, sondern dem, was seine Bedürfnisse objektiv sind, wie man sie durch das Studium des Menschen feststellen kann. Unsere erste Aufgabe ist demnach festzustellen, wie die Natur des Menschen beschaffen ist und welches die aus dieser Natur entspringenden Bedürfnisse sind. Danach wollen wir untersuchen, welche Rolle die Gesellschaft in der Evolution des Menschen spielt. Wir wollen sowohl ihre die Entwicklung des Menschen fördernde Rolle als auch die immer wiederkehrenden Konflikte zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft und die Folgen dieser Konflikte, besonders soweit sie die moderne Gesellschaft betreffen, überprüfen.
In Bezug auf seinen Körper und seine physiologischen Funktionen gehört der Mensch dem Tierreich an. Das Leben der Tiere wird durch Instinkte, durch bestimmte Verhaltensmuster bestimmt, die ihrerseits durch ererbte neurologische Strukturen determiniert sind. Je höher ein Tier entwickelt ist, desto größer ist die Flexibilität seiner Verhaltensmuster und desto unvollständiger ist seine strukturelle Anpassungsfähigkeit zur Zeit seiner Geburt. Bei den höheren Primaten finden wir sogar eine beträchtliche Intelligenz vor, nämlich den Gebrauch des Denkens, um erwünschte Ziele zu erreichen, wodurch das Tier in die Lage versetzt wird, weit über die ihm von seinen Instinkten vorgeschriebenen Verhaltensmuster hinauszugehen. Aber so großartig auch die Entwicklung innerhalb des Tierreichs sein mag, gewisse Grundelemente der Existenz bleiben doch immer dieselben.
Das Tier „wird gelebt“ durch biologische Naturgesetze. Es ist Teil der Natur und transzendiert sie nie. Es besitzt kein Gewissen moralischer Art und kein Bewusstsein seiner selbst und seiner Existenz. Es hat keine Vernunft, wenn wir unter Vernunft die Fähigkeit verstehen, die von unseren Sinnen erfasste Oberfläche zu durchdringen und das Wesen hinter dieser Oberfläche zu begreifen. Das Tier besitzt daher auch keinen Begriff von Wahrheit, wenn es vielleicht auch eine Vorstellung davon haben kann, was nützlich ist.
Die tierische Existenz ist gekennzeichnet durch die Harmonie zwischen Tier und Natur. Das heißt natürlich nicht, dass die Naturbedingungen für das Tier nicht oft bedrohlich sind und es zwingen, erbittert um sein Überleben zu kämpfen. Es ist in dem Sinn gemeint, dass das Tier von der Natur so ausgerüstet ist, dass es mit eben den Bedingungen, mit denen es konfrontiert wird, fertig werden kann, genauso wie der Same einer Pflanze von der Natur so ausgerüstet ist, dass er mit den Bedingungen von Boden, Klima usw., an die er sich im Verlauf des Evolutionsprozesses angepasst hat, zurechtkommen kann.
An einem bestimmten Punkt der Evolution der Lebewesen kam es zu einem einzigartigen Kurswechsel, der dem vergleichbar ist, als zum ersten Mal Materie oder zum [IV-021] ersten Mal Leben oder ein tierisches Lebewesen auftauchte. Zu diesem neuen Ereignis kam es, als im Evolutionsprozess das Handeln im wesentlichen nicht mehr durch den Instinkt bestimmt wurde. Die Anpassung an die Natur verlor ihren zwanghaften Charakter, das Handeln war nicht länger durch ererbte Mechanismen fixiert. In dem Augenblick, in dem das Tier die Natur transzendierte, in dem es über die rein passive Rolle eines bloßen Geschöpfes hinausgelangte, in dem es – biologisch gesprochen – zum hilflosesten aller Tiere wurde, wurde der Mensch geboren. An diesem Punkt hatte sich das Tier durch seine aufrechte Haltung von der Natur emanzipiert, das Gehirn war erheblich größer geworden als es bei den höchstentwickelten Tierarten war. Diese Geburt des Menschen kann Hunderttausende von Jahren gedauert haben, aber worauf es ankommt, ist, dass eine neue Spezies entstand, welche die Natur transzendierte, dass das Leben sich seiner selbst bewusst wurde.
Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Vorstellungsvermögen zerstören die für die tierische Existenz kennzeichnende „Harmonie“. Durch ihr Entstehen wurde der Mensch zu einer Anomalie, zu einer Laune des Universums. Er ist Teil der Natur, er ist ihren physikalischen Gesetzen unterworfen, die er nicht verändern kann, und dennoch transzendiert er die übrige Natur. Er steht abseits von ihr und ist trotzdem ein Teil von ihr. Er ist heimatlos und trotzdem an die Heimat gefesselt, die er mit allen Kreaturen gemeinsam hat. Er wird an einen zufälligen Ort zu einem zufälligen Zeitpunkt in die Welt hineingeworfen und muss sie zu einem zufälligen Zeitpunkt wieder verlassen. Da er sich seiner selbst bewusst ist, erkennt er seine Machtlosigkeit und die Grenzen seiner Existenz. Er sieht sein eigenes Ende – den Tod – voraus. Niemals ist er frei von der Dichotomie seiner Existenz: Er kann seinen Geist nicht mehr loswerden, selbst wenn er das wollte; er kann seinen Körper nicht loswerden, solange er lebt, und sein Körper erweckt in ihm den Wunsch, am Leben zu bleiben.
Die Vernunft, der Segen des Menschen, ist zugleich sein Fluch. Sie zwingt ihn, sich immerzu mit der Aufgabe zu beschäftigen, für eine unlösbare Dichotomie eine Lösung zu finden. Das Leben des Menschen unterscheidet sich in dieser Hinsicht von dem aller anderen Organismen: Es befindet sich im Zustand einer ständigen und unvermeidlichen Unausgeglichenheit. Das Leben kann nicht durch eine einfache Wiederholung des Modells seiner Spezies „gelebt werden“. Der Mensch selbst muss leben. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich langweilen kann, das sich aus dem Paradies vertrieben fühlen kann. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine eigene Existenz als ein Problem empfindet, das er lösen muss und dem er nicht entrinnen kann. Er kann nicht in den vormenschlichen Zustand der Harmonie mit der Natur zurückkehren. Er muss seine Vernunft weiterentwickeln, bis er Herr der Natur und seiner selbst wird.
Aber die Geburt des Menschen ist ontogenetisch wie phylogenetisch im wesentlichen ein negatives Ereignis. Es fehlt ihm die instinktive Anpassung an die Natur, es fehlt ihm die physische Kraft, er ist bei seiner Geburt das hilfloseste aller Geschöpfe und braucht viel länger Schutz als jedes andere unter ihnen. Die Einheit mit der Natur ist ihm verlorengegangen, und er ist nicht mit den Mitteln versehen, die es ihm ermöglichen würden, ein neues Leben außerhalb der Natur zu führen. Seine Vernunft ist höchst rudimentär. Er kennt weder die Naturprozesse, noch besitzt er die Werkzeuge, [IV-022] die seine verlorenen Instinkte ersetzen könnten. Er lebt in kleine Gruppen aufgeteilt und kennt weder sich selbst noch die anderen. Seine Situation kommt in der Tat im biblischen Mythos vom Paradies ganz klar zum Ausdruck. Der Mensch, der im Garten Eden in vollkommener Harmonie mit der Natur, aber ohne ein Bewusstsein seiner selbst lebt, beginnt seine Geschichte mit dem ersten Akt der Freiheit, dem Ungehorsam gegen ein Gebot. Gleichzeitig wird er sich seiner selbst, seiner Abgesondertheit, seiner Hilflosigkeit bewusst; er wird aus dem Paradies vertrieben, und zwei Engel mit feurigem Schwert hindern ihn an der Rückkehr.
Die Evolution des Menschen gründet sich darauf, dass er seine ursprüngliche Heimat, die Natur, verloren hat und niemals zurückkehren, niemals wieder ein Tier werden kann. Er kann nur den einen Weg einschlagen: seine natürliche Heimat zu verlassen und eine neue Heimat zu suchen – eine Heimat, die er sich selber schafft, indem er die Welt zu einer menschlichen Welt macht und selbst wahrhaft menschlich wird.
Wenn der Mensch geboren wird – die menschliche Rasse ebenso wie der einzelne Mensch –, muss er einen Zustand verlassen, der so sicher und begrenzt ist, wie es der durch Instinkte bestimmte Zustand war. Er gerät in einen unbestimmten, ungewissen und offenen Zustand. Gewissheit gibt es nur über die Vergangenheit und über die Zukunft soweit, als dies den Tod betrifft, der in Wirklichkeit die Rückkehr in die Vergangenheit, in den anorganischen Zustand der Materie ist.
Das Problem der menschlichen Existenz ist demnach einzigartig in der Natur. Der Mensch ist sozusagen aus der Natur herausgefallen und befindet sich trotzdem noch in ihr. Er ist teils wie ein Gott, teils wie ein Tier; er ist teils unendlich, teils endlich. Die Notwendigkeit, immer neue Lösungen für die Widersprüche seiner Existenz zu finden, immer höhere Formen der Einheit mit der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst zu finden, ist die Quelle aller psychischen Kräfte, welche den Menschen motivieren, die Quelle aller seiner Leidenschaften, Affekte und Ängste.
Das Tier ist zufrieden, wenn seine körperlichen Bedürfnisse – sein Hunger, sein Durst und sein sexuelles Bedürfnis – befriedigt sind. Insofern der Mensch ebenfalls Tier ist, sind bei ihm diese Bedürfnisse ebenfalls gebieterisch und müssen befriedigt werden. Aber insofern der Mensch ein menschliches Wesen ist, reicht die Befriedigung dieser instinkthaften Bedürfnisse nicht aus, ihn glücklich zu machen. Sie reichen nicht einmal aus, ihn gesund zu machen. Der archimedische Punkt der spezifisch menschlichen Dynamik liegt in dieser Einzigartigkeit der menschlichen Situation. Das Verständnis der menschlichen Psyche muss sich auf die Analyse jener Bedürfnisse des Menschen gründen, die aus den Bedingungen seiner Existenz stammen.
Demnach ist das Problem, das die menschliche Rasse genau wie jedes Individuum zu lösen hat, das Problem geboren zu werden. Was das Individuum betrifft, so ist seine körperliche Geburt keineswegs ein so einschneidendes und einzigartiges Ereignis, wie das zunächst scheinen mag. Tatsächlich ist sie ein wichtiger Wechsel aus dem intrauterinen ins extrauterine Leben, aber in vieler Hinsicht unterscheidet sich das Kind nach seiner Geburt nicht von dem Kind vor der Geburt. Es kann die Dinge der Außenwelt noch nicht erkennen; es kann sich noch nicht selbst ernähren; noch ist es von der Mutter völlig abhängig und würde ohne ihre Hilfe zugrunde gehen. Tatsächlich geht der Geburtsprozess weiter. Das Kind fängt an, die Dinge der Außenwelt zu [IV-023] erkennen, affektiv zu reagieren, nach Gegenständen zu greifen, seine Bewegungen zu koordinieren und zu laufen. Aber die Geburt geht weiter. Das Kind lernt sprechen, es lernt die Dinge gebrauchen und ihre Funktion begreifen. Es lernt, mit anderen in Beziehung zu treten, Strafen zu vermeiden und Lob und Zuneigung zu gewinnen. Langsam lernt der Heranwachsende zu lieben, seine Vernunft zu entwickeln, die Welt objektiv zu betrachten. Er fängt an, seine Kräfte zu entwickeln, sich ein Identitätsgefühl zu erwerben und um eines ganzheitlichen Lebens willen den Verführungen seiner Sinne zu widerstehen. Die Geburt im herkömmlichen Sinn des Wortes ist demnach nur der Anfang einer Geburt im weiteren Sinn. Das gesamte Leben des Einzelnen ist nichts anderes als der Prozess, sich selbst zu gebären. Tatsächlich sollten wir, wenn wir sterben, ganz geboren sein, wenn es auch das tragische Schicksal der meisten ist, dass sie sterben, bevor sie geboren sind.
Nach allem, was wir über die Evolution der menschlichen Rasse wissen, ist die Geburt der Menschheit im gleichen Sinn zu verstehen wie die Geburt des Individuums. Als der Mensch eine bestimmte Schwelle einer minimalen instinktiven Anpassung überschritten hatte, hörte er auf, Tier zu sein; aber er war ebenso hilflos und für das Leben als Mensch ebenso schlecht ausgerüstet wie das einzelne Kind bei seiner Geburt. Die Geburt der Menschheit beginnt mit den ersten Gliedern der Spezies Homo sapiens, und die Geschichte der Menschheit ist nichts anderes als der Gesamtprozess dieser Geburt. Der Mensch hat Hunderttausende von Jahren gebraucht, um die ersten Schritte ins menschliche Leben hinein zu tun. Er machte eine narzisstische Phase magisch-omnipotenter Orientierung, eine Phase des Totemismus und der Naturverehrung durch, bis sein Gewissen, seine Objektivität, seine Nächstenliebe, sich zu entwickeln begannen. In den letzten viertausend Jahren seiner Geschichte hat er Zukunftsvisionen des vollkommen geborenen und vollkommen erwachten Menschen entwickelt, wie sie in nicht allzu sehr voneinander abweichenden Formen die großen Lehrer der Menschheit in Ägypten, China, Indien, Palästina, Griechenland und Mexiko entwickelt haben.
Die Tatsache, dass die Geburt des Menschen in erster Linie etwas Negatives ist, dass er nämlich aus seinem ursprünglichen Einssein mit der Natur ausgestoßen wird, dass er nicht dorthin zurückkehren kann, woher er gekommen ist, hat zur Folge, dass der Geburtsprozess keineswegs leicht ist. Jeder Schritt in seine neue menschliche Existenz hinein ist Angst erregend. Es bedeutet immer, dass man einen sicheren Zustand, der relativ bekannt war, für einen anderen aufgibt, der neu ist und den man noch nicht beherrscht. Wenn das Kind im Augenblick der Abtrennung der Nabelschnur denken könnte, würde es zweifellos von Todesangst erfasst. Ein freundliches Schicksal bewahrt uns vor diesem ersten panischen Schrecken. Aber bei jedem neuen Schritt, bei jedem neuen Stadium unserer Geburt geraten wir aufs Neue in Angst. Wir sind niemals frei von zwei widerstreitenden Tendenzen: einerseits aus dem Mutterschoß herauszukommen, aus der tierischen Form der Existenz in eine menschliche, aus der Knechtschaft in die Freiheit zu gelangen, und andererseits in den Mutterschoß, in die Natur, in die Sicherheit und Gewissheit zurückzukehren. In der Geschichte des Individuums und der menschlichen Rasse hat die progressive Tendenz sich als stärker erwiesen. Trotzdem zeigten das Phänomen der psychischen Krankheit und das der [IV-024] Regression der menschlichen Rasse auf Positionen, die scheinbar schon seit Generationen aufgegeben waren, den intensiven Kampf, der jeden neuen Akt der Geburt begleitet.[6]
Das menschliche Leben wird von der unausweichlichen Alternative zwischen Regression und Progression, zwischen der Rückkehr in eine tierische Existenz und dem Erreichen einer menschlichen Existenz bestimmt. Jeder Wunsch einer Rückkehr ist schmerzhaft und führt unvermeidlich zum Leiden und zu psychischen Krankheiten, zum physiologischen oder zum psychischen Tod (dem Wahnsinn). Auch jeder Schritt vorwärts ist Angst erregend und schmerzhaft, bis ein gewisser Punkt erreicht ist, wo Angst und Zweifel nur noch in geringem Maße auftreten. Abgesehen von den physiologisch gespeisten Begierden (Hunger, Durst und Sexualität) werden alle wesentlichen menschlichen Strebungen von dieser Polarität beherrscht. Der Mensch muss ein Problem lösen, er kann nie in der gegebenen Situation einer passiven Anpassung an die Natur beharren. Selbst die vollkommenste Befriedigung aller seiner instinktiven Bedürfnisse löst nicht sein menschliches Problem. Seine intensivsten Leidenschaften und Bedürfnisse sind nicht die in seinem Körper wurzelnden, sondern die, welche in der Besonderheit seiner Existenz ihre Wurzel haben.
Hier liegt auch der Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse. Als Freud nach der grundlegenden Kraft suchte, welche die menschlichen Leidenschaften und Wünsche motiviert, glaubte er sie in der Libido gefunden zu haben. Aber so mächtig der Sexualtrieb und alle seine Ableitungen auch sein mögen, sie sind keineswegs die mächtigsten Kräfte im Menschen, und ihre Nicht-Befriedigung ist nicht die Ursache für psychische Störungen. Die mächtigsten Kräfte, welche das Verhalten des Menschen motivieren, stammen aus der Bedingung seiner Existenz, aus seiner „menschlichen Situation“.
Der Mensch kann nicht statisch leben, weil ihn seine inneren Widersprüche dazu treiben, nach einem Gleichgewicht, nach einer neuen Harmonie zu suchen, die an die Stelle der verlorenen Harmonie des Tieres mit der Natur tritt. Wenn er seine tierischen Bedürfnisse befriedigt hat, wird er von seinen menschlichen Bedürfnissen weitergetrieben. Während sein Körper ihm sagt, was er essen und was er meiden sollte, sollte ihm sein Gewissen sagen, welche Bedürfnisse er kultivieren und befriedigen und welche er einschränken und absterben lassen sollte. Aber Hunger und Appetit sind Funktionen des Körpers, mit denen der Mensch geboren ist – das Gewissen dagegen ist zwar potenziell vorhanden, braucht aber die Lenkung durch Menschen und Prinzipien, die sich nur mit wachsender Kultur entwickeln. [IV-025]
Alle Leidenschaften und Strebungen des Menschen sind Versuche, eine Antwort auf seine Existenz zu finden, oder man könnte auch sagen, sie sind ein Versuch, der Geisteskrankheit zu entgehen. (Nebenbei gesagt, ist, was das psychische Leben betrifft, nicht das wirkliche Problem, warum die Menschen geisteskrank werden, sondern vielmehr, warum die meisten der Geisteskrankheit entgehen.) Sowohl der psychisch Gesunde als auch der Neurotiker wird von dem Bedürfnis getrieben, eine Antwort zu finden, und der einzige Unterschied liegt darin, dass die eine Antwort mehr den Gesamtbedürfnissen des Menschen entspricht und daher eher zu einer Entfaltung seiner Kräfte und zu seinem Glück führt als die andere. Alle Kulturen bieten ein vorgeformtes System, in dem gewisse Lösungen und daher auch gewisse Strebungen und Befriedigungsformen vorherrschen. Ob wir es mit primitiven Religionen, mit theistischen oder nicht-theistischen Religionen zu tun haben, sie alle sind Versuche, eine Antwort auf das existenzielle Problem des Menschen zu finden. Ganz hochentwickelte und ganz barbarische Kulturen haben die gleiche Funktion – der einzige Unterschied liegt darin, ob die von ihnen gefundene Antwort besser oder schlechter ist. Wer von dem kulturellen Muster abweicht, befindet sich genauso auf der Suche nach einer Antwort wie sein besser angepasster Bruder. Seine Antwort kann besser oder schlechter sein als die von seiner Kultur gegebene – es handelt sich in jedem Fall um eine weitere Antwort auf die gleiche, fundamentale, von der menschlichen Existenz gestellte Frage. In diesem Sinn sind alle Kulturen religiös, und jede Neurose ist eine private Form von Religion, vorausgesetzt, dass wir unter Religion den Versuch verstehen, eine Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz zu finden. Die ungeheure Energie in den Kräften, welche eine psychische Krankheit hervorrufen, wie auch die in Kunst und Religion steckende Energie, könnte man niemals als Folge frustrierter oder sublimierter physiologischer Bedürfnisse verstehen. Es handelt sich vielmehr um Versuche, das Problem zu lösen, ganz als Mensch geboren zu werden. Alle Menschen sind Idealisten und können gar nicht umhin, Idealisten zu sein, vorausgesetzt, dass wir unter Idealismus das Streben nach der Befriedigung von Bedürfnissen verstehen, die spezifisch menschlich sind und die über die physiologischen Bedürfnisse des Organismus hinausgehen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass der eine Idealismus zu einer guten und adäquaten Lösung und der andere zu einer schlechten und destruktiven führt. Die Entscheidung darüber, was gut und was schlecht ist, müssen wir auf Grund unseres Wissens über die Natur des Menschen und die Gesetze, die deren Wachstum beherrschen, treffen.
Welches aber sind diese Bedürfnisse und Leidenschaften, die aus der Existenz des Menschen stammen?
