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Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch verdankt seine Entstehung einem politischen Engagement Fromms: Mit aller Kraft setzte er sich 1967 und 1968 für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Eugene McCarthy ein, in dem er einen Hoffnungsträger für eine grundlegende Wandel in der Politik sah.

Die Revolution der Hoffnung enthält Gedanken und Entwürfe für eine Neuorganisation von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Nirgendwo sonst schreibt Fromm so profund über „Hoffnung“ und die Fähigkeit zu glauben und zu hoffen.

Im 4. Kapitel „Was heißt es, menschlich zu sein?“ arbeitet Fromm jene Erfahrungen heraus, die nur dem Menschen eigen sind und so einen einmaligen Beitrag zu seinem Menschenbild darstellen. Der Untertitel des Buches deutet eine weitere Besonderheit an: Nur hier hat sich Fromm so ausführlich mit dem Doppelgesicht der Technik auseinandergesetzt. Hintergrund ist sein Konzept der Nekrophilie, des Angezogenseins von allem Nicht-Lebendigen, das die Nutzung der technischen Möglichkeiten statt der im Menschen selbst gründenden Möglichkeiten so attraktiv macht.

Schließlich spricht Fromm in Kapitel 5 von den „Schritten zur Humanisierung der technologischen Gesellschaft“. Er führt damit sein Konzept einer psychisch gesunden Gesellschaft fort, das er erstmals in Wege aus einer kranken Gesellschaft vorgestellt hat. In Die Revolution der Hoffnung trägt er der vor allem durch den technischen Fortschritt ermöglichten Bürokratisierung in Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung und zeigt die Dimensionen eines „humanisierten Konsums“ auf.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wer unter die Lebenden eingereiht ist,
der kann noch Hoffnung haben.
(Koh 9,4)

Vorwort zur Originalausgabe

Dieses Buch[1] soll eine Antwort auf die Situation der Vereinigten Staaten im Jahre 1968 sein. Es entspringt der Überzeugung, dass wir an einem Scheideweg stehen: Der eine Weg führt – wenn er nicht in die Vernichtung durch einen Atomkrieg führt – in eine völlig mechanisierte Gesellschaft, in der der Mensch nur ein hilfloses Rädchen in der Maschine ist; der andere Weg dagegen führt zu einer Renaissance des Humanismus und der Hoffnung – zu einer Gesellschaft, welche die Technik in den Dienst menschlichen Wohl-Seins (well-being) stellt[2].

Dieses Buch soll allen, die unser Dilemma noch nicht klar erkannt haben, zeigen, worum es geht, es will zum Handeln aufrufen. Es gründet sich auf die Überzeugung, dass wir die neuen Lösungen, die wir brauchen, nicht durch Irrationalität und Hass, sondern mit Hilfe unserer Vernunft und einer leidenschaftlichen Liebe zum Leben finden können. Es richtet sich an ein breites Spektrum von Lesern mit unterschiedlichen politischen und religiösen Vorstellungen, denen allen jedoch die Sorge um die Erhaltung des Lebens und die Achtung vor Vernunft und Realität gemeinsam ist.

Wie alle meine früheren Arbeiten, versucht auch dieses Buch zwischen individueller und gesellschaftlicher Wirklichkeit einerseits und jenen Ideologien andererseits zu unterscheiden, die sich wertvolle Ideen zunutze machen und zur Unterstützung des status quo missbrauchen. Den vielen aus der jungen Generation, die den Wert des traditionellen Denkens gering achten, möchte ich nachdrücklich meine Überzeugung entgegenhalten, dass selbst die radikalste Entwicklung ihre Kontinuität mit der Vergangenheit nicht verlieren darf; dass wir keine Fortschritte erreichen können, wenn wir die besten Errungenschaften des menschlichen Geistes wegwerfen – und dass jung sein allein nicht genügt!

Da dieses Buch sich mit Themen befasst, die ich in den letzten 40 Jahren schon in verschiedenen Werken behandelt habe, war es nicht zu vermeiden, auf bereits bekannte Gedanken zurückzukommen. Ich habe sie um das zentrale Problem der Alternativen zur Dehumanisierung neu geordnet. Doch enthält das Buch auch viele neue Ideen, die über meine früheren Überlegungen hinausgehen.

Da ich für einen breiten Leserkreis schreibe, habe ich mich bei den Zitaten auf ein Minimum beschränkt, doch habe ich alle Autoren zitiert, die mein Denken während [IV-258] der Arbeit an diesem Buch beeinflusst haben. Im allgemeinen nehme ich auch nicht auf eigene Veröffentlichungen Bezug, die für das hier behandelte Material eine unmittelbare Relevanz besitzen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Die Furcht vor der Freiheit (1941a), um Psychoanalyse und Ethik (1947a), Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) und Die Seele des Menschen (1964a).

Der allgemeine Ansatz des Buches entspricht der Eigenart des Problems, das ich in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen gestellt habe. Dagegen dürfte nichts einzuwenden sein, doch könnte es dem Leser gelegentlich einige Schwierigkeiten bereiten. Ich versuche nämlich zwei Problembereiche miteinander in Einklang zu bringen, die oft getrennt behandelt werden: einerseits die menschliche Charakterstruktur mit ihren Eigenschaften und Möglichkeiten und andererseits unsere heutigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme. Dabei ist die Betonung in jedem Abschnitt verschieden. Mein Hauptanliegen ist es jedoch, diese Erörterungen zu integrieren und miteinander zu verflechten. Dies geschieht aus der festen Überzeugung, dass eine realistische und erfolgversprechende Behandlung der Probleme der heutigen amerikanischen Gesellschaft nur möglich ist, wenn die Analyse unseres gesellschaftlichen Gesamtsystems das mit einschließt, was ich in diesem Buch als „das System Mensch“ bezeichne. Ich hoffe, dass meine Leser darauf so reagieren werden, dass sie ein „Schubladendenken“ überwinden und dass sie es nicht zu mühsam finden, meine Sprünge von der „Psychologie“ in die „Soziologie“ und in die „Politik“ und wieder zurück nachzuvollziehen.

Schließlich möchte ich mich noch bei Ruth Nanda Anshen, bei meiner Frau und bei Raymond G. Brown dafür bedanken, dass sie das Manuskript wiederholt gelesen und viele redaktionelle Vorschläge dazu gemacht haben. Raymond G. Brown verdanke ich außerdem noch viele wertvolle Anregungen in Fragen der Ökonomie. Mein besonderer Dank gilt auch meinen Verlegern, die es ermöglicht haben, dass das Buch bereits zehn Wochen nach Fertigstellung des Manuskripts erscheinen konnte.

E. F.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch ist eine revidierte Fassung der amerikanischen Originalausgabe, die ich vor fast zwei Jahren während der Kampagne von Senator Eugene McCarthy um die Präsidentschaftsnominierung geschrieben habe. Ich nahm an dieser Kampagne aktiv teil, weil ich hoffte, wenn McCarthy zum Präsidenten gewählt würde, würde die Politik der Vereinigten Staaten ihre Richtung ändern. Das ist nicht geschehen. Die Gründe des Fehlschlags sind zu verwickelt, um hier erörtert zu werden. Trotzdem bleibt die Tatsache bemerkenswert, dass ein Mann, der vorher kaum bekannt war, der das Gegenteil eines typischen Politikers ist, der es ablehnt, durch Sentimentalität oder Demagogie Stimmen zu gewinnen und der sich entschieden gegen den Krieg in Vietnam ausspricht, dass dieser Mann die Zustimmung und sogar die begeisterte Unterstützung eines großen Bevölkerungsteils gewinnen konnte – von der radikalen Jugend, den Hippies und den Intellektuellen bis zu den Liberalen der höheren Mittelklasse. Es war ein Kreuzzug, wie es ihn in Amerika noch nicht gegeben hatte, und es schien fast wie ein Wunder, dass dieser professorale Senator, dieser Freund der Poesie und Philosophie, ein ernsthafter Bewerber um die Präsidentschaft sein konnte. Dies bewies, dass ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung für eine Humanisierung bereit ist und darauf wartet.