Der Mensch ist aus der Einheit mit der Natur, die die tierische Existenz kennzeichnet, herausgerissen. Da er sowohl über Vernunft als auch über Vorstellungsvermögen verfügt, ist er sich seiner Einsamkeit und Absonderung, seiner Machtlosigkeit und Unwissenheit und der Zufälligkeit seiner Geburt und seines Todes bewusst. Er könnte [IV-026] diesen Zustand keinen Augenblick ertragen, wenn er nicht neue Bindungen an seine Mitmenschen anknüpfen könnte, die die alten, von den Instinkten regulierten ersetzen. Selbst wenn alle seine physiologischen Bedürfnisse befriedigt wären, so würde er doch seinen Zustand der Einsamkeit und Vereinzelung als ein Gefängnis empfinden, aus dem er ausbrechen müsste, um gesund zu bleiben. Tatsächlich ist ja der Geisteskranke ein Mensch, dem es völlig misslungen ist, irgendeine Art von Einssein zu erreichen, und der sich in Gefangenschaft befindet, auch wenn er nicht hinter vergitterten Fenstern lebt. Sich mit anderen Lebewesen zu vereinigen, zu ihnen in Beziehung zu treten, ist ein gebieterisches Bedürfnis, von dessen Befriedigung die seelische Gesundheit des Menschen abhängt. Dieses Bedürfnis steht hinter allen Erscheinungen, welche die gesamte Skala der intimen menschlichen Beziehungen ausmachen, hinter allen Leidenschaften, die man im weitesten Sinn des Wortes als Liebe bezeichnet.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Vereinigung zu suchen und zu erlangen. Der Mensch kann versuchen, mit der Welt dadurch eins zu werden, dass er sich einem Menschen, einer Gruppe, einer Institution, einem Gott unterwirft. Auf diese Weise überwindet er das Abgetrenntsein seiner individuellen Existenz, indem er Teil eines anderen Menschen oder von etwas wird, das größer ist als er, und er erlebt seine Identität in Verbindung mit der Macht, der er sich unterworfen hat. Eine andere Möglichkeit zur Überwindung dieser Absonderung liegt in der entgegengesetzten Richtung: Der Mensch kann versuchen, sich mit der Welt dadurch zu vereinigen, dass er Macht über sie gewinnt, indem er andere zu einem Bestandteil seiner selbst macht und auf diese Weise seine individuelle Existenz durch die Beherrschung anderer transzendiert. Das gemeinsame Element in der Unterwerfung und der Beherrschung anderer ist die symbiotische Natur der Bezogenheit. Beide Beteiligten haben ihre Integrität und ihre Freiheit verloren; sie leben voneinander, einer lebt auf Kosten des anderen, und sie befriedigen ihr Verlangen nach Nähe, leiden jedoch an einem Mangel an innerer Kraft und Selbstvertrauen, wozu Freiheit und Unabhängigkeit nötig wären; außerdem drohen ihnen ständig bewusste oder unbewusste Feindseligkeiten, die notwendigerweise aus einer symbiotischen Beziehung erwachsen (vgl. hierzu Die Furcht vor der Freiheit, 1941a). Die Realisierung einer auf Unterwerfung gegründeten (masochistischen) oder einer auf Beherrschung beruhenden (sadistischen) Leidenschaft führt nie zur Befriedigung. Sie sind von einer sich immer wieder selbst antreibenden Dynamik, und da keine noch so große Unterwerfung oder Beherrschung (oder kein noch so großer Besitz oder Ruhm) genügt, um dem Betreffenden das Gefühl von Identität und Einssein zu geben, sucht er immer nach mehr und mehr. Das Endresultat solcher Leidenschaften ist das Scheitern. Es kann auch gar nicht anders sein. Diese Leidenschaften zielen darauf, ein Gefühl der Einheit zu erlangen, aber sie zerstören dabei das Integritätsgefühl. Wer von einer solchen Leidenschaft getrieben wird, wird tatsächlich von anderen abhängig; anstatt sein eigenes individuelles Sein zu entwickeln, ist er von denen abhängig, denen er sich unterwirft oder die er beherrscht.
Es gibt nur eine Leidenschaft, die das Bedürfnis des Menschen befriedigt, mit der Welt eins zu werden und gleichzeitig ein Gefühl der Integrität und Individualität zu erlangen: die Liebe. Liebe ist die Vereinigung mit einem anderen Menschen oder Ding [IV-027] außerhalb seiner selbst unter der Bedingung, dass die Gesondertheit und Integrität des eigenen Selbst dabei bewahrt bleibt. Liebe ist die Erfahrung des Teilens, der Gemeinschaft, die die volle Entfaltung des eigenen inneren Tätigseins erlaubt. Das Erlebnis der Liebe macht Illusionen überflüssig. Ich habe es nicht mehr nötig, das Bild des anderen oder das eigene Image aufzublähen, da die Realität des gelebten Teilens und Liebens es mir ermöglicht, mein vereinzeltes Dasein zu transzendieren und gleichzeitig mich als das Subjekt jener Kräfte zu erleben, die den Akt des Liebens ausmachen. Worauf es ankommt, ist die besondere Qualität des Liebens und nicht das Objekt der Liebe. Liebe findet sich in der Erfahrung der Solidarität mit unserem Mitmenschen, Liebe findet sich auch in der erotischen Liebe von Mann und Frau, in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind und auch in der Liebe zu uns selbst als einem menschlichen Wesen. Sie findet sich im mystischen Erlebnis des Einswerdens.[7] Im Akt des Liebens bin ich eins mit dem All, und dennoch bin ich ich selbst, ein einzigartiges, besonderes, begrenztes, sterbliches menschliches Wesen. Eben aus dieser Polarität von Getrenntsein und Vereinigung wird die Liebe geboren und immer wieder neu geboren. Liebe ist ein Aspekt dessen, was ich als die produktive Orientierung bezeichnet habe: die tätige und kreative Bezogenheit des Menschen zu seinem Mitmenschen, zu sich selbst und zur Natur. Im Bereich des Denkens kommt diese produktive Orientierung in der richtigen Erfassung der Welt durch die Vernunft zum Ausdruck. Im Bereich des Handelns drückt sich die produktive Orientierung in produktiver Arbeit, im Prototyp dessen aus, was unter Kunst und Handwerk zu verstehen ist. Im Bereich des Fühlens kommt die produktive Orientierung in der Liebe zum Ausdruck, die das Erlebnis des Einswerdens mit einem anderen Menschen, mit allen Menschen und mit der Natur bedeutet unter der Voraussetzung, dass man sich dabei sein Integritätsgefühl und seine Unabhängigkeit bewahrt. Im Erlebnis der Liebe kommt es zu der paradoxen Situation, dass zwei Menschen eins werden und gleichzeitig zwei bleiben. Liebe in diesem Sinn ist niemals auf eine Person beschränkt. Wenn ich nur einen einzigen Menschen und niemand sonst liebe, wenn mich meine Liebe zu einer bestimmten Person meinen Mitmenschen noch weiter entfremdet und mich noch weiter von ihnen entfernt, dann kann ich an diese Person auf mancherlei Weise gebunden sein, aber ich liebe nicht. Wenn ich sagen kann, „ich liebe dich“, sage ich, „ich liebe in dir die ganze Menschheit, alles Lebendige; ich liebe in dir auch mich selbst“. Die Selbstliebe in diesem Sinn ist das Gegenteil der Selbstsucht. Letztere ist in Wirklichkeit ein gieriges Interesse an sich selbst, das aus einem Mangel an echter Liebe zu sich selbst entspringt und diesen Mangel kompensiert. Die Liebe dagegen macht mich paradoxerweise unabhängiger, weil sie mich stärker und glücklicher macht – dennoch macht sie mich eins mit der geliebten Person, und das in einem solchen Maße, dass die Individualität für den Augenblick ausgelöscht scheint. Wenn ich liebe, mache ich die Erfahrung „ich bin du“, du – als die geliebte Person, du – als der Fremde, du – als alles Lebendige. Das Erlebnis der Liebe ist die einzige Antwort auf die Frage, was es bedeutet, ein menschliches Wesen zu sein, und nur sie verbürgt seelische Gesundheit.
Die produktive Liebe umfasst stets das Syndrom folgender Einstellungen: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und wissendes Verstehen. (Vgl. Psychoanalyse und Ethik, 1947a, S. 98-101.) Wenn ich liebe, liegt mir der andere am Herzen, das heißt, ich habe ein [IV-028] aktives Interesse an seinem Wachstum und Glück; ich bin dabei nicht nur Zuschauer. Ich fühle mich für ihn verantwortlich, das heißt, ich antworte auf seine Bedürfnisse, auf die, welche er zum Ausdruck bringen kann, und erst recht auf die, welche er nicht auszudrücken weiß. Ich respektiere ihn, das heißt (entsprechend der ursprünglichen Bedeutung von re-spicere), ich sehe ihn so, wie er ist, objektiv und nicht entstellt durch meine Wünsche und Befürchtungen. Ich kenne ihn, ich bin durch seine Oberfläche zum Kern seines Seins durchgedrungen und bin mit ihm aus meinem innersten Kern, aus meinem Zentrum heraus, und nicht nur mit der Oberfläche meines Wesens in Beziehung getreten. (Diese Identität von „lieben“ und „erkennen“ wird im hebräischen jadoa und im deutschen meinen und minnen deutlich.)
Wenn sich die produktive Liebe auf meinesgleichen richtet, so kann man sie als Nächstenliebe oder Menschenliebe bezeichnen. Bei der Mutterliebe (hebräisch: rachamin von rechem = Mutterschoß) handelt es sich um eine Beziehung zwischen zwei ungleichen Personen. Das Kind ist hilflos und von seiner Mutter abhängig. Um zu wachsen, muss es von ihr immer unabhängiger werden, bis es seine Mutter schließlich nicht mehr braucht. So ist die Mutter-Kind-Beziehung paradox und in gewissem Sinn tragisch. Sie fordert von der Mutter die intensivste Liebe, und trotzdem muss diese Liebe dem Kind dabei helfen, von ihr wegzuwachsen und vollkommen unabhängig zu werden. Es ist für jede Mutter leicht, ihr Kind zu lieben, bevor dieser Trennungsprozess begonnen hat – aber das Kind gleichzeitig zu lieben und es gehen zu lassen – und zu wünschen, dass es geht, ist die Aufgabe, bei der die meisten scheitern.
Bei der erotischen Liebe (griechisch: eros; hebräisch: ahabah, das von der Wurzel des Verbums „glühen“ abgeleitet ist) ist ein anderer Trieb im Spiel, der nach Vereinigung und Einswerden mit dem anderen drängt. Während die Menschenliebe sich auf alle Menschen und die Mutterliebe sich auf das Kind und all die bezieht, die Hilfe brauchen, richtet sich die erotische Liebe auf eine einzige Person, normalerweise vom anderen Geschlecht, mit der man sich vereinigen und eins werden möchte. Die erotische Liebe beginnt mit dem Getrenntsein und endet im Einssein. Die Mutterliebe beginnt mit dem Einssein und führt zum Getrenntsein. Wenn das Bedürfnis nach Vereinigung in der mütterlichen Liebe realisiert würde, so würde das die Zerstörung des Kindes als eines unabhängigen Wesens bedeuten, da das Kind von seiner Mutter loskommen muss und nicht an sie gebunden bleiben darf. Wenn der erotischen Liebe die Menschenliebe fehlt und sie allein vom Wunsch nach Vereinigung motiviert ist, dann ist sie sexuelle Begierde ohne Liebe, oder es handelt sich um die Perversion der Liebe, wie wir sie in den sadistischen und masochistischen Formen der „Liebe“ finden.
Man versteht das Bedürfnis des Menschen, bezogen zu sein, nur dann ganz, wenn man sich die Folgen vor Augen hält, die ein Scheitern jeder Art von Bezogenheit nach sich zieht, das heißt, wenn man die Bedeutung des Narzissmus begreift. Die einzige Realität, die der Säugling erleben kann, sind sein eigener Körper und seine Bedürfnisse, die körperlichen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Wärme und Zuneigung. Er hat sein „Ich“ noch nicht als getrennt vom „Du“ erfahren. Noch befindet er sich im Zustand des Einsseins mit der Welt, aber eines Einsseins, bevor sein Sinn für die Individualität und die Realität erwacht ist. Die Welt außerhalb existiert für ihn nur in Gestalt der Nahrung und in Gestalt der Wärme, die er zur Befriedigung seiner [IV-029] Bedürfnisse braucht, und nicht als etwas oder jemand, den er realistisch und objektiv erkennt. Freud hat diese Orientierung als „primären Narzissmus“ bezeichnet. Bei einer normalen Entwicklung wird dieser Zustand des Narzissmus nach und nach durch die wachsende Wahrnehmung der äußeren Realität und ein entsprechend zunehmendes Ichgefühl im Unterschied zum „Du“ überwunden. Zu dieser Veränderung kommt es zuerst auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung, wenn Dinge und Menschen als unterschiedliche und eigene Größen wahrgenommen werden. Dies ist die Vorbedingung für die Sprache. Die Dinge beim Namen nennen zu können, setzt voraus, dass man sie als individuelle und eigenständige Größen erkennt. (Vgl. J. Piaget, 1937.) Viel länger dauert es, bis der narzisstische Zustand emotional überwunden ist. Für das Kind bis zum Alter von sieben oder acht Jahren existieren andere Menschen immer noch hauptsächlich als Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Sie sind soweit austauschbar, als sie die Funktion erfüllen, diese Bedürfnisse zu befriedigen, und erst mit acht oder neun Jahren erlebt das Kind einen anderen Menschen so, dass es anfangen kann, ihn zu lieben, das heißt, wie H. S. Sullivan es formuliert, zu fühlen, dass die Bedürfnisse eines anderen Menschen ebenso wichtig sind wie die eigenen (vgl. H. S. Sullivan, 1953, S. 49 ff.).[8]
Der primäre Narzissmus ist ein normales Phänomen, das der normalen körperlichen und seelischen Entwicklung des Kindes entspricht. Aber es gibt auch in späteren Lebensphasen einen Narzissmus (den „sekundären Narzissmus“ nach Freud), zu dem es dann kommt, wenn es dem heranwachsenden Kind nicht gelingt, seine Liebesfähigkeit zu entwickeln, oder wenn es diese wieder verliert. Der Narzissmus liegt allen schweren psychischen Erkrankungen zugrunde. Für den narzisstischen Menschen gibt es nur eine Realität: die seiner eigenen Denkprozesse, Gefühle und Bedürfnisse. Er erlebt die Außenwelt nicht objektiv, er nimmt sie nicht objektiv wahr, das heißt nicht als etwas mit einem eigenen Standpunkt, mit eigenen Bedingungen und Bedürfnissen. Die extremste Form des Narzissmus findet man in sämtlichen Formen von Geisteskrankheit. Der Geisteskranke hat den Kontakt mit der Welt verloren; er hat sich in sich selbst zurückgezogen. Er kann weder die materielle noch die menschliche Wirklichkeit so erfahren, wie sie ist, sondern nur so, wie seine eigenen inneren Prozesse [IV-030] sie formen und bestimmen. Entweder reagiert er überhaupt nicht auf die Außenwelt, oder wenn er es tut, reagiert er nicht entsprechend ihrer Realität, sondern entsprechend seinen eigenen Denk- und Gefühlsprozessen. Der Narzissmus ist der Gegenpol zu Objektivität, Vernunft und Liebe.
Die Tatsache, dass ein völliges Scheitern der Bezogenheit auf die Welt zur Geisteskrankheit (Psychose) führt, weist auf die andere Tatsache hin: dass irgendeine Form von Bezogenheit die Voraussetzung dafür ist, überhaupt seelisch gesund zu leben. Aber unter den vielen Formen der Bezogenheit erfüllt nur die produktive Form, die liebende Bezogenheit, die Bedingung, dass man seine Freiheit und Integrität behält, wenn man sich mit einem Mitmenschen vereinigt.
Ein weiterer Aspekt der menschlichen Situation, der eng mit dem Bedürfnis nach Bezogenheit zusammenhängt, ist die Situation des Menschen als Geschöpf und sein Bedürfnis, diesen Zustand des passiven kreatürlichen Seins zu überwinden. Der Mensch wird in die Welt hineingeworfen ohne sein Wissen, ohne seine Zustimmung oder seinen Wunsch, und er wird wieder aus ihr genommen, ebenfalls ohne seine Zustimmung oder seinen Wunsch. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht von Tieren, Pflanzen oder von der anorganischen Materie. Da er aber mit Vernunft und Vorstellungsvermögen begabt ist, kann er sich nicht mit der passiven Rolle der Kreatur zufriedengeben, mit der Rolle des aus einem Becher herausgeworfenen Würfels. Es drängt ihn, die Rolle des Geschöpfs, die Zufälligkeit und Passivität der kreatürlichen Existenz dadurch zu überwinden, dass er selbst zu einem „Schöpfer“ wird.
Der Mensch kann Leben schaffen. Das ist die wunderbare Eigenschaft, die er zwar mit allen Lebewesen gemeinsam hat, jedoch mit dem Unterschied, dass er allein sich bewusst ist, zugleich Geschöpf und Schöpfer zu sein. Der Mensch kann Leben erzeugen, oder vielmehr, die Frau kann Leben erzeugen, indem sie ein Kind zur Welt bringt und das Kind versorgt, bis es groß genug geworden ist, um für seine Bedürfnisse selbst zu sorgen. Die Menschen – Mann wie Frau – können etwas erzeugen, indem sie Samen säen, indem sie materielle Gegenstände produzieren, indem sie Kunstwerke schaffen, indem sie Ideen erzeugen und indem sie einander lieben. Im Schöpfungsakt transzendiert der Mensch sich selbst als Geschöpf, erhebt er sich über die Passivität und Zufälligkeit seiner Existenz in den Bereich der Zielgerichtetheit und Freiheit. Im Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz liegt eine der Wurzeln der Liebe wie auch der Kunst, der Religion und der materiellen Produktion.
Etwas zu schaffen setzt Tätigsein und Fürsorge voraus. Es setzt voraus, dass man das liebt, was man schafft. Wie sonst könnte der Mensch das Problem, sich zu transzendieren, lösen, wenn nicht durch die Fähigkeit, schöpferisch zu sein und zu lieben? Es gibt noch eine andere Antwort auf dieses Bedürfnis nach Transzendenz: Wenn ich kein Leben schaffen kann, dann kann ich es zerstören. Auch indem ich das Leben zerstöre, kann ich es transzendieren. Dass der Mensch Leben zerstören kann, ist in der Tat etwas genauso Wunderbares, wie dass er es erzeugen kann, denn das Leben ist das Wunder, [IV-031] das Unerklärliche. Im Akt des Zerstörens setzt sich der Mensch über das Leben hinweg; er transzendiert sich als Geschöpf. Auf diese Weise sieht sich der Mensch, insofern er sich getrieben fühlt, sich selbst zu transzendieren, vor die letzte Wahl gestellt, entweder etwas zu schaffen oder zu zerstören, zu lieben oder zu hassen. Die enorme Macht des Zerstörungswillens, die wir in der Geschichte der Menschheit am Werk sehen und deren Zeugen wir auch in unserer Zeit auf so schreckliche Weise wurden, wurzelt genauso in der Natur des Menschen, wie der Trieb, etwas zu schaffen, in ihr verwurzelt ist. Wenn man sagt, der Mensch sei fähig, sein ursprüngliches Potenzial zur Liebe und Vernunft zu entwickeln, so impliziert das nicht den naiven Glauben, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Die Destruktivität ist eine sekundäre Entwicklungsmöglichkeit, die in der menschlichen Existenz selbst wurzelt und die die gleiche Intensität und Macht besitzt, wie sie jede Leidenschaft haben kann.[9] Aber – und das ist der wesentliche Punkt, auf den ich hinaus will – sie ist nur die Alternative zu seiner Kreativität. Schaffen und Zerstören, Lieben und Hassen sind nicht zwei unabhängig voneinander existierende Größen. Es sind beides Antworten auf das gleiche Bedürfnis nach Transzendenz. Der Wille zu zerstören muss entstehen, wenn der Wille, etwas zu schaffen, nicht befriedigt werden kann. Die Befriedigung des Bedürfnisses, etwas zu schaffen, führt jedoch zum Glück; die Destruktivität führt zum Leiden, vor allem für den Zerstörer selbst.
Die Geburt des Menschen als Menschen ist der Anfang seines Ausgangs aus seiner natürlichen Heimat, der Anfang der Lösung aus seinen natürlichen Bindungen. Aber diese Loslösung ist Angst erregend. Wenn der Mensch seine natürlichen Wurzeln verliert, wo befindet er sich dann, und wer ist er? Er würde allein stehen, ohne eine Heimat. Er wäre wurzellos und könnte die Isolierung und Hilflosigkeit seiner Lage nicht ertragen. Er würde wahnsinnig. Auf seine natürlichen Wurzeln kann er nur verzichten, wenn er neue menschliche Wurzeln findet, und nur nachdem er diese menschliche Verwurzelung gefunden hat, kann er sich wieder in der Welt zu Hause fühlen. Ist es demnach verwunderlich, dass wir beim Menschen eine tiefe Sehnsucht feststellen, die natürlichen Bedingungen nicht abzubrechen und sich dagegen zu wehren, von der Natur, der Mutter, dem Blut und dem Boden hinweggerissen zu werden?
Die elementarste aller natürlichen Bindungen ist die Bindung des Kindes an die Mutter. Das Kind beginnt sein Leben im Mutterschoß und lebt darin weit länger, als das bei den meisten Tieren der Fall ist. Selbst noch nach der Geburt bleibt das Kind körperlich hilflos und völlig von der Mutter abhängig. Auch diese Periode der Hilflosigkeit und Abhängigkeit zieht sich bei ihm im Vergleich zu allen anderen Tieren viel länger hin. In den ersten Jahren seines Lebens kommt es noch nicht zu einer vollen [IV-032] Trennung des Kindes von seiner Mutter. Die Befriedigung all seiner körperlichen Bedürfnisse, seines vitalen Bedürfnisses nach Wärme und Zuneigung hängt von ihr ab. Sie hat ihrem Kind nicht nur einmal das Leben geschenkt, sie schenkt es ihm auch weiterhin. Ihre Fürsorge ist in keiner Weise davon abhängig, was das Kind für sie tut, und auch nicht von irgendeiner Verpflichtung, die das Kind ihr gegenüber hätte. Sie ist bedingungslos. Sie kümmert sich um das Kind, weil dieses neue Geschöpf eben ihr Kind ist. Das Kind erlebt in diesem entscheidenden ersten Lebensjahr seine Mutter als die Quelle des Lebens, als eine allumhüllende, beschützende, nährende Macht. Die Mutter ist die Nahrung, sie ist die Liebe, sie ist die Wärme, sie ist die Erde. Von ihr geliebt zu werden, bedeutet lebendig, verwurzelt, zu Hause zu sein.
Genauso wie die Geburt bedeutet, dass das Kind den umhüllenden Schutz des Mutterleibs verlässt, bedeutet das Heranwachsen, dass es den schützenden Bereich der Mutter verlassen muss. Aber selbst beim reifen Erwachsenen hört die Sehnsucht nach jenem Zustand, wie er einst gegeben war, nie völlig auf, und dies trotz der Tatsache, dass zwischen dem Erwachsenen und dem Kind doch ein so großer Unterschied besteht. Der Erwachsene besitzt die Mittel, auf eigenen Füßen zu stehen, für sich selbst zu sorgen, für sich selbst und sogar auch für andere die Verantwortung zu übernehmen, während das Kind zu all dem noch nicht fähig ist. Aber angesichts der größeren Schwierigkeiten des Lebens, angesichts der fragmentarischen Natur unseres Wissens und aller Zufälligkeiten, denen der Erwachsene ausgesetzt ist, angesichts der unvermeidlichen Fehler, die wir machen, ist die Situation des Erwachsenen keineswegs so verschieden von der des Kindes, wie man im allgemeinen annimmt. Jeder Erwachsene braucht Hilfe, Wärme, Schutz. Seine Bedürfnisse unterscheiden sich in mannigfacher Weise von denen des Kindes und sind diesen doch auch wieder sehr ähnlich. Ist es dann verwunderlich, dass wir beim durchschnittlichen Erwachsenen eine tiefe Sehnsucht nach der Sicherheit und Verwurzelung finden, die ihm die Beziehung zu seiner Mutter einst gab? Ist es überraschend, dass er diese intensive Sehnsucht nicht aufgeben kann, wenn er nicht andere Möglichkeiten zu einer neuen Verwurzelung findet?