Die Niederlage McCarthys, der Sieg von Nixon, die Fortsetzung des Vietnam-Kriegs und die Zunahme konservativ-reaktionärer Tendenzen in den Vereinigten Staaten haben den Geist der Hoffnung geschwächt, der im Sommer 1968 so offen zutage getreten war, aber sie haben ihn keineswegs vernichtet. Die Demonstration von rund 500 000 Menschen, die in Washington gegen den Vietnam-Krieg protestierten, war nur eines der Anzeichen, dass die Hoffnung und der Wille zur Veränderung noch lebendig sind. Und die Reaktion weiter Kreise auf die Gefahren der Umweltverseuchung ist ein zweites Anzeichen, dass die Sorge um das Leben in einem großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit immer noch stark ist.

Für die Veröffentlichung dieses Buches auf Deutsch brauchte nichts Wesentliches verändert zu werden. Es wurde zwar in erster Linie im Blick auf amerikanische Verhältnisse geschrieben, doch betrachtet es die amerikanische Gesellschaft als eine Ausprägung der europäisch-nordamerikanischen technischen Gesellschaften, die alle [IV-260] grundsätzlich denselben Problemen gegenüberstehen. Trotzdem hielt ich es für nötig, die Originalausgabe in zweierlei Hinsicht zu revidieren. Erstens habe ich im letzten Kapitel einige Passagen gestrichen, die sich speziell auf die Vereinigten Staaten beziehen und für die Leser in anderen Ländern von geringem Interesse sind. Zweitens habe ich versucht, das letzte Kapitel nicht nur durch Streichungen zu straffen, sondern auch einige Überlegungen deutlicher auszudrücken, als sie nach meiner Ansicht in der Originalausgabe formuliert waren, die etwas in Eile entstand.[3]

Im Gegensatz zu meinen früheren Werken sollte dieses Buch nicht so sehr neue theoretische Vorstellungen entwickeln, sondern Vorstellungen neu ordnen, mit denen ich mich früher auf akademischere Weise beschäftigt hatte; es appelliert an die Liebe zum Leben (Biophilie), die in vielen von uns noch vorhanden ist. Nur durch ein klares Bewusstsein der Gefahren, die dem Leben drohen, kann dieses Potenzial zu Handlungen mobilisiert werden, die drastische Änderungen unserer gesellschaftlichen Organisation herbeiführen könnten. Ich mache mir keine Illusionen über die Erfolgsaussichten; aber ich glaube, dass man so lange nicht in Prozentsätzen und Wahrscheinlichkeiten denken kann, wie noch eine reale – wenn auch winzige – Möglichkeit besteht, dass sich das Leben behaupten wird.

E. F.

1. Am Scheideweg

In unserer Mitte geht ein Gespenst um, das nur wenige deutlich sehen. Es ist nicht der alte Geist des Kommunismus oder des Faschismus. Es ist ein neues Gespenst: eine völlig mechanisierte Gesellschaft, die sich der maximalen Produktion und dem maximalen Konsum verschrieben hat und von Computern gesteuert wird. In diesem gesellschaftlichen Prozess verwandelt sich der Mensch selbst in einen zwar gut geölten und instand gehaltenen, aber untätigen, unlebendigen und gefühlsarmen Teil der Gesamtmaschinerie. Mit dem Sieg der neuen Gesellschaft werden Individualismus und Privatleben verschwinden. Das Mitgefühl mit anderen wird mit Hilfe psychologischer Konditionierung und anderer derartiger Methoden oder auch mit Hilfe von Drogen, die gleichzeitig eine neue Art der introspektiven Erfahrung vermitteln, organisiert werden. Zbigniew Brzezinski meint dazu: „In der technotronen Gesellschaft scheint ein Trend zu bestehen, den individuellen Lebensunterhalt von Millionen unkoordinierter Bürger anzuhäufen, die von Persönlichkeiten mit besonderer Anziehungskraft mit Leichtigkeit in ihr Magnetfeld gezogen werden können, indem diese die neuesten Kommunikationstechniken zur Manipulation der Gefühle und zur Kontrolle der Vernunft ausbeuten.“ (1968, S. 19) In Romanform wurde diese neue Gesellschaft von George Orwell in 1984 (G. Orwell, 1949) und von Aldous Huxley in Brave New World (1946) vorausgesagt.

Das Bedrohlichste daran ist gegenwärtig, dass wir offenbar im Begriff sind, die Kontrolle über unser eigenes System zu verlieren. Wir führen nur noch die Entscheidungen aus, welche unsere Computer mit ihren Berechnungen für uns treffen. Als menschliche Wesen haben wir keine anderen Ziele als immer mehr zu produzieren und zu konsumieren. Es gibt nichts, was wir wollen, und auch nichts, was wir nicht wollen. Wir sind bedroht von der Vernichtung durch Atomwaffen und wir sind in Gefahr, innerlich abzusterben durch unser Untätigsein, das daher rührt, dass wir keine verantwortlichen Entscheidungen mehr zu treffen haben.

Wie aber ist es dazu gekommen, dass der Mensch auf der Höhe seines Sieges über die Natur zum Gefangenen seiner eigenen Schöpfung wurde und ernsthaft in Gefahr ist, sich selbst zu vernichten?

Auf seiner Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit erwarb der Mensch Kenntnisse, [IV-262] die er zur Beherrschung der Natur nutzen konnte. Er hatte dabei ungeheure Erfolge. Aber durch die einseitige Betonung der Technik und des materiellen Konsums büßte der Mensch den Kontakt mit sich selbst und mit dem Leben ein.

Nachdem ihm sein religiöser Glaube und mit ihm die humanistischen Werte abhanden gekommen waren, konzentrierte er sich ganz auf technische und materielle Werte und verlor damit die Fähigkeit zu tiefen emotionalen Erfahrungen, zur Freude und zur Trauer, die damit Hand in Hand gehen. Die von ihm konstruierte Maschine gewann eine solche Macht, dass sie ihr eigenes Programm entwickelte, welches nun das Denken des Menschen beherrscht.

Gegenwärtig ist eines der schwersten Krankheitssymptome unseres Systems darin zu sehen, dass unsere Wirtschaft ganz auf der Waffenproduktion (und der Instandhaltung des gesamten Verteidigungsapparates) sowie auf dem Prinzip des maximalen Konsums beruht. Wir haben ein gut funktionierendes Wirtschaftssystem unter der Bedingung, dass wir Güter produzieren, die uns mit physischer Vernichtung bedrohen, dass wir den Einzelnen in einen völlig passiven Verbraucher verwandeln und damit abtöten und dass wir eine Bürokratie geschaffen haben, die dem Einzelnen das Gefühl der Machtlosigkeit gibt.

Stehen wir hier vor einem tragischen, unlösbaren Dilemma? Müssen wir kranke Menschen produzieren, um eine gesunde Wirtschaft zu haben, oder können wir unsere Bodenschätze, unsere Erfindungen, unsere Computer zum Nutzen des Menschen einsetzen? Muss der Einzelne passiv und abhängig sein, um mächtige und gut funktionierende Organisationen zu besitzen?

Auf diese Fragen gibt es verschiedene Antworten. Zu denen, die erkennen, welche revolutionären und drastischen Veränderungen im menschlichen Leben die „Megamaschine“ mit sich bringen könnte, gehören Autoren, die sagen, die neue Gesellschaft sei unvermeidlich, und es habe daher keinen Sinn, über ihren Wert oder Unwert zu streiten. Gleichzeitig sympathisieren sie mit der neuen Gesellschaft, wenn sie auch ein leichtes Unbehagen darüber äußern, was diese dem Menschen, so wie wir ihn kennen, vielleicht antun könnte. Zbigniew Brzezinski und Herman Kahn sind Vertreter dieser Einstellung. Am anderen Ende des Spektrums steht Jacques Ellul, der in seiner La Technique ou L’Enjeu du siècle (1954) die neue Gesellschaft, auf die wir zutreiben, und ihren destruktiven Einfluss auf den Menschen sehr eindrucksvoll beschreibt. Er sieht das Gespenst in seiner ganzen schrecklichen Unmenschlichkeit. Er kommt zu dem Schluss, dass die neue Gesellschaft zwar nicht gewinnen muss, aber aller Wahrscheinlichkeit nach gewinnen wird. Doch hält er es immer noch für möglich, dass die dehumanisierte Gesellschaft nicht Sieger werden wird, „wenn sich immer mehr Menschen voll bewusst werden, welche Bedrohung diese technologische Welt für das persönliche und geistige Leben des Menschen bedeutet, und wenn sie entschlossen sind, ihre Freiheit dadurch zu behaupten, dass sie dieser Entwicklung Einhalt gebieten“ (J. Ellul, 1954, Einleitung).