In der Psychopathologie finden wir viele Beispiele dafür, dass jemand sich weigert, den allumhüllenden mütterlichen Bereich zu verlassen. In der extremsten Form treffen wir auf das Verlangen, in den Mutterschoß zurückzukehren. Jemand, der von diesem Wunsch völlig besessen ist, kann das Krankheitsbild der Schizophrenie bieten. Er fühlt und handelt dann wie das Kind im Mutterleib und ist unfähig, auch nur die elementarsten Funktionen eines kleinen Kindes auszuführen. In vielen der schwereren Neurosen stoßen wir auf das gleiche Verlangen, jedoch in Form eines verdrängten Wunsches, der nur in Träumen, Symptomen und in neurotischem Verhalten zum Ausdruck kommt. Er entsteht aus dem Konflikt zwischen dem tiefen Wunsch, im Mutterschoß zu bleiben, und dem erwachsenen Persönlichkeitsteil, der ein normales Leben leben möchte. Dieses Verlangen taucht in Träumen in Form von Symbolen auf, wie zum Beispiel, dass man sich in einer dunklen Höhle, in einem in die Tiefe tauchenden Einmann-Unterseeboot oder dergleichen befindet. Aus dem Verhalten eines solchen Menschen spricht eine Lebensangst und eine tiefe Faszination durch den Tod (den Tod, der in der Phantasie gleichbedeutend ist mit der Rückkehr in den Mutterschoß, zur Mutter Erde). [IV-033]
Die weniger schwere Form der Mutterbindung findet man in jenen Fällen, in denen jemand es sich sozusagen gestattet hat, geboren zu werden, aber dann Angst hat, den nächsten Schritt in diesem Geburtsprozess zu tun und sich der Mutterbrust zu entwöhnen. Menschen, die in diesem Stadium der Geburt steckenbleiben, haben eine tiefe Sehnsucht danach, von einer Mutterfigur bemuttert, umsorgt und beschützt zu werden. Es sind die ewig Abhängigen, die angstvoll und unsicher sind, wenn ihnen der mütterliche Schutz entzogen wird, und die optimistisch und aktiv werden, wenn ihnen eine liebevolle Mutter oder ein Mutterersatz entweder in der Realität oder in der Phantasie zur Verfügung steht.
Diese pathologischen Phänomene im Leben des einzelnen haben ihre Parallele in der Evolution der menschlichen Rasse. Am deutlichsten kommt das in der universalen Verbreitung des Inzesttabus zum Ausdruck, das wir selbst in den primitivsten Gesellschaften finden. Das Inzesttabu ist die notwendige Voraussetzung für jede menschliche Entwicklung, und dies nicht wegen seines sexuellen, sondern wegen seines affektiven Aspekts. Um geboren zu werden, um Fortschritte machen zu können, muss der Mensch die Nabelschnur durchtrennen; er muss sein tiefes Verlangen, an die Mutter gebunden zu bleiben, überwinden. Das inzestuöse Verlangen bezieht seine Macht nicht aus der sexuellen Anziehungskraft der Mutter, sondern aus dem tiefen Verlangen, in dem allumhüllenden Mutterschoß oder an der allnährenden Mutterbrust zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Das Inzesttabu ist nichts anderes als die beiden Cherubim mit dem Flammenschwert, die den Eingang zum Paradies bewachen und den Menschen daran hindern, in seine vorindividuelle Existenz des Einsseins mit der Natur zurückzukehren.
Das Inzestproblem beschränkt sich jedoch nicht auf die Bindung an die Mutter. Die Bindung an sie ist nur die elementarste Form aller natürlichen Blutsbindungen, die dem Menschen das Gefühl des Verwurzeltseins und der Zugehörigkeit geben. Die Blutsbindungen werden auch auf andere Blutsverwandtschaften ausgedehnt, die jeweils dem System entsprechen, in dem solche Beziehungen angeknüpft werden. Die Familie und die Sippe und später der Staat, die Nation oder die Kirche übernehmen die gleiche Funktion, welche die individuelle Mutter ursprünglich für das Kind hatte. Der Einzelne lehnt sich dann an diese Institutionen an, er fühlt sich darin verwurzelt, er identifiziert sich mit ihnen und fühlt sich als Teil von ihnen und nicht als ein von ihnen getrenntes Individuum. Wer nicht zur gleichen Sippe gehört, wird als fremd und gefährlich angesehen als jemand, der nicht die gleichen menschlichen Eigenschaften besitzt, wie sie nur die eigene Sippe hat.
Freud sah in der Mutterbindung das entscheidende Problem in der Entwicklung sowohl der menschlichen Rasse als auch des Individuums. Seinem System entsprechend erklärte er, die Intensität der Bindung an die Mutter komme daher, dass der kleine Junge sich sexuell zu ihr hingezogen fühle. Hierin komme das der menschlichen Natur innewohnende inzestuöse Begehren zum Ausdruck. Er führte die Fortdauer der Mutterbindung im späteren Leben auf die Fortdauer des sexuellen Begehrens zurück. Indem er diese Annahme zu seinen Beobachtungen, dass der Sohn sich gegen den Vater auflehnt, in Beziehung setzte, brachte er seine Annahme und seine Beobachtungen auf höchst geistreiche Art als „Ödipuskomplex“ miteinander in Einklang. Die [IV-034] Feindschaft des Sohnes gegen den Vater erklärte er als Folge seiner sexuellen Rivalität zu ihm.[10]
Aber während Freud die ungeheure Bedeutung der Bindung an die Mutter richtig erkannte, schwächte er seine Entdeckung durch die eigentümliche Interpretation, die er ihr gab, ab. Er projizierte in den kleinen Jungen das sexuelle Empfinden des erwachsenen Mannes. Da der kleine Junge, wie Freud erkannte, sexuelle Wünsche hat, soll er sich seiner Meinung nach von der Frau, die ihm am nächsten steht, sexuell angezogen fühlen und sich nur durch die überlegene Macht seines Rivalen in diesem Dreiecksverhältnis gezwungen sehen, seine Wünsche aufzugeben, ohne sich jedoch jemals ganz von dieser Versagung zu erholen. Freuds Theorie ist eine merkwürdig rationalistische Interpretation beobachtbarer Tatsachen. Dadurch, dass er den Nachdruck auf den sexuellen Aspekt des inzestuösen Begehrens legt, erklärt Freud das Begehren des kleinen Jungen als etwas an sich Vernünftiges, wodurch ihm das wahre Problem entgeht: die Tiefe und Intensität der irrationalen, affektiven Bindung an die Mutter, der Wunsch, in ihren Bereich zurückzukehren, ein Teil von ihr zu bleiben, die Angst, sich ganz von ihr zu lösen. Nach Freuds Erklärung kann der inzestuöse Wunsch durch die Gegenwart des Vater-Rivalen nicht erfüllt werden. In Wirklichkeit steht dieser inzestuöse Wunsch im Gegensatz zu allen Erfordernissen des Lebens des Erwachsenen.
So ist die Theorie des Ödipuskomplexes zugleich die Anerkennung und die Verleugnung des entscheidenden Phänomens: der Sehnsucht des Mannes nach der Liebe der Mutter. Indem er dem inzestuösen Verlangen eine überragende Bedeutung zuerkennt, anerkennt Freud die Wichtigkeit der Bindung an die Mutter; dadurch dass er sie als sexuell bezeichnet, verleugnet er ihre wahre, nämlich emotionale Bedeutung.
Wenn die Bindung an die Mutter auch sexueller Art ist, was zweifellos vorkommt, so kommt das daher, dass die affektive Fixierung so stark ist, dass sie auch das sexuelle Begehren mit beeinflusst, nicht aber daher, dass das sexuelle Begehren dieser Fixierung zugrunde liegt. Ganz im Gegenteil ist das sexuelle Begehren bekanntlich hinsichtlich seiner Objekte nicht festgelegt, und im allgemeinen ist es genau die Kraft, die dem Adoleszenten hilft, sich von der Mutter zu trennen, und nicht die, welche ihn an sie bindet. Wo wir aber finden, dass die intensive Mutterbindung die normale Funktion des Sexualtriebs verändert hat, müssen wir zwei Möglichkeiten in Betracht ziehen. Die eine besteht darin, dass das sexuelle Begehren nach der Mutter eine Abwehrmaßnahme gegen den Wunsch ist, in den Mutterschoß zurückzukehren. Dieser Wunsch führt in die Psychose oder zum Tod, während das sexuelle Begehren wenigstens mit dem Leben vereinbar ist. Man rettet sich vor der Angst vor dem bedrohlichen Mutterschoß durch die dem Leben nähere Phantasie, mit dem entsprechenden Organ in die Vagina einzudringen.[11] Die andere in Erwägung zu ziehende Möglichkeit ist, dass die Phantasie vom Geschlechtsverkehr mit der Mutter nicht die Qualität der Sexualität des erwachsenen Mannes besitzt, dass sie keine freiwillige, lustbetonte Aktivität ist, sondern dass es sich – selbst in der Sexualsphäre – um ein passives [IV-035] Erobert- und In-Besitz-Genommen-Werden durch die Mutter handelt. Neben diesen beiden Möglichkeiten, die auf eine ziemlich schwere Erkrankung hinweisen, gibt es auch Beispiele von inzestuösen sexuellen Wünschen, die von einer verführerischen Mutter animiert werden und die zwar auch eine Mutterbindung erkennen lassen, aber auf eine weniger schwere Erkrankung hinweisen.
Dass Freud selbst seine große Entdeckung so entstellt hat, könnte auf ein ungelöstes Problem in seiner Beziehung zur eigenen Mutter zurückzuführen sein, ist aber ganz sicher weitgehend von seiner streng patriarchalischen Einstellung beeinflusst, die für Freuds Epoche so kennzeichnend war und die er so vollkommen teilte. Die Mutter wurde als höchstes Liebesobjekt entthront, und an ihre Stelle trat der Vater, von dem man annahm, dass er im Gefühlsleben des Kindes die größte Rolle spielte. Es klingt heute, in einer Zeit, in der die patriarchalische Auffassung so viel von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt hat, fast unglaublich, wenn wir bei Freud lesen: „Ein ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüsste ich nicht anzugeben.“ (S. Freud, 1930a, S. 430. – Hervorhebung E. F.) Ähnlich schrieb er 1908 über den Tod seines Vaters, der Tod des Vaters sei „das wichtigste Ereignis und der einschneidendste Verlust im Leben eines Menschen“. (Zit. nach E. Jones, 1957, Band 1, S. 324.) Damit räumt Freud dem Vater den Platz ein, der in Wirklichkeit der Mutter gebührt, und degradiert die Mutter zu einem Gegenstand sexueller Lust. Die Göttin wird in eine Prostituierte verwandelt, und der Vater wird zur zentralen Figur des Universums erhoben. (Mit dieser Ausschaltung der Mutterfigur tut Freud in der Psychologie das, was Luther in der Religion getan hat. Freud ist gleichsam der protestantische Psychologe.)
Eine Generation vor Freud lebte ein anderer genialer Forscher, der die zentrale Bedeutung der Mutterbindung in der Entwicklung des Menschen erkannte: Johann Jakob Bachofen (1954). Da Bachofen nicht durch die rationalistische sexuelle Interpretation der Mutterbindung eingeengt war, konnte er die Tatsachen tiefer und objektiver sehen. In seiner Theorie von der matriarchalischen Gesellschaft nimmt er an, dass die Menschheit vor dem Patriarchat ein Stadium durchmachte, in dem die Bindung an die Mutter und an Blut und Boden sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft die wichtigste Form der Bezogenheit war. In dieser Form der gesellschaftlichen Organisation war – wie bereits angedeutet – die Mutter in der Familie, im gesellschaftlichen Leben und in der Religion die zentrale Figur. Wenn auch viele von Bachofens historischen Konstruktionen nicht haltbar sind, hat er doch zweifellos eine Form der gesellschaftlichen Organisation und eine psychologische Struktur entdeckt, die von den Psychologen und Anthropologen deshalb nicht erkannt worden war, weil von ihrem patriarchalischen Standpunkt aus die Idee von einer von Frauen und nicht von Männern regierten Gesellschaft einfach absurd erschien. Trotzdem spricht vieles dafür, dass Griechenland und Indien vor der Invasion aus dem Norden Kulturen von matriarchalischer Struktur besaßen. Die große Zahl und die Bedeutung von Muttergottheiten weist in die gleiche Richtung. (Die Venus von Willendorf, die Muttergottheit zu Mohendscho Daro, Isis, Ischtar, Rhea, Kybele, Hathor, die Schlangengöttin zu Nippur, die Wassergöttin Ai der Akkader, Demeter und die indische Göttin Kali, die Spenderin und Zerstörerin des Lebens – das sind nur einige [IV-036] Beispiele.) Selbst in vielen zeitgenössischen primitiven Gesellschaften können wir noch Überreste der matriarchalischen Struktur in matrilinearen Formen der Blutsverwandtschaft oder in matrilokalen Formen der Ehe finden. Noch bedeutsamer ist, dass selbst dort, wo die gesellschaftlichen Formen nicht mehr matriarchalisch sind, noch viele Beispiele einer matriarchalischen Bezogenheit zu Mutter, Blut und Boden anzutreffen sind.
Während Freud in der inzestuösen Fixierung nur ein negatives, krankhaftes Element sah, erkannte Bachofen deutlich sowohl den negativen wie auch den positiven Aspekt der Bindung an die Mutterfigur. Der positive Aspekt ist ein Gefühl der Lebensbejahung, der Freiheit und Gleichheit, das die gesamte matriarchalische Struktur kennzeichnet. Insofern die Menschen Kinder der Natur und Kinder von Müttern sind, sind sie alle gleich, haben sie die gleichen Rechte und Ansprüche, und der einzige Wert, auf den es ankommt, ist das Leben. Anders ausgedrückt, die Mutter liebt ihre Kinder nicht deshalb, weil das eine besser ist als das andere, nicht weil das eine ihre Erwartungen mehr erfüllt als das andere, sondern weil sie alle ihre Kinder sind und weil sie sich in dieser Eigenschaft alle gleich sind und das gleiche Anrecht auf ihre Liebe und Fürsorge haben. Bachofen hat auch den negativen Aspekt der matriarchalischen Struktur klar erkannt: Dadurch dass der Mensch an die Natur, an Blut und Boden gebunden ist, ist die Entwicklung seiner Individualität und seiner Vernunft blockiert. Er bleibt ein Kind und ist zu keinem Fortschritt fähig.[12]
Bachofen hat auch die Rolle des Vaters ausführlich und tiefschürfend interpretiert und auch hier sowohl auf die positive wie auf die negative Seite der Funktion des Vaters hingewiesen. Mit einer leichten Umschreibung und Erweiterung von Bachofens Ideen möchte ich sagen, dass der Mann, der von Natur aus nicht imstande ist, Kinder zu erzeugen (natürlich spreche ich hier vom Erlebnis der Schwangerschaft und Geburt und nicht von der Tatsache, dass der männliche Same für die Zeugung des Kindes notwendig ist), und da er nicht die Aufgabe hat, sie aufzuziehen und zu versorgen, steht er der Natur ferner als die Frau. Da er in der Natur weniger verwurzelt ist, sieht er sich gezwungen, seine Vernunft zu entwickeln und eine vom Mann geschaffene Welt der Ideen, der Prinzipien und all der vom Mann geschaffenen Dinge aufzubauen, welche die Natur als den Urgrund der Existenz und Sicherheit ersetzen. Die Beziehung des Kindes zum Vater ist nicht von der gleichen Intensität wie die zur Mutter, weil der Vater nie die all-umhüllende, all-beschützende, all-liebende Rolle spielt, welche die Mutter in den ersten Jahren des Lebens ihres Kindes spielt. Ganz im Gegenteil beruht in allen patriarchalischen Gesellschaften die Beziehung des Sohnes zum Vater einerseits auf Unterwerfung, aber andererseits auf Rebellion, was an sich ein ständiges Element der Auflösung enthält. Die Unterwerfung unter den Vater ist [IV-037] etwas anderes als die Bindung an die Mutter. Letztere stellt eine Fortsetzung der natürlichen Bindung, die Fixierung an die Natur dar. Erstere ist vom Mann geschaffen und künstlich und basiert auf Macht und Gesetz, weshalb sie weniger zwingend und mächtig ist als die Bindung an die Mutter. Während die Mutter die Natur und die bedingungslose Liebe repräsentiert, repräsentiert der Vater die Abstraktion, das Gewissen, die Pflicht, das Gesetz und die Hierarchie. Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn ist nicht dasselbe wie die bedingungslose Liebe der Mutter zu ihren Kindern, weil sie nun einmal ihre Kinder sind, sondern es handelt sich um die Liebe zu dem Sohn, der ihm der liebste ist, weil er seinen Erwartungen am meisten entspricht und die besten Anlagen dazu hat, das Erbe des Besitzes und der weltlichen Aufgaben des Vaters anzutreten.
Hieraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen der mütterlichen und der väterlichen Liebe. In der Beziehung des Kindes zu seiner Mutter gibt es nur wenig, was es von sich aus regulieren und beeinflussen könnte. Die mütterliche Liebe ist wie ein Akt der Gnade; ist sie vorhanden, so ist sie ein Segen – ist sie nicht vorhanden, kann man sie nicht erzeugen. Dies ist auch der Grund, weshalb die Menschen, welche von der Mutterbindung nicht losgekommen sind, oft auf neurotische, magische Weise sich mütterliche Liebe zu verschaffen suchen, indem sie sich selbst hilflos und krank machen oder emotional auf die Stufe eines Kindes regredieren. Die magische Idee lautet: Wenn ich mich in ein hilfloses Kind verwandle, muss meine Mutter wieder auftauchen und für mich sorgen. Die Beziehung zum Vater dagegen kann man beeinflussen. Er möchte, dass sein Sohn heranwächst, um die Verantwortung zu übernehmen, zu denken und etwas aufzubauen, und/oder er soll dem Vater gehorchen, ihm dienen und so sein wie er. Ob die Erwartungen des Vaters sich mehr auf die Entwicklung seines Sohnes oder auf dessen Gehorsam richten, stets hat dieser eine Chance, sich die Liebe des Vaters zu erwerben und sich die Zuneigung des Vaters dadurch zu gewinnen, dass er tut, was dieser von ihm will. Um es noch einmal zusammenzufassen: Die positiven Aspekte des patriarchalischen Komplexes sind Vernunft, Disziplin, Gewissen und Individualismus; die negativen Aspekte sind Hierarchie, Unterdrückung, Ungleichheit und Unterwerfung.[13]
Der enge Zusammenhang zwischen der Vater- und Mutterfigur und moralischen Grundsätzen ist besonders bemerkenswert. In seinem Begriff des Über-Ichs setzt Freud nur die Vaterfigur in Beziehung zur Entwicklung des Gewissens. Er nimmt an, dass der kleine Junge, erschreckt durch die ihm vom rivalisierenden Vater drohende Kastration, sich den männlichen Elternteil – oder vielmehr dessen Gebote und Verbote – in Form des Gewissens internalisiert.[14] Aber es gibt nicht nur ein väterliches, es gibt auch ein mütterliches Gewissen; es gibt eine Stimme, die uns befiehlt, unsere Pflicht zu tun, und es gibt eine Stimme, die uns lieben und verzeihen heißt – anderen wie auch uns selbst. Es trifft zwar zu, dass beide Arten des Gewissens ursprünglich [IV-038] von der Vater- und der Mutterfigur beeinflusst waren, doch wird das Gewissen im Reifungsprozess immer unabhängiger von dieser ursprünglichen Vater- und Mutterfigur. Wir werden gleichsam unser eigener Vater und unsere eigene Mutter, und wir werden auch unser eigenes Kind. Der Vater in uns sagt zu uns: „Das solltest du tun“ und „Das solltest du nicht tun.“ Er tadelt uns, wenn wir uns falsch verhalten haben, und wenn wir uns richtig verhalten haben, lobt er uns. Aber während der Vater in uns sich auf diese Weise äußert, spricht die Mutter in uns eine ganz andere Sprache. Es ist, als ob sie sagte: „Dein Vater hat ganz recht, wenn er dich tadelt, aber nimm ihn nicht allzu ernst; was du auch immer getan haben magst, du bist mein Kind. Ich liebe dich, und ich verzeihe dir. Nichts, was du getan hast, kann dich um deinen Anspruch auf Leben und Glück bringen.“ Die Stimmen von Vater und Mutter sprechen eine verschiedene Sprache; ihre Äußerungen scheinen sich sogar zu widersprechen. Aber der Widerspruch zwischen dem Prinzip der Pflicht und dem Prinzip der Liebe, zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Gewissen, ist ein mit der menschlichen Existenz gegebener Widerspruch, und wir müssen seine beiden Seiten akzeptieren. Das nur den Befehlen der Pflicht folgende Gewissen ist genauso entstellt wie das, welches nur den Geboten der Liebe folgt. Die innere Vaterstimme und die innere Mutterstimme äußern sich nicht nur bezüglich der Einstellung des Menschen zu sich selbst, sondern auch bezüglich seiner Einstellung zu den Mitmenschen. Der Mensch kann seinen Mitmenschen entsprechend seinem väterlichen Gewissen beurteilen, aber er sollte gleichzeitig auch auf die Stimme der Mutter in seinem Inneren hören, die allen Mitgeschöpfen, allem Lebendigen liebevoll begegnet und die alle Fehltritte verzeiht.[15]
Bevor ich nun mit der Erörterung der Grundbedürfnisse des Menschen fortfahre, möchte ich noch kurz auf die verschiedenen Phasen der Verwurzelung eingehen, wie man sie in der Geschichte der Menschheit beobachten kann, wenn auch der Hauptgedankengang dieses Kapitels dadurch eine Unterbrechung erfährt.
Genau wie das Kind in der Mutter verwurzelt ist, ist der Mensch in seiner historischen Kindheit (die zeitlich den weitaus größten Teil seiner Geschichte ausmacht) in der Natur verwurzelt. Wenn er auch aus der Natur herausgetreten ist, bleibt doch die Welt der Natur seine Heimat, in ihr ist er noch immer verwurzelt. Er sucht durch Regression und durch Identifizierung mit der Natur, mit der Welt der Pflanzen und Tiere Sicherheit zu erlangen. Dieser Versuch, sich auch weiterhin an die Natur zu klammern, ist in vielen Mythen und religiösen Ritualen deutlich zu erkennen. Wenn der Mensch Bäume und Tiere als seine Idole anbetet, so verehrt er Teilerscheinungen der Natur. Es sind die mächtigen schützenden Kräfte, deren Verehrung die Verehrung [IV-039] der Natur selbst bedeutet. Tritt der Einzelne mit ihnen in Beziehung, so fühlt er sich mit der Natur identisch und zugehörig zu ihr, ist er ein Teil der Natur. Das gleiche gilt für seine Beziehung zum Boden, auf dem er lebt. Das Einigende in einem Stamm ist oft nicht nur das gemeinsame Blut, sondern auch der gemeinsame Boden, und erst diese Kombination von Blut und Boden macht den Stamm zur wahren Heimat und zum Orientierungsrahmen für jedes einzelne Mitglied.
In dieser Phase der menschlichen Entwicklung fühlt sich der Mensch noch immer als Teil der Welt der Natur, der Welt der Tiere und Pflanzen. Erst wenn er den entscheidenden Schritt getan hat, ganz aus der Natur herauszutreten, versucht er eine definitive Demarkationslinie zwischen sich und der Tierwelt zu ziehen. Dies veranschaulicht zum Beispiel der Glaube der Winnebago-Indianer, dass die Geschöpfe zu Anfang noch keine dauernde Gestalt hatten. Sie waren alle so etwas wie ein neutrales Wesen, das sich entweder in einen Menschen oder in ein Tier verwandeln konnte. In einer bestimmten Periode entschieden sie sich, sich endgültig zu einem Tier oder einem Menschen zu entwickeln. Seit dieser Zeit sind die Tiere Tiere und die Menschen Menschen geblieben (vgl. P. Radin, 1953, S. 30). Die gleiche Idee drückt sich in dem Glauben der Azteken aus, dass die Welt vor der Ära, in der wir jetzt leben, nur von Tieren bevölkert war, bis dann mit Quetzalcoatl das Zeitalter der menschlichen Wesen anbrach. Das gleiche Gefühl kommt auch in dem Glauben zum Ausdruck, den man noch heute bei einigen mexikanischen Indianern findet, dass ein bestimmtes Tier einer bestimmten Person entspricht, oder auch im Glauben der Maori, dass ein bestimmter (bei der Geburt eines Menschen gepflanzter) Baum diesem einen Menschen entspricht. Es kommt auch in vielen Ritualen zum Ausdruck, in denen sich der Mensch mit einem Tier identifiziert, indem er sich als solches verkleidet oder indem er sich ein Tier-Totem wählt.
Diese passive Beziehung zur Natur entspricht der jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit des Menschen. Er begann als Sammler und Jäger, und hätte er nicht primitive Werkzeuge besessen und Feuer machen können, so könnte man von ihm wohl sagen, dass er sich kaum vom Tier unterschieden hätte. Im Verlauf seiner Geschichte nahmen dann seine Fertigkeiten zu, und seine Beziehung zur Natur verwandelte sich aus einer passiven in eine aktive: Er zähmte sich Haustiere, lernte das Land bebauen und erwarb sich eine immer größere Geschicklichkeit in Kunst und Handwerk. Er tauschte seine Erzeugnisse gegen solche fremder Länder aus und wurde so zum Reisenden und Handelsmann.
Entsprechend verwandelten sich auch seine Götter. Solange sich der Mensch noch weitgehend mit der Natur identifizierte, waren auch seine Götter Teil der Natur. Als er dann eine größere handwerkliche Geschicklichkeit erlangte, bildete er sich Götzenbilder aus Stein oder aus Holz oder Gold. Nachdem er sich noch weiter entwickelte und sich ein stärkeres Gefühl der eigenen Kraft erworben hatte, verlieh er seinen Göttern menschliche Gestalt. Zuerst – und dies entsprach offenbar der Stufe des Ackerbauern – erschien ihm die Gottheit in Gestalt der all-schützenden und all-nährenden „Großen Mutter“. Schließlich begann er Vatergottheiten zu verehren, welche Vernunft, Prinzipien und Gesetze repräsentierten. Diese letzte und entscheidende Abwendung von der Verwurzelung in der Natur und von der Abhängigkeit von einer [IV-040] liebenden Mutter dürfte mit dem Aufkommen der großen rationalen und patriarchalischen Religionen begonnen haben – in Ägypten mit der religiösen Revolution des Echnaton im vierzehnten Jahrhundert v. Chr., in Palästina etwa zur gleichen Zeit mit der Entwicklung der Mosaischen Religion, in Indien und Griechenland bald danach mit dem Einbruch der Eroberer aus dem Norden. Viele neue Rituale verliehen dieser neuen Idee Ausdruck. Im Tieropfer wurde das Tier im Menschen Gott zum Opfer gebracht. Im biblischen Tabu, das den Genuss des Blutes eines Tieres verbot (weil „das Blut sein Leben ist“), wird zwischen Mensch und Tier eine scharfe Trennungslinie gezogen. In der Vorstellung eines Gottes, der das einigende Prinzip allen Lebens repräsentiert, der unsichtbar und unendlich ist, hat man den Gegenpol zur endlichen, mannigfaltigen Welt der Natur, zur Welt der Dinge errichtet. Der als Ebenbild Gottes geschaffene Mensch hat an dessen Eigenschaften teil; er tritt aus der Natur heraus und strebt danach, ganz geboren zu werden und vollständig zu erwachen.[16] Dieser Prozess erreichte um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. in China mit Konfuzius und Lao-tse eine neue Phase; in Indien geschah es mit Buddha, in Griechenland mit den Philosophen der griechischen Aufklärung und in Palästina mit den biblischen Propheten. Dann wurde mit dem Christentum und der Stoa im Römischen Imperium, mit Quetzalcoatl in Mexiko[17] und noch ein halbes Jahrtausend später mit Mohammed in Afrika ein neuer Höhepunkt erreicht.
Unsere westliche Kultur baut sich auf zwei Fundamenten auf: auf der jüdischen und der griechischen Kultur. Was die jüdische Tradition betrifft, deren Fundamente im Alten Testament gelegt wurden, so spiegelt sie eine relativ reine Form einer patriarchalischen Kultur, die sich auf die Macht des Vaters in der Familie, auf die des Priesters und des Königs in der Gesellschaft und auf die des väterlichen Gottes im Himmel aufbaut. Trotz dieses extremen Patriarchalismus kann man immer noch die alten matriarchalischen Elemente erkennen, wie sie in den erd- und naturgebundenen (tellurischen) Religionen vorhanden waren, die während des zweiten Jahrtausends v. Chr. von den rationalen, patriarchalischen Religionen verdrängt wurden.
In der biblischen Schöpfungsgeschichte finden wir den Menschen noch in einer urtümlichen Einheit mit dem Boden. Noch braucht er nicht zu arbeiten, noch besitzt er kein Bewusstsein seiner selbst. Die Frau ist die klügere, aktivere und mutigere von beiden, und erst nach dem „Sündenfall“ verkündet der patriarchalische Gott den Grundsatz, dass der Mann über die Frau herrschen solle. Das gesamte Alte Testament ist die Entfaltung des patriarchalischen Prinzips durch die Errichtung eines hierarchischen theokratischen Staates und durch eine strenge patriarchalische Familienorganisation. In der Familienstruktur, wie sie im Alten Testament beschrieben wird, finden wir stets die Gestalt des Lieblingssohnes: Abel im Gegensatz zu Kain, Jakob im Gegensatz zu Esau, Joseph im Gegensatz zu seinen Brüdern, und in einem weiteren [IV-041] Sinn ist auch das Volk Israel der Lieblingssohn Gottes. Anstelle der Ebenbürtigkeit aller Kinder in den Augen ihrer Mutter finden wir hier den Lieblingssohn, der dem Vater am ähnlichsten ist und den dieser als seinen Nachfolger und Erben seines Besitzes am meisten liebt. Im Kampf um die Stellung des Lieblingssohnes und damit um das Erbe werden die Brüder zu Feinden, die Ebenbürtigkeit macht der Hierarchie Platz.
Das Alte Testament gebietet nicht nur ein strenges Inzest-Tabu, es verbietet auch die Bindung an den Boden. Nach der Schilderung der Bibel beginnt die Menschheitsgeschichte mit der Austreibung des Menschen aus dem Paradies, von dem Boden, in dem er verwurzelt war und mit dem er sich eins gefühlt hatte. Die jüdische Geschichte beginnt mit der Beschreibung, wie Abraham das Gebot erhält, das Land, in dem er geboren wurde, zu verlassen: „Zieh weg aus deinem Land, aus deiner Heimat und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12,1.) Von Palästina wandert der Stamm nach Ägypten; von dort kehrt er wieder nach Palästina zurück. Aber auch die neue Sesshaftwerdung ist noch nicht die endgültige. Die Lehren der Propheten richten sich gegen die neue inzestuöse Bindung an Boden und Natur, wie sie sich im kanaanitischen Götzendienst zeigt. Sie verkünden, dass ein Volk, das von den Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit zu der inzestuösen Bindung an den Boden regrediert sei, von diesem Boden vertrieben werde und heimatlos und ohne eigene Scholle in der Welt umherwandern müsse, bis es die Grundsätze der Vernunft voll entwickelt und die inzestuöse Bindung an Boden und Natur überwunden habe. Erst dann werde das Volk in seine Heimat zurückkehren können, erst dann werde der Heimatboden ein Segen sein, eine menschliche Heimat, die frei sein werde vom Fluch des Inzests. Die Vorstellung von der Messianischen Zeit bedeutet den vollständigen Sieg über alle inzestuösen Bindungen und die endgültige Errichtung eines geistigen Reichs des moralischen und intellektuellen Gewissens, nicht nur unter den Juden, sondern unter allen Völkern der Erde. Die Krönung und das Zentrum der patriarchalischen Entwicklung des Alten Testaments ist natürlich die Gottesvorstellung. Dieser Gott repräsentiert das einigende Prinzip hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Der Mensch wird als Ebenbild Gottes geschaffen; daher sind alle Menschen gleich – gleich in Bezug auf ihre gemeinsamen geistigen Eigenschaften, ihre Vernunft und ihre Fähigkeit zur Nächstenliebe.
Das frühe Christentum stellt eine Weiterentwicklung dieses Geistes dar, nicht so sehr, weil es den Nachdruck auf die Idee der Liebe legt, die wir in vielen Teilen des Alten Testaments bereits vorfinden, sondern weil es den übernationalen Charakter der Religion hervorhebt. So wie die Propheten die Existenzberechtigung ihres eigenen Staates in Frage stellten, weil er den Gewissensforderungen nicht entsprach, so stellten die frühen Christen die moralische Existenzberechtigung des Römischen Reiches in Frage, weil es die Prinzipien der Liebe und Gerechtigkeit verletzte.
Die jüdisch-christliche Tradition betonte den moralischen Aspekt des patriarchalischen Geistes. Das griechische Denken dagegen fand seinen schöpferischen Ausdruck in dessen intellektuellem Aspekt. In Griechenland wie in Palästina finden wir eine patriarchalische Welt, die in gesellschaftlicher wie auch in religiöser Hinsicht siegreich aus einer früheren matriarchalischen Struktur hervorgegangen war. [IV-042] Genauso wie Eva nicht von einer Frau geboren, sondern aus Adams Rippe gemacht wurde, so war auch Athene nicht das Kind einer Frau, sondern dem Haupte des Zeus entsprungen. Wie Bachofen gezeigt hat, sind Überreste einer älteren matriarchalischen Welt noch in den Gestalten der Göttinnen zu finden, die der patriarchalischen Götterwelt des Olymp untergeordnet sind. Die Griechen legten das Fundament für die intellektuelle Entwicklung der westlichen Welt. Sie legten die „ersten Prinzipien“ des wissenschaftlichen Denkens fest, sie waren die ersten, die eine „Theorie“ als Grundlage der Naturwissenschaft aufbauten und die eine systematische Philosophie entwickelten, wie sie noch in keiner Kultur zuvor existiert hatte. Sie schufen eine Theorie des Staates und der Gesellschaft, die sich auf ihre Erfahrungen in der griechischen Polis gründete und die in Rom auf der gesellschaftlichen Grundlage eines riesigen geeinten Imperiums weiterentwickelt wurde.
Da das Römische Reich zu einer weiter voranschreitenden gesellschaftlichen und politischen Entfaltung nicht fähig war, kam die Entwicklung etwa im 4. Jahrhundert n. Chr. zum Stillstand, jedoch erst nachdem eine neue mächtige Institution, die Katholische Kirche, aufgebaut worden war. War das frühe Christentum noch eine geistig revolutionäre Bewegung der Armen und Enterbten, die dem bestehenden Staat die moralische Existenzberechtigung absprachen, der Glaube einer Minderheit, die Verfolgung und Tod als Zeugen Gottes auf sich nahm, so wurde nun in unglaublich kurzer Zeit daraus die offizielle Religion des Römischen Staates. Während die gesellschaftliche Struktur des Römischen Reiches langsam zu einer Feudalordnung erstarrte, die in Europa noch tausend Jahre weiterleben sollte, begann sich auch die gesellschaftliche Struktur der katholischen Religion zu wandeln. Die prophetische Haltung, welche die Menschen ermutigt hatte, die weltliche Macht in Frage zu stellen und zu kritisieren, wenn sie die Grundsätze der Liebe und Gerechtigkeit verletzte, verlor an Bedeutung. Die neue Haltung forderte die kritiklose Unterstützung der Macht der Kirche als einer Institution. Psychologisch gewährte man aber den Volksmassen eine derartige Befriedigung, dass sie ihre Abhängigkeit und Armut ergeben hinnahmen und kaum Anstrengungen unternahmen, ihre soziale Lage zu bessern.[18]
Für unseren Gedankengang ist die wichtigste Veränderung die Verschiebung der [IV-043] Betonung, die bisher auf den rein patriarchalischen Elementen lag, auf eine Mischung aus matriarchalischen und patriarchalischen Zügen. Der jüdische Gott des Alten Testaments war ein streng patriarchalischer Gott; im Katholizismus wurde nun die Idee der all-liebenden und all-verzeihenden Mutter wieder eingeführt. Die Katholische Kirche selbst – als all-umfassende Mutter – und die jungfräuliche Muttergottes symbolisieren den mütterlichen Geist der Vergebung und Liebe, während Gottvater das hierarchische Prinzip der Autorität verkörpert, dem sich der Mensch, ohne sich zu beklagen oder sich aufzulehnen, zu unterwerfen hat. Zweifellos war diese Mischung aus väterlichen und mütterlichen Elementen einer der Hauptfaktoren, denen die Kirche ihre große Anziehungskraft und ihren starken Einfluss auf die Menschen verdankte. Die von den patriarchalischen Autoritäten unterdrückten Massen konnten sich an die liebende Mutter wenden, die sie tröstete und für sie eintrat.
Die historische Funktion der Kirche bestand keineswegs nur darin, eine feudale Gesellschaftsordnung aufbauen zu helfen. Ihre wichtigste Leistung, an der die Araber und Juden stark beteiligt waren, war die Übermittlung der wesentlichen Elemente jüdischen und griechischen Denkens an die primitive Kultur Europas. Es ist, als ob die Geschichte des Westens etwa tausend Jahre lang stillgestanden hätte, um zu warten, bis Nordeuropa zu Beginn des frühen Mittelalters den gleichen Entwicklungsstand erreicht hatte wie die Mittelmeerwelt. Als das geistige Erbe von Athen und Jerusalem den Völkern Nordeuropas zugänglich gemacht war und sie damit gesättigt waren, begann auch die erstarrte Gesellschaftsstruktur aufzubrechen, und es setzte aufs Neue eine explosive gesellschaftliche und geistige Entwicklung ein.
Die katholische Theologie des 13. und 14. Jahrhunderts, die Ideen der italienischen Renaissance, die Entdeckung des Individuums und der Natur, die Ideen des Humanismus, der Naturrechtsgedanke und die Reformation sind die Grundlagen der neuen Entwicklung. Die bedeutendste und nachhaltigste Wirkung auf die Entwicklung in Europa und der ganzen Welt hatte allerdings die Reformation. Protestantismus und Calvinismus kehrten zu dem rein patriarchalischen Geist des Alten Testaments zurück und entfernten das mütterliche Element aus ihren religiösen Vorstellungen. Der Mensch war nicht mehr von der mütterlichen Liebe der Kirche und der Jungfrau umfangen. Er fand sich allein einem ernsten, strengen Gott gegenübergestellt, dessen Gnade er nur durch einen Akt vollkommener Unterwerfung erringen konnte. Die Fürsten und der Staat wurden allmächtig, und ihre Macht war von Gott sanktioniert. Die Befreiung aus der feudalen Knechtschaft führte zu einem verstärkten Gefühl der Isolation und Machtlosigkeit, während sich gleichzeitig der positive Aspekt des väterlichen Prinzips im Wiederaufleben des rationalen Denkens und des Individualismus geltend machte. (Vgl. hierzu die gründliche und bestechende Analyse von M. N. Roy, 1952.)
Die Neubelebung des patriarchalischen Geistes seit dem 16. Jahrhundert besonders in den protestantischen Ländern weist sowohl den positiven wie auch den negativen Aspekt des Patriarchats auf. Der negative Aspekt manifestierte sich in einer neuerlichen Unterwerfung unter den Staat und die weltliche Macht, und in der ständig wachsenden Bedeutung der von den Menschen geschaffenen Gesetze und der weltlichen Hierarchien. Der positive Aspekt kam im Geist wachsender Rationalität und [IV-044] Objektivität und in der zunehmenden Ausprägung des individuellen und sozialen Gewissens zum Ausdruck. Die Blüte der Naturwissenschaft in unseren Tagen ist eine der eindrucksvollsten Manifestationen des rationalen Denkens, die die menschliche Rasse je zustande gebracht hat. Aber der matriarchalische Komplex ist sowohl in seinem positiven wie auch in seinem negativen Aspekt keineswegs von der westlichen Szene verschwunden. Sein positiver Aspekt, die Idee von der Gleichheit aller Menschen, von der Heiligkeit des Lebens und vom Recht aller auf ihren Anteil an den Früchten der Natur fand seinen Ausdruck in den Ideen des Naturrechts, des Humanismus, der Aufklärungsphilosophie und in den Zielsetzungen des demokratischen Sozialismus. Allen diesen Ideen gemeinsam ist die Vorstellung, dass alle Menschen Kinder der Mutter Erde sind und ein Recht darauf haben, von ihr ernährt zu werden und glücklich zu sein, ohne zuvor dieses Recht durch Leistungen von bestimmtem Rang nachweisen zu müssen. Die Bruderschaft aller Menschen impliziert, dass sie alle die Söhne derselben Mutter sind und dass sie ein unveräußerliches Recht auf Liebe und Glück haben. Aus dieser Vorstellung ist die inzestuöse Bindung an die Mutter ausgemerzt. Durch seine Beherrschung der Natur, wie sie in der industriellen Produktion zum Ausdruck kommt, befreit sich der Mensch von seiner Bindung an Blut und Boden, er humanisiert die Natur und naturalisiert sich selbst.
Aber neben der Entwicklung der positiven Aspekte des matriarchalischen Komplexes besteht in der europäischen Entwicklung auch der negative Aspekt – die Regression auf die Bindung an Blut und Boden – weiter und verstärkt sich sogar noch. Der von den Bindungen des mittelalterlichen Gemeinschaftslebens befreite Mensch fürchtete sich vor der neuen Freiheit, die ihn in ein isoliertes Atom verwandelte, und flüchtete sich in einen neuen Götzendienst an Blut und Boden, zu dessen augenfälligsten Ausdrucksformen Nationalismus und Rassismus gehören. Hand in Hand mit der fortschrittlichen Entwicklung, die eine Mischung des positiven Aspekts sowohl des patriarchalischen wie auch des matriarchalischen Geistes ist, ging die Entwicklung der negativen Aspekte beider Prinzipien: die Verehrung des Staates, die mit der Vergötzung von Rasse oder Nation verquickt wurde. Faschismus, Nazismus und Stalinismus sind die drastischsten Erscheinungen dieser Mischung aus Staats- und Klanverehrung, wobei beide Prinzipien in der Figur eines „Führers“ verkörpert sind.
Aber die neuen totalitären Systeme sind keineswegs die einzigen Manifestationen der inzestuösen Bindungen unserer Zeit. Der Zusammenbruch der übernationalen Welt der mittelalterlichen Katholischen Kirche hätte zu einer höheren Form des „Katholizismus“ führen können, zu einem humanen Universalismus, der die Sippen- und Klan-Verehrung überwunden hätte, wenn die Entwicklung so weitergegangen wäre, wie es die Absicht der geistigen Führer des humanistischen Denkens seit der Renaissance war. Aber wenn auch Wissenschaft und Technik die Vorbedingungen für eine solche Entwicklung schufen, fiel die westliche Welt in neue Formen der Klan-Verehrung zurück, eben in jene Orientierung, welche die Propheten des Alten Testaments und die frühen Christen auszurotten versucht hatten. Der Nationalismus, der ursprünglich eine progressive Bewegung gewesen war, trat mit seinen Bindungen an die Stelle des Feudalismus und des Absolutismus. Der Durchschnittsmensch von heute erhält sein Identitätsgefühl aus seiner Zugehörigkeit zu einer Nation und nicht aus [IV-045] dem Gefühl, ein „Menschensohn“ zu sein. Seine Objektivität, das heißt seine Vernunft, wird durch diese Fixierung verfälscht. Er beurteilt den „Fremden“ nach anderen Kriterien als die Mitglieder des eigenen Klans. Auch seine Gefühle dem Fremden gegenüber sind verfälscht. Wer uns nicht durch die Bande von Blut und Boden „vertraut“ ist (wie sie in der gemeinsamen Sprache, in gemeinsamen Sitten, gleicher Ernährungsweise, gemeinsamen Liedern und dergleichen zum Ausdruck kommen), wird voller Argwohn angeschaut, und bei der geringsten Provokation kann es zu paranoiden Wahnvorstellungen kommen. Diese inzestuöse Fixierung vergiftet nicht nur die Beziehung des einzelnen zum Fremden, sondern auch die zu den Mitgliedern des eigenen Klans und zu sich selbst. Wer sich nicht aus den Bindungen an Blut und Boden gelöst hat, ist als menschliches Wesen noch nicht ganz geboren; seine Fähigkeit zur Liebe und Vernunft ist verkrüppelt; er erlebt weder sich selbst noch den Mitmenschen in seiner vollen menschlichen Realität.