Lewis Mumford vertritt eine ähnliche Auffassung wie Ellul. In seinem tiefgründigen, glänzend geschriebenen Buch The Myth of the Machine (1967) beschreibt er die „Megamaschine“ und schildert zunächst ihre ersten Formen in der ägyptischen und in der babylonischen Gesellschaft. Aber im Gegensatz zu den eben erwähnten [IV-263] Autoren, die das Gespenst entweder mit Sympathie oder mit Entsetzen wahrnehmen, sehen die meisten Menschen von heute gar kein Gespenst, mögen sie zur Spitze des Establishments gehören oder Durchschnittsbürger sein. Sie halten noch an dem altmodischen Glauben des neunzehnten Jahrhunderts fest, die Maschine werde dem Menschen seine Last erleichtern, sie sei nur ein Mittel zum Zweck. Sie sehen nicht die Gefahr, dass die Technik, wenn man sie ihrer eigenen Logik folgen lässt, zu einer krebsartigen Wucherung wird, die schließlich das strukturierte System des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bedrohen wird. Die hier in diesem Buch vertretene Auffassung (es ist die gleiche wie in Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, und in Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a) entspricht im Prinzip der von Mumford und Ellul. Vielleicht unterscheidet sie sich insofern, als ich eine etwas größere Möglichkeit sehe, unser Gesellschaftssystem wieder unter die Kontrolle des Menschen zu bringen. Meine diesbezüglichen Hoffnungen gründen sich auf folgende Faktoren:

  1. Unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem lässt sich weit besser verstehen, wenn wir das System „Mensch“ mit dem Gesamtsystem in Verbindung bringen. Die menschliche Natur ist keine Abstraktion und auch kein unendlich formbares und daher in seiner Dynamik unwesentliches System. Sie besitzt ihre eigenen spezifischen Eigenschaften, Gesetze und Alternativen. Durch die Untersuchung des Systems Mensch können wir ein Bild davon gewinnen, wie sich bestimmte Faktoren im sozio-ökonomischen System auf den Menschen auswirken und wie Störungen im System Mensch das gesamte Gesellschaftssystem aus dem Gleichgewicht bringen. Wenn wir den Faktor „Mensch“ in der Analyse des Gesamtsystems mitberücksichtigen, sind wir besser in der Lage, seine Funktionsstörungen zu verstehen und Normen aufzustellen, die das gesunde wirtschaftliche Funktionieren des Gesellschaftssystems mit dem optimalen Wohl-Sein der Menschen in ihm verbinden. All dies gilt natürlich nur, wenn wir uns darüber einig sind, dass die maximale Entwicklung des menschlichen Systems im Sinne seiner eigenen Struktur – das heißt des menschlichen Wohl-Seins – das höchste Ziel ist.
  2. Hinzu kommen die wachsende Unzufriedenheit mit unserer gegenwärtigen Lebensweise, mit ihrem Untätigsein (passiveness) und ihrer stummen Langeweile, mit ihrem Mangel an Privatleben und ihrer Entpersönlichung, und die Sehnsucht nach einem frohen, sinnvollen Leben, das jene spezifischen Bedürfnisse des Menschen befriedigt, die er in den letzten Jahrtausenden seiner Geschichte entwickelt hat und die ihn vom Tier wie auch vom Computer unterscheiden. Diese Tendenz ist vor allem deshalb so stark, weil der wohlhabende Teil der Bevölkerung bereits die volle materielle Befriedigung ausgekostet und gemerkt hat, dass das Verbraucherparadies nicht die verheißene Glückseligkeit bringt. (Natürlich haben die Armen noch nicht die Chance gehabt, es selbst herauszufinden, aber sie konnten immerhin beobachten, dass diejenigen, die „alles haben, was das Herz begehrt“, auch nicht froh sind.)

Ideologien und Vorstellungen haben viel von ihrer Anziehungskraft verloren; traditionelle Klischees wie „rechts“ und „links“ oder „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ haben ihre Bedeutung eingebüßt. Die Menschen suchen eine neue Orientierung, eine neue Philosophie, eine Orientierung, in deren Mittelpunkt das Leben – physisch und geistig – und nicht der Tod Vorrang hat. [IV-264]

In den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt ist eine wachsende Polarisierung zu beobachten: Auf der einen Seite stehen die, welche sich von der Gewalt, von „Gesetz und Ordnung“, von bürokratischen Methoden und letzten Endes vom Leblosen angezogen fühlen, auf der anderen Seite stehen die mit einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, nach neuen Einstellungen anstelle der vorgefertigten Pläne und Raster. Bei dieser neuen Front handelt es sich um eine Bewegung, die sowohl tiefgreifende Veränderungen in unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis wie auch Veränderungen in unserer seelischen und geistigen Lebenseinstellung verlangt. Ganz allgemein ist ihr Ziel die Aktivierung des Einzelnen, die Wiederherstellung der Kontrolle des Menschen über das Gesellschaftssystem und die Humanisierung der Technik. Es ist eine Bewegung im Namen des Lebens, und sie hat eine so breite gemeinsame Basis, weil die Bedrohung des Lebens heute nicht nur eine einzelne Klasse oder eine einzelne Nation, sondern uns alle trifft.

In den folgenden Kapiteln will ich versuchen, einige der hier skizzierten Probleme ausführlich zu diskutieren, besonders jene, die es mit der Beziehung zwischen der menschlichen Natur und dem sozio-ökonomischen System zu tun haben.

Zuvor ist jedoch noch ein Punkt zu klären: Es herrscht heute eine weit verbreitete Hoffnungslosigkeit in Bezug auf die Möglichkeit, den eingeschlagenen Kurs noch zu ändern. Diese Hoffnungslosigkeit ist in der Hauptsache unbewusst, während die Menschen bewusst „optimistisch“ sind und auf weiteren „Fortschritt“ hoffen. Der Diskussion der gegenwärtigen Situation und ihres Hoffnungs-Potenzials sollte daher eine Erörterung des Phänomens Hoffnung vorausgehen.

2. Hoffnung

a) Was Hoffnung nicht ist

Hoffnung ist ein entscheidendes Element eines jeden Versuchs, eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung auf eine größere Lebendigkeit, größere Bewusstheit und mehr Vernunft herbeizuführen. Aber das Wesen der Hoffnung wird oft missverstanden und mit Einstellungen verwechselt, die mit Hoffnung nichts zu tun haben, ja ihr genaues Gegenteil sind.

Was heißt hoffen?

Heißt es, wie viele meinen, Begierden und Wünsche haben? Wenn das stimmte, dann wären die, welche mehr und bessere Autos, Häuser und Geräte haben möchten, Menschen der Hoffnung. Aber sie sind es nicht; sie sind Menschen, die es nach mehr Konsum gelüstet, sie sind keine Menschen der Hoffnung.

Kann man von Hoffnung sprechen, wenn der Gegenstand der Hoffnung kein Ding, sondern ein erfüllteres Leben, ein Zustand größerer Lebendigkeit, eine Befreiung von der ewigen Langeweile ist, oder wenn es, theologisch gesprochen, um eine Hoffnung auf Erlösung oder, politisch gesprochen, um Hoffnung auf Revolution geht? Tatsächlich können derartige Erwartungen Hoffnungen sein. Aber es handelt sich um Nicht-Hoffnung, wenn man damit ein Untätigsein meint, wenn man auf etwas wartet – und die Hoffnung in Wirklichkeit zu einem Deckmantel der Resignation, zu einer bloßen Ideologie wird.

Kafka hat diese Art der resignierten, untätigen Hoffnung sehr schön in seiner Parabel Vor dem Gesetz beschrieben. Ein Mann kommt zur Tür, die in den Himmel (zum Gesetz) führt, und bittet den Türhüter um Einlass. Der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Obwohl das Tor zum Gesetz offensteht, entschließt sich der Mann, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. So sitzt er da und wartet tage- und jahrelang. Er bittet immer wieder, eingelassen zu werden, aber er erhält stets zur Antwort, jetzt könne ihm der Eintritt noch nicht gewährt werden. Während all der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen und kennt schließlich sogar die Flöhe in seinem Pelzkragen. Schließlich ist er alt und dem Tode nahe. Jetzt stellt er zum ersten Mal die Frage: „Wie [IV-266] kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter antwortet: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ (F. Kafka, 1969, S. 434.)