Der Nationalismus ist unsere Form des Inzests, unser Götzendienst und unser Irrsinn. Sein Kult ist der „Patriotismus“. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass ich unter „Patriotismus“ jene Haltung verstehe, die die eigene Nation über die Menschheit stellt, über die Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich meine nicht das liebevolle Interesse am eigenen Volk, das dessen geistiger und materieller Wohlfahrt gilt und das nie nach der Macht über andere Völker strebt. Genauso wie die Liebe zu einem bestimmten Menschen, welche die Liebe zu anderen ausschließt, keine Liebe ist, so ist auch die Liebe zum eigenen Land, die die Liebe zur ganzen Menschheit nicht einschließt, keine Liebe, sondern Götzendienst. (Zum Problem des Nationalismus vgl. R. Rocker, 1937.)
Dass das nationalistische Gefühl den Charakter des Götzendienstes hat, kann man an der Reaktion erkennen, den eine Verletzung von Klan-Symbolen nach sich zieht und die sich wesentlich von der Reaktion auf die Verletzung religiöser oder moralischer Symbole unterscheidet. Stellen wir uns einen Menschen vor, der in einer der Städte unserer westlichen Welt die Flagge seines Landes mit auf die Straße nimmt und vor den Augen anderer darauf herumtrampelt. Er hat Glück, wenn er nicht gelyncht wird. Fast jeder wäre derart empört darüber, dass er kaum noch zu einem objektiven Gedanken fähig wäre. Der Mann, der die Flagge entweihte, hätte etwas Unaussprechliches begangen: Er hätte sich nicht eines Verbrechens unter anderen schuldig gemacht, sondern des Verbrechens, das nicht vergeben und verziehen werden kann. Nicht ganz so drastisch, aber der Art nach gleich wäre die Reaktion auf einen Menschen, der sagte: „Ich liebe mein Vaterland nicht“, oder im Kriegsfall: „Es ist mir gleich, ob mein Land gewinnt oder nicht.“ Eine solche Äußerung ist ein echtes Sakrileg, und wer so etwas sagt, ist im Gefühl seiner Mitmenschen ein Ungeheuer und ein Geächteter.
Um die besondere Qualität der auf diese Weise erregten Gefühle zu verstehen, wollen wir diese Reaktion einmal mit der vergleichen, zu der es käme, wenn einer aufstünde und sagte: „Ich bin dafür, dass man alle Neger oder alle Juden umbringt. Ich bin dafür, dass wir einen Krieg anfangen, um neue Gebiete zu erobern.“ Die meisten würden das zwar unmoralisch und unmenschlich finden. Der springende Punkt ist aber, dass es nicht zu dem besonderen Gefühl einer unkontrollierbaren, tief sitzenden Empörung und Wut käme. Eine solche Einstellung ist zwar „schlecht“, aber sie ist kein [IV-046] Sakrileg, sie stellt keinen Angriff auf „das Heilige“ dar. Selbst wenn jemand sich verächtlich über Gott äußerte, würde er damit kaum das gleiche Gefühl der Empörung hervorrufen, wie wenn er das Verbrechen, das Sakrileg beginge, welches eine Verletzung der Symbole der Nation ist. Es fällt nicht schwer, diese Reaktion auf eine Verletzung der nationalen Symbole verstandesmäßig damit zu erklären, dass ein Mensch, der sein eigenes Land nicht respektiert, damit einen Mangel an menschlicher Solidarität und an sozialem Gefühl bekundet. Aber gilt das nicht auch für den, der für einen Krieg eintritt, oder dafür, dass man unschuldige Menschen umbringt, oder für den, der andere zu seinem eigenen Vorteil ausbeutet? Zweifellos kommt in der Gleichgültigkeit gegen das eigene Land ein Mangel an sozialem Verantwortungsgefühl und an menschlicher Solidarität genauso zum Ausdruck wie in den übrigen in diesem Zusammenhang erwähnten Handlungen, aber die Reaktion auf die Schändung der Flagge unterscheidet sich grundsätzlich von der Reaktion auf die Bekundung eines mangelnden sozialen Verantwortungsgefühls in irgendeiner anderen Beziehung. Die Flagge ist als einziges Symbol „heilig“, sie ist ein Symbol der Klan-Verehrung; die anderen Symbole sind es nicht.
Nachdem es den großen europäischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts nicht gelungen war, die „Freiheit von“ in eine „Freiheit zu“ umzuwandeln, wurden der Nationalismus und die Verehrung des Staates zu den Symptomen einer Regression auf die inzestuöse Fixierung. Erst wenn es dem Menschen gelingt, seine Vernunft und seine Liebe weiter zu entwickeln, als es bisher gelungen ist, erst wenn er eine Welt aufbauen kann, die sich auf menschliche Solidarität und Gerechtigkeit gründet, erst wenn er sich im Erlebnis einer universalen Menschenliebe verwurzelt fühlt, wird er zu einer neuen Form menschlicher Verwurzelung hingefunden haben, wird er seine Welt in eine wahrhaft menschliche Heimat verwandelt haben.
Man kann den Menschen als das Lebewesen definieren, das „ich“ sagen kann, das sich seiner selbst als einer eigenständigen Größe bewusst werden kann. Da das Tier innerhalb der Natur steht und sie nicht transzendiert, ist es sich seiner selbst nicht bewusst und hat kein Bedürfnis nach Identitätserleben. Da der Mensch aus der Natur herausgerissen ist, da er mit Vernunft und Vorstellungsvermögen begabt ist, muss er sich eine Vorstellung von sich selber bilden, muss er sagen und fühlen können: „Ich bin ich.“ Weil er nicht gelebt wird, sondern lebt, weil er die ursprüngliche Einheit mit der Natur verloren hat, weil er daher Entscheidungen treffen, sich seiner selbst und seiner Mitmenschen als unterschiedlicher Personen bewusst sein muss, muss er in der Lage sein, sich als das Subjekt seines Handelns zu empfinden. Genau wie sein Bedürfnis nach Bezogenheit, nach Verwurzelung und Transzendenz ist auch dieses Bedürfnis nach Identitätserleben so lebenswichtig und gebieterisch, dass der Mensch nicht gesund bleiben könnte, wenn er nicht irgendeine Möglichkeit fände, es zu befriedigen. Das Identitätsgefühl des Menschen entwickelt sich in dem Prozess, in dem er sich aus den „primären Bindungen“ löst, die ihn an die Mutter und die Natur binden. Das Kind, das sich mit der Mutter noch eins fühlt, kann noch nicht „ich“ sagen [IV-047] und hat auch noch nicht das Bedürfnis danach. Erst wenn es die Außenwelt als etwas Getrenntes und von sich Unterschiedenes begriffen hat, gelangt es auch zu einem Bewusstsein seiner selbst als eines separaten Wesens, und „ich“ ist eines der letzten Worte, die es gebrauchen lernt, wenn es von sich selbst spricht.
In der Entwicklung der menschlichen Rasse hängt der Grad, in dem der Mensch sich seiner selbst als eines gesonderten Wesens bewusst ist, davon ab, bis zu welchem Ausmaß er sich vom Klan gelöst hat und wieweit der Individuationsprozess fortgeschritten ist. Das Mitglied eines primitiven Klans wird sein Identitätsgefühl in der Formel ausdrücken: „Ich bin wir“. Ein solcher Mensch kann sich selbst noch nicht als „Individuum“ begreifen, das außerhalb der Gruppe existiert. In der mittelalterlichen Welt wurde der Einzelne mit seiner gesellschaftlichen Rolle in der feudalen Hierarchie identifiziert. Der Bauer war kein Mensch, der zufällig ein Bauer war, der Feudalherr war nicht ein Mensch, der zufällig ein Feudalherr war. Er war ein Bauer oder ein Feudalherr, und dieses Gefühl seines unveränderlichen Standes war ein wesentlicher Bestandteil seines Identitätserlebens. Als dann das Feudalsystem zusammenbrach, kam es zu einer Erschütterung dieses Identitätsgefühls, und es erhob sich die akute Frage: „Wer bin ich?“ – oder genauer gesagt: „Woher weiß ich, dass ich ich bin?“ Es ist dies die Frage, die sich Descartes in philosophischer Form gestellt hat. Er hat die Frage nach seiner Identität damit beantwortet, dass er sagte: „Ich zweifle – deshalb denke ich, ich denke – deshalb bin ich.“ Die Antwort legt den Nachdruck allein auf die Erfahrung des „Ich“ als dem Subjekt einer jeden Denktätigkeit und sieht nicht, dass man sein „Ich“ auch im Prozess des Fühlens und der schöpferischen Tätigkeit erlebt. Die westliche Kultur entwickelte sich so, dass sie die Grundlage für eine volle Erfahrung der Individualität schuf. Durch die politische und wirtschaftliche Befreiung des Individuums, durch seine Erziehung zu selbständigem Denken und seine Befreiung von jedem autoritären Druck hoffte man jeden Einzelnen in die Lage zu versetzen, sich in dem Sinn als „Ich“ zu fühlen, dass er der Mittelpunkt und das tätige Subjekt seiner Kräfte war und sich auch so fühlte. Aber nur eine Minderheit gelangte zu dieser neuen Erfahrung des „Ich“. Für die meisten war der Individualismus nicht viel mehr als eine Fassade, hinter der man verbarg, dass es einem nicht gelungen war, zu einem individuellen Identitätserleben zu gelangen.
Es wurden mancherlei Ersatzlösungen für ein echtes individuelles Identitätserleben gesucht und auch gefunden. Nation, Religion, Klasse und Beruf dienen als Lieferanten dieses Identitätsgefühls. „Ich bin Amerikaner“, „ich bin Protestant“, „ich bin Geschäftsmann“, das sind die Formeln, die zu einem Identitätsgefühl verhelfen, nachdem die ursprüngliche Klan-Identität verlorenging, und bevor man sich ein echtes individuelles Identitätsgefühl erworben hat. In unserer heutigen Gesellschaft werden diese verschiedenen Identifikationen gewöhnlich gemeinsam verwendet. Es handelt sich dabei in einem weiten Sinn um Statusidentifikationen, und sie sind wirksamer, wenn sie – wie in den europäischen Ländern – mit Überresten aus der Feudalzeit verquickt werden. In den Vereinigten Staaten, wo es nur noch so wenig feudale Überbleibsel gibt und wo eine starke Mobilität herrscht, sind diese Statusidentifikationen natürlich nicht so wirksam, und das Identitätserleben verschiebt sich mehr und mehr in Richtung auf ein Konformitätserleben. [IV-048]
Insofern ich nicht von der Norm abweiche, insofern ich genauso bin wie die anderen und ich von ihnen als „einer wie wir“ anerkannt werde, kann ich mich als „Ich“ fühlen. Ich bin „Einer, Keiner, Hunderttausend“, entsprechend dem Titel, den Pirandello einem seiner Stücke gegeben hat. Anstelle der vor-individualistischen Klan-Identität entwickelt sich eine neue Herden-Identität, in welcher das Identitätserleben auf dem Gefühl beruht, unbezweifelbar zur Herde zu gehören. Dass diese Uniformität und Konformität oft nicht als solche erkannt und durch die Illusion der Individualität verdeckt wird, ändert nichts an den Tatsachen.
Das Problem des Identitätserlebens ist nicht, wie meist angenommen wird, ein rein philosophisches Problem oder ein Problem, das nur unseren Geist und unser Denken betrifft. Das Bedürfnis nach einem gefühlsmäßigen Erleben von Identität entstammt den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst und ist der Ursprung unseres intensivsten Strebens. Da ich ohne ein „Ich-Gefühl“ nicht geistig und seelisch gesund bleiben kann, treibt es mich, alles zu versuchen, um mir dieses Gefühl zu verschaffen. Hinter dem leidenschaftlichen Streben nach Status und Konformität steckt eben dieses Bedürfnis, und es ist manchmal sogar noch stärker als das Bedürfnis nach körperlichem Überleben. Was könnte das deutlicher beweisen, als dass die Menschen bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, ihre Liebe zu opfern, ihre Freiheit aufzugeben, auf eigenes Denken zu verzichten, nur um zur Herde zu gehören, mit ihr konform zu gehen und sich auf diese Weise ein Identitätsgefühl zu erwerben, auch wenn es nur ein illusorisches ist.
Die Tatsache, dass der Mensch Vernunft und Vorstellungsvermögen besitzt, führt nicht nur dazu, dass er ein Gefühl seiner eigenen Identität braucht, er muss sich auch geistig und gefühlsmäßig in der Welt orientieren. Man kann dieses Bedürfnis mit dem körperlichen Orientierungsprozess vergleichen, den das Kind in seinen ersten Lebensjahren durchmacht und der abgeschlossen ist, wenn das Kind selbständig laufen, wenn es die Dinge anfassen und mit ihnen umgehen kann und über sie Bescheid weiß. Aber wenn das Kind laufen und sprechen kann, hat es damit erst den ersten Schritt in Richtung auf eine Orientierung getan. Der Mensch findet sich von vielen rätselhaften Erscheinungen umgeben, und da er mit Vernunft begabt ist, muss er sie irgendwie einordnen, muss er sie in einen Zusammenhang bringen, den er begreifen kann und der es ihm ermöglicht, sich in seinen Gedanken damit zu befassen. Je weiter sich seine Vernunft entwickelt, umso angemessener wird sein Orientierungssystem, das heißt umso näher kommt es der Realität. Aber selbst wenn der Orientierungssinn eines Menschen völlig illusorisch ist, so befriedigt er doch sein Bedürfnis, sich ein Bild zu machen, das für ihn einen Sinn hat. Ob er an die Macht eines Totemtiers, an einen Regengott oder an die Überlegenheit und schicksalhafte Bestimmung seiner Rasse glaubt, sein Bedürfnis nach einem Orientierungsrahmen ist damit befriedigt. Natürlich hängt sein Weltbild vom Entwicklungsstand seiner Vernunft und seines Wissens [IV-049] ab. Wenn biologisch auch das Volumen des menschlichen Gehirns seit Tausenden von Generationen gleich geblieben ist, so bedurfte es doch eines langen Evolutionsprozesses, um zur Objektivität zu gelangen, das heißt zur Fähigkeit, die Welt, die Natur, andere Menschen und sich selbst so zu sehen, wie sie sind, und nicht entstellt durch Wünsche und Ängste. Je mehr der Mensch diese Objektivität entwickelt, je mehr er mit der Wirklichkeit in Kontakt kommt, umso reifer wird er, umso besser kann er eine humane Welt schaffen, in der er zu Hause ist. Die Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, die Welt gedanklich zu begreifen, im Gegensatz zur Intelligenz, worunter die Fähigkeit zu verstehen ist, die Welt mit Hilfe des Verstandes zu manipulieren. Die Vernunft ist das Instrument, mit dessen Hilfe der Mensch zur Wahrheit gelangt, die Intelligenz ist das Instrument, das ihm hilft, die Welt erfolgreicher zu manipulieren; erstere ist ihrem Wesen nach menschlich; letztere gehört zum animalischen Teil des Menschen.
Die Vernunft ist eine Fähigkeit, die man üben muss, um sie zu entwickeln, und sie ist unteilbar. Ich möchte damit sagen, dass die Fähigkeit zur Objektivität sich sowohl auf die Kenntnis der Natur, wie auch auf die Kenntnis des Menschen, der Gesellschaft und der eigenen Person bezieht. Wenn wir uns Illusionen in einem bestimmten Lebensbereich machen, so ist hierdurch unsere Fähigkeit zu vernünftigem Denken beschränkt und beeinträchtigt, und wir sind auch auf allen übrigen Gebieten im Gebrauch unserer Vernunft behindert. In dieser Hinsicht ist es mit der Vernunft wie mit der Liebe. Genauso wie die Liebe eine Orientierung ist, die sich auf alle Objekte bezieht und nicht auf ein bestimmtes Objekt beschränkt werden kann, so ist auch die Vernunft eine menschliche Fähigkeit, welche die gesamte Welt umfassen muss, der sich der Mensch gegenübergestellt sieht.
Das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung besteht auf zwei Ebenen. Das erste und grundlegendere Bedürfnis ist, überhaupt irgendeinen Orientierungsrahmen zu besitzen, gleichgültig, ob er richtig oder falsch ist. Wenn der Mensch keinen solchen subjektiv befriedigenden Orientierungsrahmen besitzt, kann er nicht in seelischer Gesundheit leben. Auf der zweiten Ebene besteht das Bedürfnis, mit Hilfe seiner Vernunft mit der Realität in Kontakt zu kommen, die Welt objektiv zu begreifen.
Aber die Notwendigkeit, seine Vernunft zu entwickeln, ist nicht so unmittelbar gefordert wie die, sich überhaupt einen Rahmen der Orientierung zu verschaffen. Denn hierbei geht es um die seelische Gesundheit überhaupt, während die Entwicklung der Vernunft über Glück und Gelassenheit des Menschen entscheidet. Das erkennen wir deutlich, wenn wir die Funktion der Rationalisierung untersuchen. Wie unvernünftig oder unmoralisch eine Handlungsweise auch immer sein mag, der Mensch hat ein unüberwindliches Bedürfnis, sie zu rationalisieren, das heißt sich selbst und anderen zu beweisen, dass sie von der Vernunft, vom gesunden Menschenverstand oder wenigstens von der herkömmlichen Moral bestimmt war. Es fällt ihm nicht schwer, unvernünftig zu handeln, aber es ist ihm fast unmöglich, seiner Handlungsweise den Anschein einer vernünftigen Motivation zu versagen.
Wäre der Mensch nur ein körperloser Intellekt, so hätte er sein Ziel erreicht, wenn er über ein umfassendes Denksystem verfügte. Aber da er eine Einheit von Körper und Geist ist, muss er auf die Dichotomie seiner Existenz nicht nur denkend, sondern [IV-050] mit seinem gesamten Lebensprozess, mit seinem Fühlen und Handeln reagieren. Daher enthält jedes befriedigende Orientierungssystem nicht nur intellektuelle Elemente, sondern auch solche des Fühlens und der sinnlichen Wahrnehmung, die in der Beziehung zu einem Objekt der Hingabe zum Ausdruck kommen.
Die Antworten auf das Bedürfnis des Menschen nach einem Rahmen der Orientierung und einem Objekt der Hingabe unterscheiden sich weitgehend nach Inhalt und Form. Es gibt primitive Systeme wie den Animismus und den Totemismus, in denen Gegenstände der Natur oder die Ahnen die Antwort auf der Suche nach Sinn sind. Es gibt nicht-theistische Systeme wie den Buddhismus, die man gewöhnlich als Religion bezeichnet, obwohl sie in ihrer ursprünglichen Form keine Gottesvorstellung enthielten. Es gibt rein philosophische Systeme wie die Stoa, und es gibt monotheistische religiöse Systeme, die dem Menschen auf seiner Suche nach Sinn mit der Vorstellung eines Gottes antworten.
Aber wie verschieden diese Antworten in Bezug auf ihren Inhalt auch sein mögen, sie alle entsprechen dem Bedürfnis des Menschen, nicht nur irgendein Denksystem zu besitzen, sondern auch ein Objekt für seine Hingabe zu finden, das seinem Leben und seiner Stellung in der Welt Sinn verleiht. Nur die Analyse der verschiedenen Formen der Religion kann zeigen, welche Antworten die besseren und welche die schlechteren Lösungen für die Suche nach Sinngebung und Hingabe sind – „besser“ oder“ schlechter“ immer im Hinblick auf die Natur und die Entwicklung des Menschen gesehen. (Ausführlich behandelt habe ich das Problem in Psychoanalyse und Religion (1950a)m GA VI, S. 241-243; auf das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe komme ich im achten Kapitel dieses Buches noch einmal zurück.)
Unsere Vorstellung von seelischer Gesundheit hängt von unserer Vorstellung von der Natur des Menschen ab. Im vorigen Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass die Bedürfnisse und Leidenschaften des Menschen aus den besonderen Bedingungen seiner Existenz stammen. Diejenigen Bedürfnisse, die er mit dem Tier gemeinsam hat – Hunger, Durst und das Bedürfnis nach Schlaf und sexueller Befriedigung – sind deshalb wichtig, weil sie im chemischen Haushalt seines Körpers wurzeln und übermächtig werden können, wenn sie unbefriedigt bleiben. (Dies gilt natürlich mehr für das Bedürfnis nach Nahrung und Schlaf als für den Geschlechtstrieb, der auch dann, wenn er nicht befriedigt wird, nie so gebieterisch wird wie die anderen Bedürfnisse, wenigstens nicht aus physiologischen Gründen.) Aber selbst die volle Befriedigung dieser Bedürfnisse gewährleistet noch nicht die geistige und seelische Gesundheit. Diese hängt von der Befriedigung jener Bedürfnisse und Leidenschaften ab, die spezifisch menschlich sind und den Bedingungen der menschlichen Situation entstammen: des Bedürfnisses nach Bezogenheit, nach Transzendenz, nach Verwurzelung, nach Identitätserleben und nach einem Rahmen der Orientierung und einem Objekt der Hingabe.
Die großen Leidenschaften des Menschen, sein Machthunger, seine Eitelkeit, sein Wahrheitsdrang, sein leidenschaftliches Sehnen nach Liebe und Brüderlichkeit, seine Destruktivität wie auch seine Kreativität, jedes mächtige Verlangen, das das Tun des Menschen motiviert, hat diesen spezifisch menschlichen Ursprung und wurzelt nicht – wie Freud annimmt – in den verschiedenen Stadien der Libido.
Psychologisch gesehen ist die Lösung, die der Mensch für seine physiologischen Bedürfnisse gefunden hat, höchst einfach; es gibt hier nur gesellschaftliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Dagegen ist es äußerst kompliziert, eine Lösung für seine menschlichen Bedürfnisse zu finden. Es hängt von vielen Faktoren und nicht zuletzt von der Art ab, wie seine Gesellschaft organisiert ist, und davon, welchen Einfluss diese Organisation auf die menschlichen Beziehungen hat, die in ihr bestehen.