Der alte Mann war zu alt, um das zu begreifen, und vielleicht hätte er es auch nicht verstanden, wenn er jünger gewesen wäre. Die Bürokraten behalten immer das letzte Wort; wenn sie nein sagen, kann er nicht hinein. Wenn er eine stärkere Hoffnung gehabt hätte als diese untätige, abwartende Hoffnung, wäre er hineingegangen, und sein Mut, die Bürokraten nicht zu beachten, wäre die befreiende Tat gewesen, die ihn in den schimmernden Palast hineingetragen hätte. Viele Menschen sind wie Kafkas alter Mann. Sie hoffen zwar, aber es ist ihnen nicht gegeben, nach dem Impuls ihres Herzens zu handeln, und solange die Bürokraten kein grünes Licht geben, warten und warten sie. (Bezeichnenderweise bedeutet das spanische Wort esperar sowohl „warten“ als auch „hoffen“ und bezieht sich deutlich auf die besondere Art der untätigen Hoffnung, die ich hier zu beschreiben versuche.)

Diese Art der untätigen Hoffnung ist eng verwandt mit einer allgemeinen Form von Hoffnung, die man als ein Hoffen auf (kommende) Zeit definieren könnte. Die Zeit und die Zukunft werden zur zentralen Kategorie bei dieser Art von Hoffnung. Man erwartet nicht, dass im Jetzt etwas geschieht, man hofft auf den nächsten Augenblick, auf den nächsten Tag, auf das nächste Jahr oder auf eine andere Welt, wenn es allzu absurd wäre zu glauben, die Hoffnung könne in dieser Welt Wirklichkeit werden. Hinter diesem Glauben steht die Vergötzung der „Zukunft“, der „Geschichte“ und der „Nachwelt“, die in der Französischen Revolution mit Männern wie Robespierre begann, der die Zukunft als Göttin verehrte: Ich tue selbst nichts, ich bleibe untätig, weil ich nichts bin und zu nichts fähig bin; aber die Zukunft, die Projektion der Zeit, wird das vollbringen, was ich nicht erreichen kann. Diese Verehrung der Zukunft, die nur ein anderer Aspekt der Verehrung des Fortschritts im Denken der modernen Bourgeoisie ist, ist genau die Entfremdung der Hoffnung. Anstatt dass ich etwas tue oder etwas werde, bringen die Idole der Zukunft und der Nachwelt ohne mein Zutun etwas zustande.[4]

Während das untätige Abwarten eine verkappte Form der Hoffnungslosigkeit und Impotenz ist, gibt es noch eine andere Form der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich einer genau entgegengesetzten Verkleidung bedient: Sie verkleidet sich als Phrasendrescherei und Abenteuerlust und scheint der Wirklichkeit zu spotten und das herbeizuzwingen, was sich nicht herbeizwingen lässt. Es war dies die Haltung derer, die als falscher Messias auftraten, und der Putschisten, die alle jene verachten, welche nicht unter allen Umständen den Tod der Niederlage vorzogen. Auch heute [IV-267] ist die pseudo-radikale Verkleidung der Hoffnungslosigkeit und des Nihilismus nicht selten gerade unter den engagiertesten Mitgliedern der jungen Generation anzutreffen. Sie erwecken Sympathie durch ihre Unerschrockenheit und ihr Engagement, aber sie können nicht überzeugen, weil es ihnen an Realitätsbewusstsein, am Gefühl für Strategie und gelegentlich auch an der Liebe zum Leben fehlt.[5]

b) Das Paradoxe und das Wesen der Hoffnung

Hoffnung ist paradox. Sie ist weder ein untätiges Warten noch ein unrealistisches Herbeizwingenwollen von Umständen, die nicht eintreffen können. Sie gleicht einem kauernden Tiger, der erst losspringt, wenn der Augenblick zum Springen gekommen ist. Weder ein müder Reformismus noch ein pseudo-radikales Abenteurertum sind ein Ausdruck von Hoffnung. Hoffen heißt, jeden Augenblick bereit sein für das, was noch nicht geboren ist, und trotzdem nicht verzweifeln, wenn es zu unseren Lebzeiten nicht zur Geburt kommt. Es hat keinen Sinn, auf etwas zu hoffen, was bereits existiert oder was nicht sein kann: Wer nur eine schwache Hoffnung hat, entscheidet sich für das Bequeme oder für die Gewalt. Wer eine starke Hoffnung hat, erkennt und liebt alle Zeichen neuen Lebens und ist jeden Augenblick bereit, dem, was bereit ist geboren zu werden, ans Licht zu helfen. [IV-268]

Einer der Hauptgründe, dass eine solche Verwirrung über den Begriff der Hoffnung herrscht, ist der, dass man nicht zwischen bewusster und unbewusster Hoffnung unterscheidet. Dieser Irrtum zeigt sich natürlich auch in Bezug auf viele andere emotionale Erfahrungen wie Glück, Angst, Depression, Langeweile und Hass. Es ist erstaunlich, dass trotz der Popularität von Freuds Theorien sein Begriff des Unbewussten so wenig auf derartige emotionale Phänomene angewandt wird. Es dürfte hierfür zwei Hauptgründe geben. Der eine ist der, dass in den Schriften einiger Psychoanalytiker und gewisser „Philosophen der Psychoanalyse“ das gesamte Phänomen des Unbewussten – das heißt der Verdrängung – sich auf sexuelle Wünsche bezieht, und dass sie den Begriff der Verdrängung irrtümlicherweise als gleichbedeutend mit einer Unterdrückung der sexuellen Wünsche und Aktivitäten auffassen. Auf diese Weise berauben sie Freuds Entdeckungen einiger höchst wichtiger Konsequenzen. Der zweite Grund dürfte darin zu suchen sein, dass es für die nach-viktorianischen Generationen weit weniger beunruhigend ist, sich ihrer verdrängten sexuellen Wünsche bewusst zu werden als solcher Erfahrungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Gier. Um nur eines der augenfälligsten Beispiele anzuführen: Die meisten Menschen gestehen es sich selbst nicht ein, dass sie Gefühle von Angst, Langeweile, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit haben, das heißt, diese Gefühle sind für sie unbewusst.[6] Hierfür gibt es einen einfachen Grund. Unser gesellschaftliches Vorbild ist so beschaffen, dass der Erfolgreiche keine Angst haben und er sich nicht gelangweilt oder einsam fühlen darf. Er muss diese Welt für die beste aller Welten halten. Um die beste Chance für ein Vorwärtskommen zu haben, muss er seine Angst genauso wie seine Zweifel, seine Depression, seine Langeweile oder seine Hoffnungslosigkeit verdrängen.

Es gibt viele, die sich bewusst hoffnungsvoll und unbewusst hoffnungslos fühlen. Nur für wenige trifft das Umgekehrte zu. Bei der Untersuchung der Hoffnung und der Hoffnungslosigkeit geht es nicht primär darum, was die Menschen über ihre Gefühle denken, sondern darum, was sie wirklich fühlen. Das lässt sich am wenigsten leicht an ihren Worten und Phrasen erkennen, aber man kann es an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, an der Art wie sie gehen, an ihrer Fähigkeit, interessiert auf etwas zu reagieren, was sich vor ihren Augen abspielt, und auch daran, dass sie keine Fanatiker sind, was sich darin zeigt, dass sie fähig sind, sich vernünftige Argumente anzuhören.

Der dynamische Standpunkt, von dem aus wir in diesem Buch die sozialpsychologischen Probleme betrachten, unterscheidet sich grundlegend von dem, den die deskriptiven Behavioristen meistens in ihren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen einnehmen. Bei einer dynamischen Betrachtung interessieren wir uns nicht in erster Linie dafür, was jemand denkt oder sagt oder wie er sich jetzt, in diesem Augenblick, verhält. Wir interessieren uns vielmehr für seine Charakterstruktur – das heißt für die relativ gleichbleibende Struktur seiner Energien, für die Richtungen, in die sie gelenkt werden, und für die Intensität, mit der sie strömen. Wenn wir die Triebkräfte [IV-269] kennen, die das Verhalten eines Menschen motivieren, dann verstehen wir nicht nur sein gegenwärtiges Verhalten, sondern wir können auch vernünftige Vermutungen darüber anstellen, wie er sich unter veränderten Umständen verhalten würde. Vom dynamischen Standpunkt aus würde man auch überraschende „Veränderungen“ im Denken oder im Verhalten eines Menschen meist voraussehen, wenn man seine Charakterstruktur kennen würde.