Die psychischen Grundbedürfnisse, die den Besonderheiten der menschlichen Existenz entstammen, müssen in der einen oder anderen Form befriedigt werden, wenn der Mensch nicht psychisch krank werden soll, genauso wie seine physiologischen [IV-052] Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wenn er am Leben bleiben soll. Aber die psychischen Bedürfnisse können auf vielfältige Art befriedigt werden, und die verschiedenen Arten der Befriedigung unterscheiden sich voneinander, je nach dem Grad der seelischen Gesundheit. Wenn eines der Grundbedürfnisse unerfüllt bleibt, ist die Folge eine Geisteskrankheit [Psychose]. Wenn es nur auf eine für die menschliche Natur unbefriedigende Weise erfüllt wird, so hat das eine Neurose zur Folge (entweder in manifester Form oder in Form eines gesellschaftlich vorgeprägten Defekts). Der Mensch muss auf andere Menschen bezogen sein. Ist er dies jedoch auf eine symbiotische oder entfremdete Weise, so verliert er seine Unabhängigkeit und Integrität. Er ist dann schwach, er leidet und wird feindselig und apathisch. Nur wenn er liebend mit anderen in Beziehung treten kann, fühlt er sich eins mit ihnen und bewahrt sich gleichzeitig seine Integrität. Mit der Natur tritt er nur durch produktive Arbeit in Beziehung, nur so wird er eins mit ihr und geht trotzdem nicht in ihr unter. Solange der Mensch inzestuös an die Natur, an die Mutter oder an die Sippe bzw. den Klan gebunden bleibt, ist die Entwicklung seiner Individualität und seiner Vernunft blockiert. Er bleibt dann die hilflose Beute der Natur und kann sich trotzdem niemals eins mit ihr fühlen. Nur wenn er seine Vernunft und seine Liebe entwickelt, nur wenn er die natürliche und die gesellschaftliche Welt auf menschliche Weise erfahren kann, kann er sich auch in sich selbst zu Hause und sicher und als Herr seines Lebens fühlen. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, dass von den beiden möglichen Formen der Transzendenz die Destruktivität zum Leiden und die Kreativität zum Glück führt. Es ist auch leicht einzusehen, dass nur ein in der Erfahrung der eigenen Kräfte gründendes Identitätserleben den Menschen stark macht, während alle Formen des Identitätsgefühls, die auf der Gruppe basieren, den Menschen abhängig und daher schwach bleiben lassen. Schließlich kann er ja nur in dem Maß, wie er die Realität wirklich erfasst, die Welt zu seiner eigenen machen. Solange er in Illusionen lebt, wird er niemals die Bedingungen ändern, die diese Illusionen notwendig machen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass sich der Begriff „seelische Gesundheit“ aus den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst ergibt und dass er für alle Menschen gilt, unabhängig von allen Zeiten und Kulturen. Seelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit zu lieben und etwas zu schaffen, durch die Loslösung von den inzestuösen Bindungen an Klan und Boden, durch ein Identitätserleben, das sich auf die Erfahrung seiner selbst als dem Subjekt und dem Urheber der eigenen Kräfte gründet, durch das Begreifen der Realität innerhalb und außerhalb von uns selbst, das heißt durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft.
Diese Auffassung von seelischer Gesundheit stimmt im wesentlichen mit den von den großen geistigen Lehrern der Menschheit geforderten Normen überein. In dieser Übereinstimmung sehen einige unserer modernen Psychologen den Beweis dafür, dass unsere psychologischen Prämissen nicht „wissenschaftlich“, sondern philosophische oder religiöse „Ideale“ sind. Es fällt ihnen offensichtlich schwer, den Schluss zu ziehen, dass sich die großen Lehrer aller Kulturen auf die rationale Einsicht in die Natur des Menschen und in die Bedingungen für seine volle Entwicklung gründen. Und doch spricht für diese Schlussfolgerung, dass an den verschiedensten Orten unseres Erdballs und in den verschiedensten geschichtlichen Epochen die „Erwachten“ die [IV-053] gleichen Normen verkündet haben und dabei kaum oder überhaupt nicht voneinander beeinflusst waren. Echnaton, Moses, Konfuzius, Lao-tse, Buddha, Jesaja, Sokrates und Jesus haben mit nur geringen und unwesentlichen Unterschieden dieselben Normen für das menschliche Leben verkündet.
Es gibt eine spezielle Schwierigkeit, mit der viele Psychiater und Psychologen erst fertig werden müssen, bevor sie die Ideen der humanistischen Psychoanalyse akzeptieren können. Ihr Denken geht immer noch von den philosophischen Prämissen des Materialismus des 19. Jahrhunderts aus, der annahm, dass alle wesentlichen psychischen Phänomene in entsprechenden physiologischen somatischen Prozessen verwurzelt seien (oder durch sie verursacht würden). So glaubte Freud, dessen philosophische Grundorientierung von dieser Art von Materialismus geformt worden war, dieses physiologische Substrat der menschlichen Leidenschaft in der Libido gefunden zu haben. In der hier dargelegten Theorie gibt es für das Bedürfnis nach Bezogenheit, nach Transzendenz usw. kein entsprechendes physiologisches Substrat. Das Substrat ist kein physisches, sondern es ist die menschliche Gesamtpersönlichkeit in ihrer Interaktion mit der Welt, mit Natur und Mensch; es ist die menschliche Lebenspraxis, wie sie sich aus den Bedingungen der menschlichen Existenz ergibt. Unsere philosophische Prämisse ist nicht die des Materialismus des 19. Jahrhunderts, sondern eine solche, die das Tun des Menschen und seine Interaktion mit seinen Mitmenschen und mit der Natur für die grundlegende empirische Gegebenheit bei der Erforschung des Menschen hält.
Bei der Betrachtung der menschlichen Evolution führt unser Begriff der seelischen Gesundheit zu einer theoretischen Schwierigkeit. Es besteht Grund zur Annahme, dass die Geschichte der Menschheit vor Hunderttausenden von Jahren mit einer wirklich „primitiven“ Kultur begonnen hat, in der die Vernunft des Menschen noch nicht über die rudimentärsten Anfänge hinausgekommen war und sein Orientierungsrahmen noch wenig mit der Realität und Wahrheit zu tun hatte. Sollen wir dann von diesem primitiven Menschen sagen, er sei seelisch nicht gesund gewesen, nur weil ihm noch die Eigenschaften fehlten, die ihm allein eine weitere Evolution geben konnte? Es gibt eine Antwort auf die Frage, die eine einfache Lösung aufzeigt. Sie besteht in dem Hinweis auf die offensichtliche Analogie zwischen der Evolution der menschlichen Rasse und der Evolution des Individuums. Wenn ein Erwachsener das Verhalten und die Art der Orientierung eines Kleinkindes von einem Monat aufwiese, so würden wir ihn bestimmt für schwer krank, vermutlich für schizophren halten. Für das einen Monat alte Baby dagegen ist das gleiche Verhalten normal und gesund, weil es seiner psychischen Entwicklungsstufe entspricht. Die seelische Erkrankung des Erwachsenen kann man demnach, wie Freud gezeigt hat, als Fixierung oder als eine Regression auf eine Orientierung bezeichnen, die zu einem früheren Entwicklungsstadium gehört und die nicht dem Entwicklungsstand entspricht, den der Betreffende inzwischen erreicht haben sollte. Ebenso könnte man sagen, dass die menschliche Rasse genau wie das Kleinkind mit einer primitiven Orientierung beginnt, und man würde dann alle Formen der menschlichen Orientierung als gesund bezeichnen, die dem entsprechenden Stadium der menschlichen Entwicklung angemessen sind. Man würde darin jene „Fixierungen“ oder „Regressionen“ als krankhaft bezeichnen, [IV-054] welche frühere Entwicklungsstadien repräsentieren, die die menschliche Rasse bereits hinter sich hat. So einleuchtend eine solche Lösung sein mag, übersieht sie doch eine Tatsache: Das einen Monat alte Kind besitzt noch nicht die organische Basis für ein reifes Verhalten. Es könnte unter keinen Umständen so denken, fühlen oder handeln wie ein reifer Erwachsener. Dagegen besitzt der Mensch seit Hunderttausenden von Jahren die vollständige organische Ausrüstung für die Reife. Sein Gehirn, sein körperliches Koordinationsvermögen und seine Körperkraft haben sich während der ganzen Zeit nicht verändert. Seine Evolution hing lediglich von seiner Fähigkeit ab, sein Wissen den folgenden Generationen weiterzugeben und auf diese Weise Wissen anzuhäufen. Die menschliche Evolution ist das Ergebnis einer kulturellen Entwicklung und nicht einer organischen Veränderung. Ein Kind aus der primitivsten Kultur würde sich, wenn man es in eine hochentwickelte Kultur versetzte, genauso wie alle anderen Kinder in dieser Kultur entwickeln, weil seine Entwicklung allein durch den kulturellen Faktor bestimmt wird. Mit anderen Worten: Während das einen Monat alte Kind niemals die geistige Reife eines Erwachsenen erreichen könnte – wie die kulturellen Bedingungen auch immer beschaffen sein mögen – hätte jeder Mensch vom Primitiven an die Fertigkeiten eines Menschen auf der Höhe der Evolution erreichen können, vorausgesetzt, dass ihm die kulturellen Vorbedingungen für diese Reife gegeben gewesen wären. Hieraus folgt, dass es etwas anderes ist, wenn man von einem primitiven, inzestuösen, unvernünftigen Menschen sagt, er befinde sich in einer normalen Entwicklungsphase, als wenn man das gleiche von einem kleinen Kind sagt.
Andererseits ist die kulturelle Entwicklung eine notwendige Vorbedingung für die menschliche Entwicklung. So scheint es also keine voll befriedigende Antwort auf unser Problem zu geben. Vom einen Standpunkt aus können wir von einer krankhaften seelischen Verfassung sprechen; vom anderen Standpunkt aus können wir von einer Frühphase der Entwicklung sprechen. Aber die Schwierigkeit ist nur so groß, wenn wir uns mit dem Problem in seiner allgemeinsten Form befassen. Sobald wir die konkreteren Probleme unserer Zeit ins Auge fassen, wird es weit weniger kompliziert. Wir haben ein Stadium der Individuation erreicht, in dem nur die vollentwickelte, reife Persönlichkeit ihre Freiheit auf fruchtbare Weise nutzen kann. Wenn der Einzelne seine Vernunft und seine Liebesfähigkeit nicht entwickelt hat, ist er nicht imstande, die Last der Freiheit und Individualität zu tragen und versucht, sich in künstliche Bindungen zu flüchten, die ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Verwurzeltseins geben. Heute ist jede Regression in eine künstliche Verwurzelung im Staat oder in der Rasse ein Zeichen seelischer Erkrankung, da eine derartige Regression nicht dem Evolutionsstand entspricht, den wir bereits erreicht haben, und daher zu unverkennbar pathologischen Erscheinungen führt.
Gleichgültig, ob wir von „seelischer Gesundheit“ oder von einer „reifen Entwicklung“ der Menschheit sprechen, der Begriff der seelischen Gesundheit oder der Reife ist ein objektiver Begriff, zu dem wir durch die Untersuchung der „Situation des Menschen“ und der sich daraus ergebenden menschlichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse gelangt sind. Wie bereits im zweiten Kapitel dargelegt, folgt hieraus, dass man die seelische Gesundheit nicht als „Anpassung“ des Einzelnen an die Gesellschaft definieren kann, sondern dass man sie ganz im Gegenteil als die Anpassung der [IV-055] Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen definieren muss und dass es dabei darum geht, ob die Gesellschaft ihre Rolle erfüllt, die Entwicklung der seelischen Gesundheit zu fördern, oder ob sie dieser Entwicklung hinderlich ist. Ob ein Mensch seelisch gesund ist oder nicht, ist in erster Linie keine individuelle Angelegenheit, sondern hängt von der Struktur seiner Gesellschaft ab. Eine gesunde Gesellschaft fördert die Fähigkeit des Einzelnen, seine Mitmenschen zu lieben, schöpferisch zu arbeiten, seine Vernunft und Objektivität zu entwickeln und ein Selbstgefühl zu besitzen, das sich auf die Erfahrung der eigenen produktiven Kräfte gründet. Ungesund ist eine Gesellschaft, wenn sie zu gegenseitiger Feindseligkeit und zu Misstrauen führt, wenn sie den Menschen in ein Werkzeug verwandelt, das von anderen benutzt und ausgebeutet wird, wenn sie ihn seines Selbstgefühls beraubt und es ihm nur insoweit lässt, als er sich anderen unterwirft und zum Automaten wird. Die Gesellschaft kann beide Funktionen erfüllen: Sie kann die gesunde Entwicklung des Menschen fördern, und sie kann sie behindern. Tatsächlich tun die meisten Gesellschaften beides, und die Frage ist nur, in welchem Maß und in welcher Richtung sie ihren positiven und ihren negativen Einfluss ausüben.
Die Auffassung, dass die seelische Gesundheit sich objektiv bestimmen lässt und dass die Gesellschaft sowohl einen fördernden als auch einen schädlichen Einfluss auf den Menschen ausübt, widerspricht nicht nur der relativistischen Ansicht, die wir oben erwähnten, sondern auch zwei anderen Auffassungen, auf die ich jetzt zu sprechen kommen möchte. Die eine, und zwar die heute populärste, möchte uns einreden, dass die gegenwärtige westliche Gesellschaft und insbesondere der American way of life den tiefsten Bedürfnissen der menschlichen Natur entsprechen, und dass die Anpassung an diese Lebensweise seelische Gesundheit und Reife verbürgt. Anstatt sich zu einem Werkzeug der Gesellschaftskritik zu machen, werden die Sozialpsychologen hierdurch zu Apologeten des status quo. Ihre Vorstellung von „Reife“ und „seelischer Gesundheit“ entspricht der wünschenswerten Einstellung eines Arbeiters oder Angestellten in der Industrie oder in der Geschäftswelt. Die Definition, die Dr. Strecker von emotionaler Reife gibt, ist ein Beispiel für diese Auffassung von Anpassung. Er sagt: „Ich definiere die Reife als die Fähigkeit, es bei seinem Job auszuhalten, als die Fähigkeit, bei jedem beliebigen Job immer bessere Leistungen zu zeigen als verlangt werden, als Zuverlässigkeit, als Ausdauer bei der Ausführung eines Plans ohne Rücksicht auf auftretende Schwierigkeiten, als die Fähigkeit, mit anderen Menschen in einer Organisation und unter einer Autorität zusammenzuarbeiten, als die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, als Lebenswille, als Wendigkeit, Unabhängigkeit und Toleranz“ (E. A. Strecker, 1951, S. 211). Was E. A. Strecker hier als Reife beschreibt, sind zweifellos die Tugenden eines guten Arbeiters, Angestellten oder Soldaten in den großen gesellschaftlichen Organisationen unserer Zeit. Es sind genau die Eigenschaften, die gewöhnlich in Annoncen erwähnt werden, in denen ein jüngerer leitender Angestellter gesucht wird. Für diesen Autor wie für viele andere, die wie er denken, ist Reife gleichbedeutend mit Anpassung an unsere Gesellschaft, wobei niemals die Frage gestellt wird, ob man sich an eine gesunde oder an eine krankhafte Lebensweise anpassen soll.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung steht eine andere, die von Hobbes bis Freud reicht [IV-056] und die annimmt, dass zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft ein grundsätzlicher und unauflöslicher Widerspruch besteht, ein Widerspruch, der aus der angeblich asozialen Natur des Menschen folgt. Nach Freud wird der Mensch von zwei biologisch verwurzelten Impulsen beherrscht: dem heftigen Verlangen nach sexueller Lust und dem nach Zerstörung. Das Ziel der sexuellen Wünsche des Mannes ist eine vollständige sexuelle Freiheit, das heißt der unbeschränkte sexuelle Zugang zu allen von ihm für begehrenswert gehaltenen Frauen. In seiner Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur (1930a, S. 461) heißt es: „Wir sagten, die Erfahrung, dass die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gewähre, ihm eigentlich das Vorbild für alles Glück gebe, müsste es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen.“
Das andere Ziel des natürlichen sexuellen Begehrens ist das inzestuöse Verlangen nach der Mutter, das seiner ganzen Natur nach mit dem Vater in Konflikt gerät und Feindseligkeit gegen ihn weckt. Freud weist auf die Bedeutung dieses Aspekts der Sexualität mit der Feststellung hin, das Inzestverbot sei „vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat“. (S. Freud, 1930a, S. 463.)
In völliger Übereinstimmung mit Rousseau behauptet Freud, der primitive Mensch habe sich noch keine oder nur außerordentlich wenige Beschränkungen bei der Befriedigung dieser Bedürfnisse auferlegen müssen. Er konnte seinen Aggressionen noch freien Lauf lassen, und es gab für die Befriedigung seiner sexuellen Impulse nur wenige Einschränkungen: „Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. (...) Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ (S. Freud, 1930a, S. 474.)
Während Freud sich mit seiner Vorstellung vom „glücklichen Wilden“ an Rousseau anschließt, folgt er Hobbes mit seiner Annahme von der grundsätzlichen Feindschaft zwischen den Menschen: „Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (S. Freud, 1930a, S. 470.) Nach Freud kommt die Aggressivität des Menschen aus zwei Quellen. Einmal stammt sie aus dem angeborenen Streben nach Zerstörung (dem Todestrieb) und zum anderen aus der Frustrierung seiner triebhaften Wünsche, die ihm von der Zivilisation auferlegt wird. Obwohl der Mensch einen Teil seiner Aggressionen mit Hilfe des Über-Ichs gegen sich selbst wenden kann und obwohl eine Minderheit ihre sexuellen Wünsche in Nächstenliebe sublimieren kann, bleibt die Aggressivität jedoch unausrottbar. Die Menschen werden stets miteinander rivalisieren und sich gegenseitig angreifen, und wenn es dabei nicht um materielle Dinge geht, dann geht es um „das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Missgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muss. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so lässt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, dass der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.“ [IV-057] (S. Freud, 1930a, S. 473.) Da die Liebe für Freud ihrem Wesen nach sexuelles Begehren ist, sieht er sich gezwungen, einen Widerspruch zwischen der Liebe und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt anzunehmen. Nach ihm ist die Liebe ihrer ganzen Natur nach egoistisch und antisozial, und das Solidaritätsgefühl und die Menschenliebe sind keine primären Gefühle, die in der Natur des Menschen wurzeln, sondern zielgehemmte sexuelle Begierden.
Entsprechend dem Bild vom Menschen mit seinem ihm angeborenen Verlangen nach uneingeschränkter Destruktivität musste Freud den Konflikt zwischen Kultur und seelischer Gesundheit und menschlichem Glück für unvermeidlich halten. Der primitive Mensch ist gesund und glücklich, weil er in Bezug auf seine Grundtriebe nicht frustriert ist, aber ihm fehlen die Segnungen der Kultur. Der zivilisierte Mensch lebt in größerer Sicherheit, er kann sich an Kunst und Wissenschaft erfreuen, aber er muss wegen des ständigen Triebverzichts, der ihm durch die Zivilisation aufgezwungen wird, neurotisch werden.
Für Freud stehen Gesellschaftsleben und Zivilisation ihrem Wesen nach im Gegensatz zu den Bedürfnissen der menschlichen Natur, so wie er sie sieht. Der Mensch sieht sich vor die tragische Alternative gestellt, zwischen einem Glück, das sich auf die uneingeschränkte Befriedigung seiner Triebe gründet, und der Sicherheit und den kulturellen Leistungen zu wählen, die auf dem Triebverzicht basieren und daher zur Neurose und allen anderen Formen seelischer Erkrankung führen. Für Freud ist die Kultur das Produkt des Triebverzichts und daher die Ursache seelischer Erkrankungen.
Freuds Auffassung, dass die menschliche Natur ihrem Wesen nach auf Rivalität eingestellt (und asozial) sei, finden wir bei den meisten Autoren, die meinen, die Charakterzüge des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft seien seine natürlichen Charaktermerkmale. Freuds Theorie vom Ödipuskomplex basiert auf der Annahme von dem „natürlichen“ Antagonismus und der „natürlichen“ Rivalität zwischen Vater und Sohn in Bezug auf die Liebe der Mutter. Diese Rivalität soll wegen der naturgegebenen inzestuösen Strebungen bei Söhnen unvermeidlich sein. Freud folgt ähnlichen Gedankengängen, wenn er annimmt, dass jeder Mann von seinen Trieben her das Verlangen hat, in sexueller Beziehung stets die erste Rolle zu spielen, was zu einer heftigen Feindschaft der Männer untereinander führt. Hieraus geht eindeutig hervor, dass Freuds gesamte Sexualtheorie auf der anthropologischen Voraussetzung beruht, dass Rivalität und gegenseitige Feindseligkeit der menschlichen Natur innewohnend seien.
Im Bereich der Biologie hat Darwin mit seiner Theorie vom wettstreitenden „Kampf ums Dasein“ diesem Prinzip Ausdruck verliehen. Nationalökonomen wie Ricardo und die Manchester-Schule haben es in den Bereich der Wirtschaft übernommen. Unter dem Einfluss der gleichen anthropologischen Voraussetzungen hat Freud dann später behauptet, dieses Prinzip gelte auch für den Bereich der sexuellen Wünsche. Seine Grundauffassung ist die eines homo sexualis, so wie die Auffassung der Nationalökonomen die eines homo oeconomicus war. Sowohl der „ökonomische“ als auch der „sexuelle“ Mensch sind für den Kapitalismus gut zu gebrauchen, weil sie angeblich von Natur aus isoliert, asozial, habgierig und auf Konkurrenzkampf eingestellt [IV-058] sind. Deshalb erscheint der Kapitalismus als das System, das der menschlichen Natur vollkommen entspricht, und wird so jeder Kritik entzogen.
Beide Positionen, die Auffassung von der „Anpassung“ und die Hobbes-Freudsche Auffassung vom unausweichlichen Konflikt zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft verteidigen die gegenwärtige Gesellschaft und sind einseitige Entstellungen. Außerdem ignorieren sie beide die Tatsache, dass die Gesellschaft nicht nur im Konflikt mit den asozialen Aspekten des Menschen steht, die teilweise von ihr selbst erst hervorgerufen werden, sondern oft auch mit den wertvollsten menschlichen Eigenschaften, die sie eher unterdrückt als fördert.
Eine objektive Untersuchung der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der menschlichen Natur muss sowohl den fördernden als auch den hemmenden Einfluss der Gesellschaft auf den Menschen in Betracht ziehen, indem sie die Natur des Menschen und seine daraus entspringenden Bedürfnisse berücksichtigt. Da die meisten Autoren den positiven Einfluss der modernen Gesellschaft auf den Menschen in den Vordergrund stellen, werde ich diesem Aspekt im vorliegenden Buch weniger Aufmerksamkeit widmen und mich mehr mit den vernachlässigten pathogenen Funktionen der modernen Gesellschaft befassen.
Es ist nicht sinnvoll, den Begriff der seelischen Gesundheit wie eine abstrakte Eigenschaft und unabhängig von bestimmten Menschen zu erörtern. Wenn wir uns jetzt mit dem seelischen Gesundheitszustand des heutigen westlichen Menschen beschäftigen und untersuchen, welche Faktoren in seiner Lebensweise zur Erkrankung führen und welche anderen der Gesundheit zuträglich sind, so müssen wir festzustellen versuchen, welchen Einfluss die spezifischen Bedingungen unserer Produktionsweise und unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung auf die Natur des Menschen haben. Wir müssen zu einem Persönlichkeitsbild des Durchschnittsmenschen gelangen, der unter diesen Bedingungen lebt und arbeitet. Nur wenn es uns gelingt, uns ein solches Bild vom Gesellschafts-Charakter zu machen, so vorläufig und unvollständig es auch sein mag, besitzen wir eine Basis, von der aus wir die seelische und geistige Gesundheit des modernen Menschen beurteilen können.
Was ist unter dem Gesellschafts-Charakter zu verstehen?[19] Ich meine mit diesem Begriff den Kern der Charakterstruktur, den die meisten Mitglieder ein und derselben Kultur miteinander gemeinsam haben, im Unterschied zum individuellen Charakter, in welchem sich Menschen ein und derselben Kultur voneinander unterscheiden. Es handelt sich dabei um keinen statistischen Begriff in dem Sinne, dass der Gesellschafts-Charakter einfach die Summe aller Charakterzüge wäre, die man bei der Mehrheit der Menschen ein und derselben Kultur findet. Es geht vielmehr um die Funktion des Gesellschafts-Charakters, die wir nunmehr erörtern wollen.[20]
Jede Gesellschaft ist auf eine bestimmte Weise strukturiert und funktioniert entsprechend einer Anzahl von objektiv gegebenen Bedingungen. Zu diesen Bedingungen gehören Produktions- und Verteilungsmethoden, die ihrerseits von Rohmaterialien, industriellen Verfahren, vom Klima, von der Größe der Bevölkerung und von politischen und geographischen Faktoren sowie von kulturellen Traditionen und [IV-060] Einflüssen abhängen, die auf diese Gesellschaft einwirken. Es gibt keine „Gesellschaft“ im allgemeinen Sinn, sondern lediglich spezifische gesellschaftliche Strukturen, die auf unterschiedliche, nachweisbare Weise funktionieren. Wenn auch diese gesellschaftlichen Strukturen sich im Laufe der historischen Entwicklung ändern, so sind sie doch während der jeweiligen geschichtlichen Periode relativ stabil, und die Gesellschaft kann nur existieren, wenn sie sich im Rahmen ihrer speziellen Struktur bewegt. Die Mitglieder der Gesellschaft bzw. die verschiedenen Klassen oder Standesgruppen in ihr müssen sich so verhalten, dass sie in der Weise funktionieren, wie es das Gesellschaftssystem erfordert. Der Gesellschafts-Charakter hat die Funktion, die Energien der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft so zu formen, dass ihr Verhalten nicht von der bewussten Entscheidung abhängt, ob sie sich nach dem gesellschaftlichen Modell richten wollen oder nicht, sondern dass sie so handeln wollen, wie sie handeln müssen und dass es ihnen gleichzeitig eine gewisse Befriedigung gewährt, wenn sie sich den Erfordernissen ihrer Kultur entsprechend verhalten. Mit anderen Worten, es ist die Funktion des Gesellschafts-Charakters, die menschliche Energie in einer bestimmten Gesellschaft so zu formen und zu kanalisieren, dass diese Gesellschaft auch weiterhin funktioniert.
So hätte die moderne Industriegesellschaft zum Beispiel ihre Ziele nicht erreichen können, wenn sie nicht die Energie freier Menschen in einem nie dagewesenen Maß in die Arbeit eingespannt hätte. Der Mensch musste so umgewandelt werden, dass er geradezu erpicht darauf war, den größten Teil seiner Energie auf die Arbeit zu verwenden. Auf diese Weise gewöhnte er sich Disziplin und insbesondere Ordentlichkeit und Pünktlichkeit in einem bei den meisten anderen Kulturen unbekannten Grad an. Es hätte nicht genügt, dass jeder Einzelne immer von neuem bewusst den Entschluss gefasst hätte, jeden Tag pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen und seine Arbeit zu tun und so weiter und so weiter, da es bei solchen bewussten Entscheidungen stets mehr Ausnahmen gegeben hätte, als die Gesellschaft sich hätte leisten können, wenn sie reibungslos funktionieren wollte. Auch Drohungen und Zwang hätten als Motiv nicht ausgereicht, da die hoch differenzierten Aufgaben in der modernen Industriegesellschaft auf die Dauer nur von freien Menschen und nicht von Zwangsarbeitern gelöst werden können. Die Notwendigkeit, dass gearbeitet wird – und zwar pünktlich und ordentlich – musste in einen inneren Trieb zur Erreichung dieser Ziele umgewandelt werden. Das bedeutet, dass die Gesellschaft einen Gesellschafts-Charakter schaffen musste, dem diese Strebungen inhärent waren.
Man kann die Genese des Gesellschafts-Charakters nicht verstehen, wenn man nur einen seiner Aspekte in Betracht zieht; man muss vielmehr die Wechselwirkung der soziologischen und der ideologischen Faktoren zu verstehen suchen. Da die ökonomischen Faktoren sich weniger leicht ändern lassen, besitzen sie in diesem Wechselspiel ein gewisses Übergewicht. Das bedeutet aber nicht, dass das Verlangen nach materiellem Gewinn das einzige oder auch nur das stärkste Motiv im Menschen ist. Es bedeutet, dass es dem Einzelnen und der Gesellschaft in erster Linie darum geht zu überleben und dass erst, wenn das Überleben gesichert ist, sie sich um die Befriedigung anderer gebieterischer menschlicher Bedürfnisse kümmern können. Die Aufgabe zu überleben bringt es mit sich, dass der Mensch produzieren muss, das heißt, [IV-061] dass er sich das Mindestmaß an Nahrung und Obdach, das er für sein Überleben braucht, sowie die Werkzeuge verschaffen muss, die er selbst für die rudimentärsten Produktionsprozesse braucht. Die Produktionsmethode bestimmt dann ihrerseits die sozialen Beziehungen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Sie bestimmt Lebensweise und Lebenspraxis. Aber die religiösen, politischen und philosophischen Ideen sind nicht nur sekundäre projektive Systeme. Sie sind zwar im Gesellschafts-Charakter verankert, bestimmen aber ihrerseits den Gesellschafts-Charakter mit und systematisieren und stabilisieren ihn.
Wenn wir sagen, dass die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft den Charakter des Menschen prägt, dann möchte ich darauf hinweisen, dass wir nur von dem einen Pol dieses Wechselspiels zwischen gesellschaftlicher Organisation und Mensch sprechen. Der andere Pol, mit dem wir uns beschäftigen müssen, ist die Natur des Menschen, die ebenfalls den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er lebt, ein bestimmtes Gepräge gibt. Man kann den gesellschaftlichen Prozess nur verstehen, wenn man die reale Situation des Menschen, seine psychischen und auch seine physiologischen Eigenschaften kennt und dann das Wechselspiel zwischen seiner Natur und den spezifischen äußeren Bedingungen untersucht, unter denen er jeweils lebt und die er meistern muss, wenn er überleben will.
Obwohl es zutrifft, dass der Mensch sich an fast alle Bedingungen anpassen kann, ist er doch kein unbeschriebenes Blatt, auf das die Kultur ihren Text schreibt. Bedürfnisse wie das Streben nach Glück, nach Harmonie, Liebe und Freiheit sind mit seiner Natur gegeben. Sie wirken auch im historischen Prozess als dynamische Faktoren, die, wenn sie nicht zu ihrem Recht kommen, dazu tendieren, psychische Reaktionen hervorzurufen, die schließlich genau die Bedingungen erzeugen, welche den ursprünglichen Strebungen entsprechen. Solange die objektiven Bedingungen von Gesellschaft und Kultur stabil bleiben, hat auch der Gesellschafts-Charakter in erster Linie eine stabilisierende Funktion. Ändern sich die äußeren Bedingungen in einer Weise, dass sie nicht mehr zum herkömmlichen Gesellschafts-Charakter passen, dann kommt es gleichsam zu einer Verschiebung. Der Gesellschafts-Charakter wird dann zu einem Element der Desintegration und nicht mehr der Stabilisierung – er wirkt gleichsam als Dynamit und nicht als gesellschaftlicher Kitt.
Wenn diese Auffassung von der Genese und Funktion des Gesellschafts-Charakters richtig ist, stehen wir vor einem verwirrenden Problem. Steht nicht die Annahme, dass die Charakterstruktur durch die Rolle geprägt wird, die der einzelne in seiner Kultur zu spielen hat, im Widerspruch zu der Annahme, dass der Charakter eines Menschen sich in seiner Kindheit bildet? Können beide Auffassungen Anspruch auf Richtigkeit erheben angesichts der Tatsache, dass das Kind in seinen frühen Lebensjahren relativ wenig Kontakt mit der Gesellschaft als solcher hat? Diese Frage ist nicht so schwer zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wir müssen zwischen den Faktoren, die für die speziellen Inhalte des Gesellschafts-Charakters verantwortlich sind, und den Methoden, durch die der Gesellschafts-Charakter gebildet wird, unterscheiden. Man darf annehmen, dass die Gesellschaftsstruktur und die Funktion des Individuums in der Gesellschaftsstruktur den Inhalt des Gesellschafts-Charakters bestimmen. Andererseits kann man die Familie als die psychische Agentur der [IV-062] Gesellschaft, als die Institution ansehen, deren Funktion es ist, die Erfordernisse der Gesellschaft dem heranwachsenden Kind zu übermitteln. Die Familie erfüllt diese Funktion auf zweierlei Weise. Einmal – und das ist der wichtigste Faktor – durch den Einfluss des Charakters der Eltern auf die Charakterbildung des heranwachsenden Kindes. Da im Charakter der meisten Eltern der Gesellschafts-Charakter zum Ausdruck kommt, vermitteln sie auf diese Weise ihrem Kind die wesentlichen Züge der gesellschaftlich wünschenswerten Charakterstruktur. Auf das Kind werden sowohl die Liebe und das Glück der Eltern als auch deren Ängste und Feindseligkeiten übertragen. Außer dem Charakter der Eltern haben auch die in einer Kultur üblichen Methoden der Kindererziehung die Funktion, den Charakter des Kindes in einer für die Gesellschaft wünschenswerten Richtung zu formen. Es gibt verschiedene Methoden und Techniken der Kindererziehung, die das gleiche Ziel erreichen können, aber es gibt andererseits auch Methoden, die äußerlich identisch scheinen, sich jedoch auf Grund der Charakterstruktur derjenigen, die diese Methoden anwenden, unterscheiden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Methoden der Kindererziehung richten, können wir niemals den Gesellschafts-Charakter erklären. Die Methoden der Kindererziehung sind nur bedeutend als Übermittlungsmechanismen, und man versteht sie nur richtig, wenn man sich zunächst überlegt, welche Arten der Persönlichkeit in einer bestimmten Kultur wünschenswert und notwendig sind.[21]
Hieraus ergibt sich, dass wir zum Verständnis des Problems der sozio-ökonomischen Bedingungen in der modernen Industriegesellschaft, welche die Persönlichkeit des modernen westlichen Menschen prägen und für die Störungen seiner seelischen Gesundheit verantwortlich sind, jene Elemente verstehen lernen müssen, die für die kapitalistische Produktionsmethode und für eine auf Erwerb ausgerichtete Gesellschaft im Industriezeitalter kennzeichnend sind. So skizzenhaft und vorläufig eine solche Beschreibung durch einen Nicht-Ökonomen auch notwendigerweise sein muss, so hoffe ich trotzdem, dass sie für die folgende Analyse des Gesellschafts-Charakters des Menschen in der heutigen westlichen Gesellschaft eine ausreichende Grundlage bilden wird.
Das Wirtschaftssystem, das im 17. und 18. Jahrhundert im Westen die Vorherrschaft gewann, ist der Kapitalismus. Trotz großer Veränderungen, die in diesem System vor sich gingen, gibt es doch gewisse Merkmale, die sich durch seine ganze Geschichte hindurch erhalten haben. Angesichts dieser gemeinsamen Merkmale ist es wohl legitim, den Begriff Kapitalismus auf das Wirtschaftssystem dieser ganzen Periode anzuwenden. [IV-063]
Kurz gesagt handelt es sich um folgende Merkmale: 1. um die Existenz von politisch und rechtlich freien Menschen, 2. um die Tatsache, dass freie Menschen (Arbeiter und Angestellte) ihre Arbeitskraft dem Besitzer von Kapital auf dem Arbeitsmarkt durch einen Vertrag verkaufen, 3. um das Bestehen des Gebrauchsgütermarktes als einem Mechanismus, durch den die Preise bestimmt werden und der Austausch des Sozialprodukts reguliert wird, 4. um das Prinzip, dass jeder Einzelne den eigenen Profit im Auge hat und dass trotzdem durch den Wettbewerb aller angeblich der größtmögliche Vorteil für alle erzielt wird.
Während diese Merkmale den Kapitalismus in den letzten Jahrhunderten durchweg kennzeichnen, sind die in dieser Zeit mit ihm vorgegangenen Veränderungen ebenso bedeutend wie die genannten Merkmale. Wenn wir uns in unserer Analyse auch hauptsächlich mit dem Einfluss der gegenwärtigen sozio-ökonomischen Struktur auf den Menschen befassen, wollen wir doch wenigstens kurz auf die Merkmale des Kapitalismus des 17. und 18. Jahrhunderts und auf die des 19. Jahrhunderts eingehen, die sich von der Entwicklung der Gesellschaft und des Menschen im 20. Jahrhundert unterscheiden.
Für die frühe Periode des Kapitalismus im 17. und 18. Jahrhundert sind zwei Aspekte besonders kennzeichnend. Erstens steckten Technik und Industrie – verglichen mit der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert – noch in den Anfängen, und zweitens hatten damals die Gewohnheiten und Ideen der mittelalterlichen Kultur noch einen beträchtlichen Einfluss auf die wirtschaftlichen Praktiken dieser Epoche. So wurde es als unchristlich und unsittlich angesehen, wenn ein Kaufmann versuchte, einem anderen durch niedrige Preise oder andere Machenschaften die Kunden abspenstig zu machen (vgl. W. Sombart, 1923, S. 203). „In der fünften Auflage des Complete English Trademan (1745) findet sich eine Anmerkung der Herausgeber folgenden Inhalts: ‘Seit unser Autor schrieb (Defoe starb 1731), ist die Unsitte des Unterbietens so schamlos entwickelt, dass gewisse Leute öffentlich bekanntmachen: dass sie ihre Waren billiger als die übrige Kaufmannschaft abgeben’.“ (Zit. nach W. Sombart, 1923, S. 205.) In der gleichen Auflage des Complete English Trademan wird ein „reicher Mann“ vorgestellt, „der mehr Geld als seine Nachbarn hat und infolgedessen keinen Kredit in Anspruch zu nehmen braucht“ (W. Sombart, 1923, S. 206). Dieser kaufe seine Waren direkt beim Erzeuger, transportiere sie selbst und „weil er vielleicht bar bezahlt, gibt ihm der Tuchfabrikant die Tuche einen Penny pro Elle billiger. (...) Und was ist der Gewinn, der bei diesem ganzen Beraubungssysteme herausspringt? Ausschließlich dieser: einen habsüchtigen Mann reich zu machen“ und einem anderen die Möglichkeit zu geben, dass dieser „den Stoff für seine Anzüge um so und so viel die Elle billiger einkauft: ein ganz belangloser Vorteil für ihn, den er gar nicht übermäßig hoch bewertet, und der sicher in keinem Verhältnis zu den Wunden steht, die der Handel empfangen hat“ (W. Sombart, 1923, S. 206 f.). In Deutschland und Frankreich finden wir während des ganzen 18. Jahrhunderts darum Verbote einer Preisunterbietung.
Es ist bekannt, wie skeptisch die Menschen jener Zeit gegenüber neuen Maschinen waren, da sie ihnen ihre Arbeitsplätze zu nehmen drohten. „Colbert erblickt in dem Erfinder arbeitssparender Maschinen einen ‘Feind der Arbeit’“ und Montesquieu sagte (im Esprit de Loi, XXIII, 15), dass jene Maschinen, die die Zahl der Arbeiter [IV-064] verminderten, verwerflich seien (zit. nach W. Sombart, 1923, S. 210 f.). Alle diese Aussagen basieren auf Grundsätzen, die das Leben der Menschen viele Jahrhunderte lang beherrscht hatten. Der wichtigste dieser Grundsätze lautete, dass die Gesellschaft und die Wirtschaft für den Menschen da sind und nicht der Mensch für sie. Kein wirtschaftlicher Fortschritt wurde als gesund angesehen, wenn er irgendeiner Gruppe innerhalb der Gesellschaft zum Schaden gereichte. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass diese Auffassung eng mit dem traditionalistischen Denken zusammenhing, insofern auf diese Weise das gesellschaftliche Gleichgewicht erhalten werden sollte und man jede Störung dieses Gleichgewichts als schädlich ansah.
Im neunzehnten Jahrhundert ändert sich die traditionalistische Einstellung des achtzehnten Jahrhunderts zunächst langsam, dann aber rasch. Der lebendige Mensch mit seinen Wünschen und Kümmernissen verliert mehr und mehr seine zentrale Stellung im System, und Geschäft und Produktion nehmen nun diesen Platz ein. Im ökonomischen Bereich hört der Mensch auf, das Maß aller Dinge zu sein. Das am meisten charakteristische Merkmal des Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts ist die skrupellose Ausbeutung des Arbeiters. Man hält es für ein Naturgesetz oder auch für ein gesellschaftliches Gesetz, dass Hunderttausende von Arbeitern am Rande des Hungertodes lebten. Man glaubt, der Kapitaleigner befinde sich moralisch im Recht, wenn er auf seiner Jagd nach Profit die von ihm eingestellten Arbeiter soviel wie möglich ausbeute. Zwischen dem Kapitaleigner und seinen Arbeitern gibt es kaum ein Gefühl menschlicher Solidarität. Auf wirtschaftlichem Gebiet herrscht das Gesetz des Dschungels. Alle Beschränkungen früherer Jahrhunderte lässt man hinter sich. Man sucht sich seinen Kunden und versucht die Konkurrenz zu unterbieten, und der Konkurrenzkampf gegen Gleichgestellte ist ebenso skrupellos und hemmungslos wie die Ausbeutung des Arbeiters. Mit der Einführung der Dampfmaschine nimmt die Arbeitsteilung zu, Hand in Hand mit der Vergrößerung der Unternehmen. Das kapitalistische Prinzip, dass ein jeder den eigenen Profit sucht und auf diese Weise zum Glück aller beiträgt, wird zum Leitprinzip menschlichen Verhaltens.
Der Markt als der Hauptregulator wird von allen herkömmlichen Beschränkungen befreit und kommt im neunzehnten Jahrhundert zu voller Macht. Während jedermann im eigenen Interesse zu handeln glaubt, wird er in Wirklichkeit von den anonymen Gesetzen des Marktes und der Wirtschaftsmaschinerie in seinem Handeln bestimmt. Der einzelne Kapitalist vergrößert sein Unternehmen noch mehr, und zwar in erster Linie nicht deshalb, weil er das gerne möchte, sondern weil er es muss, denn – wie Carnegie in seiner Autobiographie feststellt – würde die Verzögerung einer weiteren Expansion einen Rückschritt bedeuten. Tatsächlich muss man sein Geschäft, wenn es wächst, immer weiter ausdehnen, ob man will oder nicht. In dieser Funktion des ökonomischen Gesetzes, das hinter dem Rücken der Menschen arbeitet und das sie dazu zwingt, bestimmte Dinge zu tun, ohne selbst darüber entscheiden zu können, sehen wir den Anfang einer Konstellation, die dann im zwanzigsten Jahrhundert ihre Früchte trägt. [IV-065]
In unserer Zeit besitzt nicht nur das Gesetz des Marktes sein eigenes Leben und regiert die Menschen, sondern das gleiche gilt auch für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik. Aus einer Reihe von Gründen sind die Probleme der Naturwissenschaft samt ihrer Organisation heute derart, dass sich ein Wissenschaftler seine Probleme nicht mehr selbst aussuchen kann, sondern die Probleme zwingen sich ihm auf. Er löst ein Problem, aber er gewinnt hierdurch nicht größere Sicherheit und Gewissheit, sondern zehn andere Probleme treten an die Stelle des einen, das er gelöst hat. Sie zwingen ihn, sie zu lösen; er muss in einem immer schnelleren Tempo weitermachen. Das gleiche gilt für die industrielle Fertigung. Das Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts überträgt sich auf das Tempo der technischen Entwicklung. Die theoretische Physik zwingt uns die Atomenergie auf; die erfolgreiche Herstellung der Atombombe zwingt uns, die Wasserstoffbombe herzustellen. Wir wählen uns unsere Aufgaben nicht aus, wir wählen auch unsere Produkte nicht selbst aus. Wir werden vorangetrieben, wir werden gezwungen – wovon? Von einem System, das über sich selbst hinaus weder Zweck noch Ziel hat und das den Menschen zu einem bloßen Anhängsel macht.
In unserer Analyse des heutigen Kapitalismus werden wir noch mehr über diesen Aspekt der menschlichen Ohnmacht zu sagen haben. Hier jedoch sollten wir noch ein wenig bei der Bedeutung des modernen Marktes als dem zentralen Verteilungsmechanismus des Sozialproduktes verweilen, denn der Markt ist die Basis für die Bildung menschlicher Beziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft.