Es ließe sich noch mehr darüber sagen, was Hoffnung nicht ist, aber gehen wir weiter und fragen wir, was Hoffnung ist. Lässt sie sich überhaupt in Worten beschreiben, oder kann man sie nur in einem Gedicht, in einem Lied, in einer Geste, einem Gesichtsausdruck oder einer Handlung zum Ausdruck bringen?

Wie das auch für alle anderen menschlichen Erfahrungen gilt, so sind Worte zur Beschreibung dieser Erfahrung unzureichend. Tatsächlich bewirken ja Worte meist das Gegenteil: Sie verdunkeln, sie sezieren und töten ab. Nur allzu oft verliert man im Prozess des Redens über Liebe, Hass oder Hoffnung den Kontakt mit dem, worüber man eigentlich reden sollte. Dichtung, Musik und andere Formen der Kunst sind die bei weitem am besten geeigneten Medien zur Beschreibung menschlicher Erfahrungen, denn sie sind präzis und nicht so abstrakt und vage wie die abgegriffenen Münzen, die man für adäquate Darstellungen menschlicher Erfahrungen nimmt.

Doch selbst wenn man diese Einschränkung ernst nimmt, muss man doch einräumen, dass es nicht unmöglich ist, auch mit Worten, die keine Poesie sind, an gefühlsmäßige Erfahrungen heranzukommen. Dies wäre nicht möglich, wenn die anderen Menschen nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade die Erfahrungen mit uns teilten, von denen wir sprechen. Eine Erfahrung beschreiben, heißt auf ihre verschiedenen Aspekte hinweisen und auf diese Weise eine Kommunikation aufbauen, bei der Autor wie Leser wissen, dass es beiden um das gleiche Erlebnis geht. Wenn ich nun diesen Versuch mache, muss ich den Leser bitten, mit mir zusammenzuarbeiten und nicht von mir zu erwarten, dass ich ihm eine Antwort auf die Frage gebe, was Hoffnung ist. Ich muss ihn bitten, seine eigenen Erfahrungen zu mobilisieren, um unseren Dialog möglich zu machen.

Hoffen ist ein Zustand des Seins. Es ist eine innere Bereitschaft, die Bereitschaft zu einem intensiven, aber noch unverbrauchten Tätigsein.[7] Unsere Vorstellung von „Aktivität“ beruht auf einer der verbreitetsten Illusionen in unserer modernen Industriegesellschaft. Unsere gesamte Kultur ist auf Aktivität geschaltet – auf Aktivität im Sinn von geschäftig sein, im Sinne der Geschäftigkeit, die man braucht, um Geschäfte zu machen. Tatsächlich sind die meisten Menschen so „aktiv“, dass sie es nicht ertragen können untätig zu sein; selbst ihre sogenannte Freizeit verwandeln sie noch [IV-270] in eine andere Form der Aktivität. Falls diese sich nicht auf das Geldverdienen bezieht, verwenden sie sie darauf, mit dem Wagen herumzufahren, Golf zu spielen oder auch nur dummes Zeug zu reden. Wovor sie sich fürchten, ist der Augenblick, wo sie wirklich nichts „zu tun haben“. Ob man dieses Verhalten als Aktivität bezeichnet, ist eine Frage der Terminologie. Das Schlimme dabei ist nur, dass die meisten, die sich für sehr aktiv halten, nicht merken, dass sie in Wirklichkeit trotz ihrer „Geschäftigkeit“ außerordentlich untätig sind. Sie brauchen ständig einen Anstoß von außen: das Geschwätz anderer Leute oder den Anblick eines Films oder eine Reise oder auch andere, noch nervenaufpeitschendere Anregungen, auch wenn es sich nur um einen anderen Mann oder eine andere Frau als Sexualpartner handelt. Sie brauchen jemand, der ihnen das Stichwort gibt, der sie „ankurbelt“, sie verlockt und verführt. Immerzu sind sie am Laufen, und nie stehen sie still. Immer wieder „fallen sie auf etwas herein“, und nie richten sie sich zu etwas auf. Dabei halten sie sich für ungeheuer aktiv, während sie von dem Zwang getrieben werden, etwas zu tun, um der Angst zu entgehen, die sie erfassen würde, wenn sie sich mit sich selbst konfrontiert sähen.

Hoffnung ist eine psychische Begleiterscheinung von Leben und Wachstum. Wenn ein Baum, der keine Sonne bekommt, seinen Stamm der Sonne zudreht, können wir nicht sagen, dass der Baum genauso „hofft“, wie das ein Mensch tut, da die Hoffnung beim Menschen mit Gefühlen und mit Bewusstsein verbunden ist, die der Baum wohl nicht besitzt. Und doch wäre es nicht falsch zu sagen, dass der Baum auf Sonne hofft und dass er diese Hoffnung dadurch zum Ausdruck bringt, dass er seinen Stamm der Sonne zudreht. Ist es denn etwas anderes bei dem Kind, das geboren wird? Es nimmt vielleicht noch nichts wahr und doch drückt sich in seiner Aktivität seine Hoffnung aus, geboren zu werden und selbständig atmen zu können. Hofft der Säugling nicht auf die Brust seiner Mutter? Hofft das Kleinkind nicht, aufrecht stehen und laufen zu können? Hofft der Kranke nicht, gesund zu werden, hofft der Gefangene nicht, frei zu werden, der Hungrige nicht, etwas zu essen zu bekommen? Hoffen wir nicht, am nächsten Tag wieder aufzuwachen, wenn wir abends einschlafen? Kommt im Liebesakt nicht die Hoffnung des Mannes auf seine Potenz und seine Fähigkeit, seine Partnerin zu erregen, zum Ausdruck, und bei der Frau nicht ihre Hoffnung, darauf eingehen und ihn ihrerseits erregen zu können?

c) Glaube

Wenn die Hoffnung aufhört, ist das Leben tatsächlich oder potenziell zu Ende. Die Hoffnung ist ein dem Leben selbst innewohnendes Element. Sie ist Ausdruck der Dynamik des menschlichen Geistes. Sie steht in engem Zusammenhang mit einem anderen Element des Lebens: mit dem Glauben. Der Glaube ist nicht eine schwache Form des Fürwahrhaltens oder des Wissens. Es geht nicht um den Glauben an dieses oder jenes. Glauben heißt, von etwas noch nicht Bewiesenem überzeugt sein, ist ein Wissen um die realen Möglichkeiten, bedeutet sozusagen einer „Schwangerschaft“ gewahr zu werden. Glaube ist dann rational, wenn es sich dabei um das Wissen um das Wirkliche, aber noch Ungeborene handelt. Er gründet sich auf ein Wissen und Verstehen, [IV-271] das unter die Oberfläche dringt und den Kern wahrnimmt. Der Glaube ist wie die Hoffnung keine Voraussage der Zukunft; er ist vielmehr die Vision der Gegenwart im Zustand der Schwangerschaft.

Die Behauptung, dass Glaube Gewissheit sei, bedarf einer Qualifizierung. Es handelt sich um die Gewissheit hinsichtlich der Realität einer Möglichkeit – nicht aber um eine Gewissheit im Sinne einer zweifelsfreien Voraussagbarkeit. Das Kind kommt vielleicht zu früh, als Totgeburt auf die Welt; es kann bei der Geburt sterben; es kann in den ersten beiden Wochen nach seiner Geburt sterben. Das ist das Paradoxe am Glauben, dass er die Gewissheit des Ungewissen ist. (Im Hebräischen bedeutet das Wort für „Glaube“ [emunah] so viel wie „Gewissheit“, und das Amen heißt „gewiss“.) Glaube ist die Gewissheit der Vision und des Verstehens und nicht die Gewissheit hinsichtlich eines ganz bestimmten Endergebnisses. Wir brauchen keinen Glauben an das, was sich wissenschaftlich voraussagen lässt, und es kann auch keinen Glauben an das geben, was unmöglich ist. Glaube beruht auf unserer Erfahrung, dass wir leben und dass wir uns wandeln können. Der Glaube, dass andere sich wandeln können, entspringt unserer Erfahrung, dass wir dazu imstande sind. (Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Bedürfnis nach Gewissheit im dritten Kapitel dieses Buches[IV-295].)

Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem rationalen und dem irrationalen Glauben.[8] (Auf die Bedeutung der Bezeichnungen „rational“ und „irrational“ komme ich im vierten Kapitel zurück[IV-308].) Während der rationale Glaube unserem inneren Tätigsein im Denken und Fühlen entspringt, besagt irrationaler Glaube Unterwerfung unter etwas Gegebenes, das wir als wahr hinnehmen, ganz gleich, ob es das ist oder nicht. Das Wesentliche am irrationalen Glauben ist das Untätigsein (passiveness), ob nun der Gegenstand des Glaubens ein Idol, ein Führer oder eine Ideologie ist. Selbst der Wissenschaftler sollte frei sein von dem irrationalen Glauben an traditionelle Ideen, um an die Macht schöpferischen Denkens auf rationale Weise glauben zu können. Nachdem seine Entdeckung einmal „bewiesen“ ist, braucht er keinen Glauben mehr – außer an den nächsten Schritt, den er nun ins Auge fasst. Wenn man im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen an einen anderen Menschen glaubt, so bedeutet das, dass man sich seines Kernes sicher ist – das heißt seiner Zuverlässigkeit und der Unveränderlichkeit seiner Grundeinstellung. Im gleichen Sinn können wir auch an uns selbst glauben – nicht an die Beständigkeit unserer Meinungen, sondern an unsere Grundeinstellung zum Leben, an die Matrix unserer Charakterstruktur. Ein solcher Glaube wird bestimmt durch die Erfahrung, die wir mit uns selbst gemacht haben, durch unsere Fähigkeit, legitimerweise „Ich“ zu sagen, durch unser Identitätserleben.

Hoffnung ist die Stimmung, die mit dem Glauben Hand in Hand geht. Ohne eine hoffnungsvolle Stimmung lässt sich der Glaube nicht aufrechterhalten. Nur auf den Glauben kann sich die Hoffnung aufbauen.

d) Seelenstärke

Mit Hoffnung und Glaube ist noch ein weiteres Strukturelement des Lebens eng verbunden: Mut, oder wie Spinoza sagt „Seelenstärke“ (fortitudo)[9]. „Seelenstärke“ ist [IV-272] vielleicht der weniger vieldeutige Ausdruck, denn mit „Tapferkeit“ bezeichnet man häufiger den Mut zu sterben und nicht den Mut zu leben. „Seelenstärke“ ist die Fähigkeit, der Versuchung zu widerstehen, Hoffnung und Glaube dadurch zu gefährden, dass man sie in einen leeren Optimismus oder in einen irrationalen Glauben umwandelt, wodurch sie zerstört werden. Seelenstärke ist die Fähigkeit, „nein“ sagen zu können, wenn die Welt „ja“ hören will.

Aber wir haben noch nicht ganz begriffen, was Seelenstärke ist, wenn wir nicht auch noch einen anderen ihrer Aspekte erwähnen: die Furchtlosigkeit. Der Furchtlose fürchtet sich nicht vor Drohungen, ja nicht einmal vor dem Tod. Aber, wie so oft, bezeichnet das Wort „furchtlos“ mehrere völlig unterschiedliche Einstellungen. Ich will hier nur die drei wichtigsten erwähnen:

Erstens kann jemand furchtlos sein, weil ihm nichts am Leben liegt; das Leben bedeutet ihm nicht viel, deshalb ist er ohne Furcht, wenn er in Todesgefahr gerät; aber während er sich vor dem Tod nicht fürchtet, kann er sich vor dem Leben fürchten. Seine Furchtlosigkeit beruht darauf, dass er das Leben nicht liebt; er ist gewöhnlich keineswegs furchtlos, wenn es nicht darum geht, sein Leben zu riskieren. Häufig befindet er sich geradezu auf der Suche nach gefährlichen Situationen, um seiner Furcht vor dem Leben, vor sich selbst, vor anderen Menschen zu entrinnen.

Eine zweite Art von Furchtlosigkeit ist bei Menschen anzutreffen, die sich einem Idol, einem anderen Menschen, einer Institution oder einer Idee symbiotisch unterwerfen. Die Befehle ihres Idols sind ihnen dann heilig; sie sind für sie weit zwingender als selbst die Befehle ihres eigenen Körpers, der überleben will. Wenn ein solcher Mensch diese Befehle seines Idols nicht befolgen oder ihre Berechtigung anzweifeln könnte, geriete er in Gefahr, seine Identität mit dem Idol zu verlieren, das bedeutet, dass er Gefahr laufen würde, sich völlig isoliert und daher am Rande des Wahnsinns zu befinden. Aus Angst vor dieser Gefahr ist er bereit zu sterben.

Die dritte Art der Furchtlosigkeit findet man bei vollentwickelten Menschen, die in sich selber ruhen und das Leben lieben. Wer seine Gier überwunden hat, klammert sich weder an ein Idol noch an irgendeine Sache und hat deshalb nichts zu verlieren: Er ist reich, weil er leer ist; er ist stark, weil er nicht der Sklave seiner Begierden ist. Er kann Idole, irrationale Wünsche und Phantasien loslassen, weil er mit der Wirklichkeit in sich selbst und außerhalb seiner selbst in vollem Kontakt steht. Wenn ein solcher Mensch zur vollen „Erleuchtung“ gelangt ist, ist er vollkommen furchtlos.

Wenn er sich auf dieses Ziel erst zubewegt, ohne es noch erreicht zu haben, ist auch seine Furchtlosigkeit noch nicht vollkommen. Aber jeder, der versucht, sich dem Zustand, ganz er selbst zu sein, zu nähern, weiß, dass jeder neue Schritt auf die Furchtlosigkeit zu unverkennbar ein Gefühl der Stärke und Freude in ihm erweckt. Er hat dann das Gefühl, ein neuer Lebensabschnitt habe für ihn begonnen. Er fühlt die Wahrheit in Goethes Worten: „Nun habe ich mein Sach auf Nichts gestellt. (...) Und mein gehört die ganze Welt“ (J. W. von Goethe, 1887, Band 1, S. 132 f.).

Als wesentliche Eigenschaften des Lebens drängen Hoffnung und Glaube schon ihrer Natur nach über den individuellen wie auch den gesellschaftlichen status quo hinaus. Das Leben hat unter anderem die Eigenschaft, dass es ein ständiger Prozess der [IV-273] Veränderung ist und keinen Augenblick gleich bleibt.[10] Leben, das stagniert, beginnt abzusterben. Stagniert es völlig, ist der Tod eingetreten. Hieraus folgt, dass das Leben in seiner Eigenschaft als Bewegung dazu tendiert, aus dem status quo auszubrechen und ihn zu überwinden. Wir werden entweder stärker oder schwächer, klüger oder dümmer, mutiger oder feiger. Jede Sekunde ist ein Augenblick der Entscheidung zum Besseren oder Schlechteren. Entweder pflegen wir unsere Trägheit, unsere Gier und unseren Hass, oder wir hungern sie aus. Je mehr wir sie pflegen, umso stärker werden sie; je mehr wir sie aushungern, umso schwächer werden sie.

Was für den Einzelnen gilt, das gilt auch für die Gesellschaft. Auch sie ist niemals statisch; wenn sie nicht wächst, verfällt sie; wenn sie den status quo nicht zum Besseren hin überschreitet, verändert er sich zum Schlechteren hin. Oft haben wir als Einzelne oder als Glieder einer Gesellschaft die Illusion, wir könnten stillstehen und brauchten die gegebene Situation nicht in der einen oder der anderen Richtung zu ändern. Dies ist eine der gefährlichsten Illusionen. Im Augenblick, wo wir stillstehen, fangen wir an abzusterben.

e) Auferstehung

Der Begriff der persönlichen oder gesellschaftlichen Wandlung erlaubt uns – ja zwingt uns geradezu –, die Bedeutung von Auferstehung ohne jede Bezugnahme auf ihren theologischen Sinn im Christentum neu zu definieren. Auferstehung in diesem neuen Sinn – wonach die christliche Bedeutung nur eine der vielen möglichen symbolischen Ausdrucksformen wäre – heißt nicht Schaffung einer anderen Wirklichkeit nach der Wirklichkeit dieses Lebens, sondern Umwandlung dieser Wirklichkeit auf eine größere Lebendigkeit hin. Mensch und Gesellschaft erfahren ihre Auferstehung in jedem Augenblick im Akt der Hoffnung und des Glaubens im Hier und Jetzt. Jeder Akt der Liebe, des Gewahrwerdens, des Mitgefühls ist Auferstehung; jeder Akt der Trägheit, der Gier, der Selbstsucht ist Tod. Jeden Augenblick konfrontiert uns unsere Existenz mit der Alternative von Auferstehung oder Tod; jeden Augenblick geben wir eine Antwort. Diese Antwort liegt nicht in dem, was wir sagen oder denken, sondern in dem, was wir sind, wie wir handeln, wohin wir uns bewegen.

f) Die messianische Hoffnung

Glaube und Hoffnung und Auferstehung in dieser Welt haben ihren klassischen Ausdruck in der messianischen Vision der Propheten gefunden. Sie sagen nicht wie Kassandra oder der Chor in der griechischen Tragödie die Zukunft voraus; sie sehen die [IV-274] gegenwärtige Wirklichkeit ohne die Scheuklappen der öffentlichen Meinung und irgendwelcher Autoritäten. Sie wollen gar keine Propheten sein, fühlen sich aber gezwungen, der Stimme ihres Gewissens Ausdruck zu verleihen, aus ihrem „Mit-wissen“ heraus zu sagen, welche Möglichkeiten sie sehen, und dem Volk die Alternative vor Augen zu führen und es zu warnen. Das ist das einzige, was sie wollen. Dem Volk bleibt es überlassen, ihre Warnung ernst zu nehmen und sein Leben zu ändern, oder taub und blind zu bleiben – und zu leiden. Die prophetische Sprache ist stets die Sprache der Alternativen, der Wahl und der Freiheit. Niemals ist es die Sprache des Determinismus, der Vorbestimmung zum Besseren oder Schlechteren. Die kürzeste Formulierung für diesen prophetischen Alternativismus findet sich in Dtn 30,19: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben!“[11]

In den prophetischen Schriften beruhte die messianische Vision auf der „Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, zwischen dem, was dem Menschen gegeben, und dem, was ihm verkündet ist“ (L. Baeck, 1923, S. 256). In der nachprophetischen Periode machte die messianische Idee einen Bedeutungswandel durch, der sich zuerst im Buch Daniel um 164 v. Chr. und bei den Pseudo-Epigraphen bemerkbar machte, die nicht in den Kanon des Alten Testaments aufgenommen wurden. In diesen Schriften finden wir eine „vertikale“ Vorstellung von der Erlösung im Gegensatz zur „horizontalen“[12] Geschichtsauffassung der Propheten. Dabei liegt der Nachdruck auf der Wandlung des Einzelnen, und im allgemeinen wird eine letzte Katastrophe als das Ende der Geschichte vorausgesagt. Bei dieser apokalyptischen Version geht es nicht um Alternativen, sondern um eine Voraussage, nicht um Freiheit, sondern um Determinismus.

In der späteren talmudischen und rabbinischen Überlieferung gewann die ursprüngliche prophetische, alternativistische Vision wieder die Oberhand. Das frühe Christentum war stärker von der apokalyptischen Version des messianischen Gedankens beeinflusst, wenn sich auch die Kirche als Institution paradoxerweise gewöhnlich auf eine Position passiven Wartens zurückzog.

Nichtsdestoweniger blieb die prophetische Idee in der Vorstellung von der „Wiederkunft Christi“ lebendig, und wir finden immer wieder bei revolutionären und „häretischen“ Sekten die prophetische Interpretation des christlichen Glaubens. Heute zeigt der radikale Flügel der römisch-katholischen Kirche ebenso wie verschiedene nichtkatholische christliche Bekenntnisse eine deutliche Rückkehr zum prophetischen Prinzip, sowohl zu seinem Alternativismus wie auch zu der Auffassung, dass spirituelle Ziele auch im politischen und gesellschaftlichen Handeln vorhanden sein müssen. Außerhalb der Kirche war der ursprüngliche marxistische Sozialismus die bedeutsamste Ausprägung der messianischen Vision in säkularer Sprache, doch wurde sie [IV-275] durch die kommunistische Entstellung von Marx verfälscht und verdorben. In den letzten Jahren ist das messianische Element im Marxismus bei einigen sozialistischen Humanisten besonders in Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wieder zu Wort gekommen. Marxisten und Christen führen einen weltweiten Dialog, der sich auf das gemeinsame messianische Erbe gründet.[13]

g) Die Zerstörung der Hoffnung

Wenn Hoffnung, Glaube und Seelenstärke Begleiterscheinungen des Lebens sind, wie kommt es dann, dass so viele ihre Hoffnung, ihren Glauben und ihre Seelenstärke verlieren und ihre Knechtschaft und Abhängigkeit lieben? Eben die Möglichkeit dieses Verlustes ist charakteristisch für die menschliche Existenz. Zu Anfang haben wir alle Hoffnung, Glauben und Seelenstärke – es sind die unbewussten, „nicht-gedanklichen“ Eigenschaften von Sperma und Eizelle, ihrer Vereinigung und des Wachstums des Fötus und seiner Geburt. Aber sobald das Leben beginnt, beginnen auch die Wechselfälle der Umwelt und der Zufall, das Hoffnungs-Potenzial zu vergrößern oder zu blockieren.

Die meisten von uns hofften geliebt zu werden – nicht nur gehätschelt und gefüttert, sondern verstanden, umsorgt und respektiert zu werden. Die meisten von uns hofften vertrauen zu können. Als wir klein waren, wussten wir noch nichts von der menschlichen Erfindung der Lüge – nicht nur von dem Lügen mit Worten, sondern auch dem Lügen mit unserer Stimme, unseren Gesten, unseren Augen und unserem Mienenspiel. Wie sollte das Kind auch auf diese spezifisch menschliche raffinierte Erfindung – die Lüge – vorbereitet sein? Die meisten von uns sind mehr oder weniger brutal darauf gestoßen worden, dass die Menschen oft das, was sie sagen, nicht meinen oder dass sie das Gegenteil von dem sagen, was sie meinen. Und nicht nur irgendwelche Menschen taten das, sondern eben die Menschen, denen wir am meisten vertrauten – unsere Eltern, unsere Lehrer und Vorbilder.

Nur den wenigsten bleibt das Schicksal erspart, dass ihre Hoffnungen irgendwann in ihrer Entwicklung enttäuscht und manchmal völlig zerstört werden. Vielleicht ist das [IV-276] gut so. Wie sollte die Hoffnung eines Menschen je stark und unauslöschlich werden, wenn er nie in seinen Hoffnungen enttäuscht würde? Wie könnte er sonst der Gefahr entgehen, ein optimistischer Träumer zu werden? Aber andererseits wird die Hoffnung oft so gründlich zerstört, dass der Betroffene sie für immer verliert.

Tatsächlich gibt es sehr viele unterschiedliche Antworten und Reaktionen auf die Zerstörung der Hoffnung, die von vielerlei Umständen abhängen: von historischen, persönlichen, psychologischen und konstitutionellen Gegebenheiten. Viele, vermutlich sogar die meisten, reagieren auf die Enttäuschung ihrer Hoffnungen, indem sie sich den Optimismus des Durchschnittsmenschen zu eigen machen, der das Beste hofft, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass vielleicht nicht einmal das Gute, ja vielleicht sogar das Schlimmste, geschehen könnte. Solange alle anderen pfeifen, pfeift man mit, und anstatt unter ihrer Hoffnungslosigkeit zu leiden, scheinen solche Menschen bei einer Art Pop-Konzert mitzuwirken. Sie schrauben ihre Ansprüche auf das zurück, was sie bekommen können, und träumen nicht einmal von Dingen, die sich außerhalb ihrer Reichweite befinden. Es sind gut angepasste „Herdentiere“, und sie fühlen sich nie hoffnungslos, weil die anderen sich ja offenbar auch nicht hoffnungslos fühlen. Sie verkörpern jenen merkwürdigen resignierten Optimismus, den wir bei so vielen Menschen in unserer heutigen westlichen Gesellschaft finden – wobei der Optimismus meist bewusst und die Resignation unbewusst ist.