Wenn der Wohlstand der Gesellschaft den tatsächlichen Bedürfnissen aller ihrer Mitglieder entspräche, gäbe es bei seiner Verteilung keine Probleme. Jedes Mitglied der Gesellschaft könnte sich dann vom Sozialprodukt das nehmen, was ihm gefällt oder was es braucht, und man brauchte nichts zu steuern als die Verteilung im rein technischen Sinn. Aber von den primitiven Gesellschaften abgesehen, hat es diese Situation in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag nie gegeben. Die Bedürfnisse waren stets größer als die Gesamtsumme des Sozialprodukts, weshalb man festlegen musste, wie verteilt werden sollte, wie viele und wer seine Bedürfnisse optimal befriedigt bekommen sollte und welche Klassen mit weniger zufrieden sein mussten. In den höchstentwickelten Gesellschaften der Vergangenheit wurde diese Entscheidung meist gewaltsam getroffen. Bestimmte Klassen besaßen die Macht, sich den Löwenanteil am Sozialprodukt zu sichern und den anderen Klassen die schwerere und schmutzigere Arbeit und einen geringeren Anteil am Sozialprodukt zuzuweisen. Vielfach wurde dieser Zwang von der gesellschaftlichen und religiösen Tradition ausgeübt, die ein so starker psychischer Zwang im Menschen war, dass sie oft die Androhung physischen Zwangs überflüssig machte.
Der moderne Markt ist ein sich selbst regulierender Verteilungsmechanismus, der es überflüssig macht, das Sozialprodukt nach einem vorgegebenen oder traditionellen Plan zu verteilen, wodurch die Notwendigkeit der Gewaltanwendung innerhalb der Gesellschaft abgeschafft wird: Natürlich wird nur scheinbar und nicht realiter keine Gewalt mehr angewandt. Der Arbeiter, der den ihm auf dem Arbeitsmarkt angebotenen Tariflohn akzeptieren muss, sieht sich gezwungen, die Marktbedingungen anzunehmen, weil er sonst nicht überleben könnte. So ist die „Freiheit“ des Individuums [IV-066] weitgehend illusorisch. Der Einzelne ist sich klar, dass es keine äußere Macht gibt, die ihn zwingen könnte, auf bestimmte Arbeitsverträge einzugehen; er ist sich aber weniger klar über die Gesetze des Marktes, die gleichsam hinter seinem Rücken wirksam sind. Deshalb glaubt er, frei zu sein, obwohl er es tatsächlich nicht ist. Aber obwohl das so ist, ist doch die kapitalistische Methode der Verteilung durch den Marktmechanismus besser als jede andere Methode, die bis jetzt in einer Klassengesellschaft praktiziert wurde, da sie die Grundlage für eine relative politische Freiheit des Einzelnen bildet, welche die kapitalistische Demokratie kennzeichnet.
Dass der Markt funktioniert, beruht auf dem Wettbewerb vieler Einzelner, die ihre Waren auf dem Gebrauchswarenmarkt verkaufen wollen, so wie sie auch ihre Arbeitskraft und ihre Dienstleistungen auf dem Arbeits- und Personalmarkt verkaufen. Diese wirtschaftliche Notwendigkeit des Wettbewerbs führte besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterologisch gesehen zu einer immer stärkeren Wettbewerbshaltung. Die Menschen wurden von dem Wunsch getrieben, ihren Konkurrenten zu übertreffen, was eine völlige Umkehrung der für die Feudalzeit kennzeichnenden Einstellung bedeutete, wo jeder seinen traditionellen Platz in der Gesellschaftsordnung gehabt hatte und sich damit zufriedengeben musste. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Stabilität des mittelalterlichen Systems entwickelte sich eine bis dahin unerhörte gesellschaftliche Mobilität, in der alle um die besten Plätze kämpften, obwohl nur einige wenige Auserwählte sie errangen. In diesem allgemeinen Gerangel um Erfolg brachen die gesellschaftlichen und moralischen Regeln der menschlichen Solidarität zusammen. Das einzig Wichtige im Leben war, in diesem Wettlauf der Erste zu sein.
Ein weiterer Faktor, der die kapitalistische Produktionsweise bestimmt, ist der Profit, denn der Profit ist in diesem System das Ziel einer jeden wirtschaftlichen Aktivität. Nun ist aber um dieses „Profitmotiv“ des Kapitalismus herum beabsichtigt und unbeabsichtigt eine große Verwirrung angestiftet worden. Man sagt uns – und das mit Recht –, dass jede wirtschaftliche Tätigkeit nur dann sinnvoll sei, wenn sie zu einem Profit führt, das heißt, wenn wir bei der Produktion mehr verdienen, als wir hineingesteckt haben. Selbst in der vorkapitalistischen Zeit durfte der Handwerksmeister, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, für sein Rohmaterial und den Gesellenlohn nur weniger ausgeben, als er hinterher für sein Erzeugnis verlangte. In jeder Gesellschaft mit einer einfachen oder komplexen Industrie muss der Verkaufswert der Ware höher sein als die reinen Fertigungskosten, damit das Kapital bereitgestellt werden kann, das für neue Maschinen oder Werkzeuge, die zur Weiterentwicklung und Steigerung der Produktion benötigt werden, erforderlich ist. Aber es geht uns hier nicht um das Problem der Rentabilität der Produktion. Es geht uns darum, dass das Motiv für die Gütererzeugung nicht deren Nutzen für die Gesellschaft, nicht die Befriedigung des Arbeiters im Arbeitsprozess, sondern allein der Profit ist, den die Kapitalanlage abwirft. Ob sein Produkt für den Verbraucher von Nutzen ist, braucht den einzelnen Kapitalisten überhaupt nicht zu interessieren. Das heißt nicht, dass der Kapitalist psychologisch gesehen von einer unersättlichen Geldgier getrieben wird. Das kann der Fall sein oder auch nicht, doch ist es kein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise. Tatsächlich war in der früheren Phase des Kapitalismus die [IV-067] Habgier des Kapitalisten ein häufigeres Motiv als heute, wo die Eigentümer und die Manager eines Unternehmens weitgehend nicht mehr miteinander identisch sind und wo es weniger darum geht, höhere Profite zu erzielen als darum, das Unternehmen immer weiter auszudehnen und für ein reibungsloses Funktionieren zu sorgen.
Wie viel einer verdient, kann unter dem gegenwärtigen System völlig unabhängig von seiner persönlichen Anstrengung oder Leistung sein. Der Kapitaleigner kann verdienen, ohne zu arbeiten. Die der menschlichen Natur gemäße Funktion des Austauschs von Anstrengung gegen Lohn kann zur abstrakten Manipulation von Geld für noch mehr Geld werden. Das zeigt am deutlichsten der Fall, wo der Eigentümer eines Industrieunternehmens dort überhaupt nicht zugegen ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Unternehmen ihm ganz oder nur teilweise gehört. In jedem Fall hat er von seinem Kapital und von der Arbeit anderer den Profit, ohne sich selbst irgendwie anstrengen zu müssen. Für diesen Zustand hat man viele fromme Rechtfertigungen gefunden. So hat man gesagt, der Profit sei eine Entschädigung für das Risiko, das der Betreffende bei seiner Investition eingeht, oder dafür, dass er nur durch persönliche Verzichtleistungen das Kapital habe ansammeln können, das er dann investiert habe. Es bedarf jedoch kaum eines Beweises, dass diese peripheren Faktoren an der Grundtatsache nichts ändern, dass der Kapitalismus die Möglichkeit gibt, ohne persönliche Anstrengung und ohne eine produktive Funktion Gewinne zu erzielen. Aber selbst bei denen, die wirklich arbeiten und Dienstleistungen verrichten, steht das Einkommen in keinem Verhältnis zu der von ihnen aufgewendeten Mühe. So verdient zum Beispiel eine Lehrerin nur den Bruchteil des Einkommens eines Arztes, obwohl ihre gesellschaftliche Funktion ebenso wichtig ist und sie sich persönlich kaum weniger anstrengen muss. Der Grubenarbeiter verdient nur einen Bruchteil des Gehalts des Betriebsleiters der Kohlenmine, obwohl er härter arbeiten muss und mit seiner Arbeit größere Gefahren und Unbequemlichkeiten verbunden sind.
Kennzeichnend für die Einkommensverteilung im Kapitalismus ist das Missverhältnis zwischen der Schwere der Arbeit, die einer leistet, und der gesellschaftlichen Anerkennung, die ihm in Form einer finanziellen Entschädigung zugestanden wird. Dieses Missverhältnis würde in einer ärmeren Gesellschaft als der unseren zu größeren Extremen in Bezug auf Luxus und Armut führen, als unsere Moralbegriffe es zulassen. Mir geht es hier jedoch nicht um die materiellen Auswirkungen dieses Missverhältnisses, sondern um seine moralischen und psychologischen Folgen. Die eine Auswirkung ist die Unterbewertung der Arbeit, der menschlichen Anstrengung und Geschicklichkeit; die andere ist, dass, solange ich mit meiner Arbeit nur einen bestimmten Gewinn erringen kann, auch meine Wünsche sich in Grenzen halten. Steht dagegen mein Einkommen in keinem Verhältnis mehr zu meiner Arbeitsleistung, dann kennen auch meine Wünsche keine Grenzen mehr, weil ihre Erfüllung dann nur von den Gelegenheiten abhängt, die mir bestimmte Marktsituationen bieten, und nicht von meinen eigenen Fähigkeiten.[22] [IV-068]
Der Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts war ein wirklich privater Kapitalismus. Die Einzelnen erkannten und ergriffen neue Gelegenheiten, die sich ihnen boten, sie handelten ökonomisch, sie erfanden neue Methoden, sie erwarben Besitz, den sie sowohl für die Produktion als auch für den eigenen Verbrauch nutzten und an dem sie ihre Freude hatten. Diese Freude am Besitz ist neben der Lust am Wettbewerb und neben dem Profitstreben eines der grundlegenden Merkmale des Charakters der Mittel- und Oberklasse des neunzehnten Jahrhunderts. Es ist umso wichtiger, diese Freude am Besitz und an Ersparnissen nicht zu übersehen, weil sich der heutige Mensch darin deutlich von seinen Großvätern unterscheidet. Die Sucht nach Ersparnissen und nach Besitz ist tatsächlich zum wichtigsten Merkmal der rückständigsten Klasse, nämlich des unteren Mittelstandes geworden, und sie ist in Europa viel leichter zu finden als in Amerika. Wir haben hier ein Beispiel dafür, dass ein Zug des Gesellschafts-Charakters, der einmal für die fortgeschrittenste Klasse kennzeichnend war, im Prozess der ökonomischen Entwicklung gleichsam altmodisch wurde und nur von den Gruppen noch beibehalten wurde, die den geringsten Anteil am sozialen Aufstieg haben.
Charakterologisch ist die Freude an Besitz und Eigentum von Freud als ein wichtiger Aspekt des „analen Charakters“ beschrieben worden. Ich selbst gehe von einer anderen theoretischen Voraussetzung aus und habe das gleiche klinische Bild als „hortende Orientierung“ bezeichnet. Wie alle anderen Charakter-Orientierungen hat auch das Horten seine positiven und seine negativen Aspekte. Ob die positiven oder die negativen Aspekte dominieren, hängt von der relativen Stärke der produktiven Orientierung des Betreffenden bzw. des Gesellschafts-Charakters ab. Die positiven Aspekte dieser Orientierung, wie ich sie in Psychoanalyse und Ethik (1947a) beschrieben habe, sind folgende: Der Betreffende ist praktisch, sparsam, sorgsam, reserviert, vorsichtig, verlässlich, gelassen, ordentlich, überlegt und loyal. Die entsprechenden negativen Eigenschaften sind folgende: Er ist phantasielos, geizig, argwöhnisch, kalt, ängstlich, eigensinnig, träge, pedantisch, zwanghaft und besitzgierig. Es ist leicht einzusehen, dass im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, als die auf das Horten ausgerichtete Orientierung mit den Erfordernissen des wirtschaftlichen Fortschritts verzahnt war, die positiven Merkmale vorherrschten, während im zwanzigsten Jahrhundert, wo diese Züge die veralteten Merkmale einer veralteten Klasse sind, fast nur noch die negativen Aspekte übriggeblieben sind.
Der Zusammenbruch des traditionellen Prinzips menschlicher Solidarität führte zu neuen Formen der Ausbeutung. In der feudalen Gesellschaft nahm man an, dass der Feudalherr das von Gott gegebene Recht habe, von seinen Untertanen Dienst- und Sachleistungen zu verlangen. Gleichzeitig aber hatte er auch die herkömmliche Verpflichtung, dass er für seine Untertanen verantwortlich war, dass er sie beschützen und sie wenigstens mit dem Existenzminimum versehen musste, welches dem traditionellen Lebensstandard entsprach. Die feudale Ausbeutung spielte sich in einem System [IV-069] gegenseitiger menschlicher Verpflichtungen ab, wodurch sie gewissen Beschränkungen unterlag. Die Ausbeutung, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert entwickelte, war etwas wesentlich anderes. Der Arbeiter, oder vielmehr seine Arbeitskraft, war eine Ware, die der Kapitalbesitzer kaufte, die sich nicht wesentlich von irgendeiner anderen Ware auf dem Markt unterschied und die vom Käufer nach Kräften ausgenutzt wurde. Da sie auf dem Arbeitsmarkt zum angemessenen Preis gekauft wurde, war von einer wechselseitigen Beziehung oder von irgendeiner Verpflichtung von Seiten des Kapitalbesitzers über die Lohnzahlung hinaus nicht die Rede. Wenn Hunderttausende von Arbeitern arbeitslos und am Rande des Hungertodes waren, dann war das eben ihr Pech, die Folge ihrer mangelnden Begabung oder einfach ein soziales oder naturgegebenes Gesetz, an dem nichts zu ändern war. Die Ausbeutung war nichts Persönliches mehr, sondern sie war nun gleichsam etwas Anonymes geworden. Es war das Gesetz des Marktes, das einen Menschen dazu verdammte, für einen Hungerlohn zu arbeiten, und es war nicht die Absicht oder die Habgier eines Einzelnen daran schuld. Niemand war dafür verantwortlich und daher konnte auch niemand diese Situation ändern. Es handelte sich um die ehernen Gesetze der Gesellschaft – oder jedenfalls schien es so.
Im zwanzigsten Jahrhundert ist eine kapitalistische Ausbeutung der Art, wie sie im neunzehnten Jahrhundert üblich war, weitgehend verschwunden. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts genauso wie der des neunzehnten sich auf ein Prinzip gründet, das man in allen Klassengesellschaften findet: die Benutzung des Menschen durch den Menschen.
Da der moderne Kapitalist den Arbeiter „anstellt“, hat sich die soziale und politische Form dieser Ausbeutung geändert. Dagegen hat sich nicht geändert, dass der Kapitaleigner andere Menschen zum Zweck des eigenen Profits benutzt. Dieses Benutzen hat grundsätzlich nichts damit zu tun, ob die Menschen auf grausame oder auf nicht grausame Weise behandelt werden, sondern es geht um die fundamentale Tatsache, dass ein Mensch einem anderen zu Zwecken dient, die nicht seine eigenen, sondern die seines Arbeitgebers sind. Bei der Vorstellung, dass der Mensch vom Menschen benutzt wird, geht es noch nicht einmal darum, ob der eine Mensch einen anderen Menschen oder sich selbst benutzt. Die Tatsache ändert sich nicht dadurch, dass ein Mensch, ein lebendiges Wesen, kein Selbstzweck mehr ist, sondern dass er zum Mittel für die ökonomischen Interessen eines anderen oder auch für seine eigenen Interessen oder für die eines unpersönlichen Giganten, der Wirtschaftsmaschinerie, wird.
Gegen diese Feststellung liegen zwei Einwände auf der Hand. Der eine lautet, dass es dem Menschen ja freistehe, einen Arbeitsvertrag zu akzeptieren oder abzulehnen, und dass er daher ein freiwilliger Partner in dieser sozialen Beziehung mit seinem Arbeitgeber und kein „Ding“ sei. Aber dieser Einwand übersieht die Tatsache, dass dem Arbeiter erstens nichts anderes übrigbleibt, als auf die gegebenen Bedingungen einzugehen, und zweitens, dass er – selbst wenn er nicht gezwungen wäre, diese Bedingungen zu akzeptieren – trotzdem „angestellt“ wäre, das heißt, dass er für Zwecke benutzt würde, die nicht seine eigenen, sondern die des Kapitals sind, dessen Profit er dient.
Der andere Einwand lautet, dass das gesamte gesellschaftliche Leben, selbst in seiner [IV-070] primitivsten Form, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Kooperation und sogar an Disziplin erfordert, und dass in der komplexeren Form der industriellen Produktion der Einzelne ganz gewiss bestimmte notwendige und spezialisierte Funktionen zu erfüllen hat. Das trifft natürlich zu, aber man übersieht dabei den grundsätzlichen Unterschied: In einer Gesellschaft, in der niemand Macht über den anderen hat, erfüllt jeder seine Funktion auf der Grundlage der Kooperation und Gegenseitigkeit. Keiner kann einem anderen Befehle erteilen, insofern eine solche Beziehung sich lediglich auf Kooperation, auf Liebe, Freundschaft und natürliche Bindungen gründet. Tatsächlich gibt es das ja auch in vielen Situationen unserer heutigen Gesellschaft: Die normale Zusammenarbeit von Mann und Frau in ihrem Familienleben wird weitgehend nicht mehr von der Macht des Ehemannes über seine Frau bestimmt, der er Befehle erteilen kann, wie das in älteren Formen der patriarchalischen Gesellschaft der Fall war, sondern es herrscht das Prinzip der Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit. Das gleiche gilt für die Beziehung zwischen Freunden, insofern diese sich gegenseitig gewisse Dienste leisten und zusammenarbeiten. In diesen Beziehungen würde keiner auch nur im Traum daran denken, dem anderen etwas vorzuschreiben; der einzige Grund, weshalb man von ihm Hilfe erwartet, ist in dem gegenseitigen Gefühl von Liebe, Freundschaft oder einfach in der menschlichen Solidarität begründet. Dass ich einem anderen helfe, geschieht, weil ich mich als menschliches Wesen aktiv um seine Liebe, Freundschaft und Sympathie bemühe. Das ist in der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht der Fall. Der Arbeitgeber hat sich die Dienstleistungen des Arbeiters gekauft, und er mag ihn noch so menschlich behandeln, er wird ihm immer Befehle erteilen, und zwar nicht auf der Grundlage von Gegenseitigkeit, sondern weil er sich seine Arbeitszeit so und so viele Stunden täglich gekauft hat.
Die Benutzung des Menschen durch den Menschen ist Ausdruck des Wertsystems, das dem kapitalistischen System zugrunde liegt. Das Kapital, die tote Vergangenheit, stellt die Arbeitskraft – die lebendige Vitalität und Kraft der Gegenwart – für seine Zwecke an. In der kapitalistischen Hierarchie der Werte steht das Kapital höher als die Arbeitskraft; angehäufte Dinge stehen höher als die Manifestationen des Lebens. Das Kapital bedient sich der Arbeitskraft, und nicht die Arbeitskraft des Kapitals. Wer Kapital besitzt, befiehlt dem, der „nur“ sein eigenes Leben, seine menschliche Geschicklichkeit, seine Vitalität und seine kreative Produktivität besitzt. Die „Dinge“ werden höher bewertet als der Mensch. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeitskraft bedeutet viel mehr als der Konflikt zwischen zwei Klassen, viel mehr als deren Kampf um einen größeren Anteil am Sozialprodukt. Es handelt sich um den Konflikt zwischen zwei Wertprinzipien: zwischen der Welt der Dinge und ihrer Anhäufung und der Welt des Lebens und seiner Produktivität. (Vgl. R. M. Tawney, 1920, S. 99.)
Eng verwandt mit dem Problem der Ausbeutung und der Benutzung, wenngleich noch komplizierter, ist das Problem der Autorität beim Menschen des neunzehnten Jahrhunderts. Jedes Gesellschaftssystem, in dem eine Bevölkerungsgruppe von einer anderen beherrscht wird, muss sich – besonders wenn letztere eine Minderheit ist – auf ein starkes Gefühl der Autorität gründen, ein Gefühl, das in einer stark patriarchalischen Gesellschaft noch intensiver ist, wo vom männlichen Geschlecht [IV-071] angenommen wird, dass es dem weiblichen überlegen ist und es beherrschen soll. Da das Autoritätsproblem für unser Verständnis der menschlichen Beziehungen in jeder Art von Gesellschaft so ausschlaggebend ist und da sich die autoritäre Einstellung vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert grundlegend geändert hat, möchte ich die Diskussion dieses Problems damit beginnen, dass ich auf eine Unterscheidung hinweise, die ich in meinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a) getroffen habe und die mir immer noch gültig genug scheint, um als Grundlage für die folgenden Ausführungen zu dienen: Autorität ist nicht eine Eigenschaft, die jemand „hat“ in dem Sinn, wie er Eigentum oder körperliche Eigenschaften hat. Die Autorität bezieht sich auf eine zwischenmenschliche Beziehung, bei welcher der eine den anderen als jemand ansieht, der ihm überlegen ist. Aber es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer Art der Überlegenheits-Unterlegenheits-Beziehung, die man als rationale Autorität, und einer, die man als hemmende oder irrationale Autorität bezeichnen kann.
Ein Beispiel soll zeigen, was ich damit sagen will. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven basieren beide auf der Überlegenheit des einen über den anderen. Die Interessen von Lehrer und Schüler gehen in gleiche Richtung. Der Lehrer ist zufrieden, wenn es ihm gelingt, den Schüler zu fördern; gelingt es ihm nicht, dann ist er ebenso wie der Schüler gescheitert. Der Sklavenhalter dagegen möchte den Sklaven soviel wie möglich ausbeuten; je mehr er aus ihm herausholt, umso befriedigter ist er. Gleichzeitig versucht der Sklave sich, so gut er kann, wenigstens ein Minimum an Glück zu erkämpfen. Diese Interessen sind eindeutig entgegengesetzter Art, denn das, was dem einen von Vorteil ist, gereicht dem anderen zum Schaden. Die Überlegenheit besitzt in beiden Fällen eine unterschiedliche Funktion: Im ersteren Fall ist sie die Voraussetzung dafür, dass demjenigen, der der Autorität unterworfen ist, geholfen wird; im zweiten Fall ist sie die Voraussetzung für seine Ausbeutung.
Die Dynamik ist bei diesen beiden Arten der Autorität ebenfalls unterschiedlicher Art. Je mehr der Schüler lernt, umso mehr schließt sich die Kluft zwischen ihm und seinem Lehrer. Er wird dem Lehrer immer ähnlicher. Mit anderen Worten: Die rationale Autoritätsbeziehung hat die Tendenz sich aufzulösen. Dient die Überlegenheit dagegen als Grundlage für die Ausbeutung, so wird der Abstand auf die Dauer immer größer.