Eine weitere Folgeerscheinung der Zerstörung der Hoffnung ist die „Verhärtung des Herzens“. Wir sehen viele Menschen – vom jugendlichen Kriminellen bis zum hartgesottenen, aber erfolgreichen Erwachsenen –, die es an einem bestimmten Punkt ihres Lebens, vielleicht mit fünf, vielleicht mit zwölf oder vielleicht auch mit zwanzig Jahren, einfach nicht mehr aushalten können, noch weiter verletzt zu werden. Manche unter ihnen beschließen wie unter dem Eindruck einer plötzlichen Vision oder bei einer Bekehrung, dass es ihnen jetzt reicht, dass sie überhaupt nichts empfinden wollen, dass sie fortan niemand mehr wird verletzen können, aber dass sie von nun an imstande sein werden, anderen weh zu tun. Möglicherweise beklagen sie sich über ihr Missgeschick, keinen Freund zu finden oder niemand zu haben, der sie liebt, aber das ist nicht ihr Missgeschick, es ist ihr Schicksal. Nachdem sie ihr Mitgefühl und ihr Einfühlungsvermögen verloren haben, kommen sie mit niemandem mehr in enge Berührung, und auch sie selbst können nicht mehr innerlich berührt werden. Ihr Triumph im Leben ist, niemanden nötig zu haben. Sie sind stolz auf ihre Unberührbarkeit, und es macht ihnen Spaß, anderen weh tun zu können. Ob dies auf kriminelle oder auf legale Weise geschieht, hängt mehr von sozialen als von psychologischen Faktoren ab. Die meisten von ihnen bleiben eiskalt und sind daher unglücklich bis an ihr Lebensende. Nicht ganz selten geschieht ein Wunder, und sie fangen an aufzutauen. Vielleicht begegnen sie einfach einem Menschen, an dessen Mitgefühl und Anteilnahme sie glauben, und schon erschließen sich ihnen neue Dimensionen des Gefühls. Wenn sie Glück haben, tauen sie ganz auf, und die Samen der Hoffnung, die völlig zerstört schienen, erwachen zum Leben.

Eine weitere, viel drastischere Folge zerstörter Hoffnung sind Destruktivität und Gewalttätigkeit. Eben weil der Mensch nicht ohne Hoffnung leben kann, hasst einer, dessen Hoffnung völlig zerschlagen wurde, das Leben. Da er kein Leben schaffen [IV-277] kann, will er es zerstören – auch dies ist ein kaum kleineres Wunder, das aber viel leichter zu bewerkstelligen ist. Er will sich für sein ungelebtes Leben rächen und tut dies, indem er sich der Destruktivität völlig in die Arme wirft, sodass es kaum noch darauf ankommt, ob er andere vernichtet oder selbst vernichtet wird. (Hierüber und über andere Manifestationen der Destruktivität werde ich in Anatomie der menschlichen Destruktivität, 1973a, handeln.[14]) Die destruktive Reaktion auf zerstörte Hoffnung findet sich gewöhnlich bei Menschen, die aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen vom Komfort der Menschheit ausgeschlossen sind und die gesellschaftlich oder wirtschaftlich keinen festen Platz haben. Primär führt nicht der wirtschaftliche Misserfolg zu Hass und Gewalttätigkeit; auch die Ausweglosigkeit der allgemeinen Situation und immer wieder gebrochene Versprechungen können ebenso leicht Gewalt und Destruktivität zur Folge haben. Tatsächlich besteht kaum ein Zweifel daran, dass Gruppen, die so von allem ausgeschlossen und misshandelt werden, dass sie nicht einmal mehr hoffnungslos sein können, weil ihnen Hoffnung überhaupt kein Begriff ist, weniger zur Gewalttätigkeit neigen als jene, die eine Möglichkeit zu hoffen sehen und gleichzeitig erkennen, dass die Umstände ihnen die Verwirklichung ihrer Hoffnungen unmöglich machen. Psychologisch gesprochen ist die Destruktivität die Alternative zur Hoffnung, genauso wie das Hingezogensein zum Toten die Alternative zur Liebe zum Leben und wie die Freude die Alternative zur Langeweile ist. Nicht nur der Einzelne lebt von der Hoffnung, auch Nationen und gesellschaftliche Klassen leben von der Hoffnung, vom Glauben und der Seelenstärke, und wenn sie dieses Potenzial verlieren, so verschwinden sie – entweder durch ihren Mangel an Vitalität oder auf Grund der irrationalen Destruktivität, die sie dann entwickeln.

Man sollte dabei nicht übersehen, dass die Entwicklung von Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit beim Einzelnen weitgehend davon abhängt, ob es in seiner Gesellschaft oder Klasse Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit gibt. Denn wie stark auch immer die Hoffnung eines Menschen in seiner Kindheit erschüttert worden sein mag, wenn er in einer Periode der Hoffnung und des Glaubens lebt, wird sich auch seine eigene Hoffnung daran entzünden. Andererseits neigt jemand, dessen Erfahrungen hoffnungsvoll sind, oft zu Depression und Hoffnungslosigkeit, wenn seine Gesellschaft oder Klasse den Geist der Hoffnung verloren hat.

In der westlichen Welt verschwindet derzeit die Hoffnung in zunehmendem Maße, besonders seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und, was Amerika betrifft, besonders seit der Niederlage der anti-imperialistischen Liga am Ende des vorigen Jahrhunderts. Wie bereits erwähnt, tarnt sich die Hoffnungslosigkeit als Optimismus und bei einigen wenigen als revolutionärer Nihilismus. Aber was ein Mensch von sich selbst hält, hat wenig Bedeutung im Vergleich zu dem, was er ist, was er wahrhaft empfindet, und die meisten von uns sind sich dessen nicht bewusst, was sie fühlen.

Überall treffen wir auf Anzeichen von Hoffnungslosigkeit. Man braucht sich nur den gelangweilten Gesichtsausdruck des Durchschnittsmenschen anzusehen, den Mangel an Kontakt zwischen den Menschen – auch wenn sie noch so verzweifelt Kontakt suchen. Man bedenke, dass wir nicht in der Lage sind, ernsthaft etwas gegen die ständig zunehmende Vergiftung von Wasser und Luft in unseren Städten und gegen die vorauszusehende Hungersnot in den armen Ländern zu unternehmen, von unserer [IV-278] Unfähigkeit, die tägliche Bedrohung unseres Lebens und all unserer Pläne durch die Atomwaffen zu beseitigen, ganz zu schweigen. Was wir auch immer über die Hoffnung sagen oder denken mögen, unsere Unfähigkeit, für das Leben etwas zu tun oder zu planen, verrät unsere Hoffnungslosigkeit.

Wir wissen einiges über die Gründe für diese wachsende Hoffnungslosigkeit. Noch vor 1914 hielten die Menschen die Welt für einen sicheren Ort und glaubten, die Kriege mit ihrer völligen Missachtung des menschlichen Lebens gehörten der Vergangenheit an. Und dennoch kam es zum Ersten Weltkrieg, und jede Regierung verbreitete Lügen über seine Motive. Dann kam der Spanische Bürgerkrieg mit den vorgegebenen Ansprüchen sowohl von Seiten der Westmächte wie auch von Seiten der Sowjetunion; es folgte der Terror von Stalins und von Hitlers System; dann kam der Zweite Weltkrieg mit seiner völligen Missachtung des Lebens der Zivilbevölkerung, und schließlich kam der Krieg in Vietnam, in dem die amerikanische Regierung jahrelang ihre Macht dazu missbrauchte, ein kleines Volk zu vernichten, um es angeblich „zu retten“. Und keine der Großmächte hat den einen Schritt getan, der alle mit Hoffnung erfüllt hätte: die eigenen Atomwaffen abzuschaffen und darauf zu vertrauen, dass die anderen die Vernunft besitzen würden, dem Beispiel zu folgen.

Aber es gibt noch andere Gründe für die wachsende Hoffnungslosigkeit: die Entstehung der totalen bürokratisierten Industriegesellschaft und die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Organisation. Davon spreche ich im nächsten Kapitel.

Falls Amerika und die übrige westliche Welt in ihrem Zustand unbewusster Hoffnungslosigkeit, in ihrem Mangel an Glauben und Seelenstärke verharren, ist vorauszusehen, dass sie der Versuchung nicht werden widerstehen können, mit einer gewaltigen atomaren Explosion alle Probleme der Überbevölkerung, der Langeweile und des Hungers ein für allemal zu lösen, da dann alles Leben ohnehin vernichtet wäre.

Ob es bezüglich der gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung zu einem Fortschritt kommen wird, der darauf hinausläuft, dass der Mensch die Richtung bestimmt, wird davon abhängen, ob es uns gelingt, mit unserer Hoffnungslosigkeit fertig zu werden. Wir müssen sie zunächst einmal erkennen. Dann müssen wir prüfen, ob eine reale Möglichkeit besteht, unserem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben eine neue Richtung zu geben, die uns wieder hoffen lässt. Gibt es eine solche reale Möglichkeit nicht, dann wäre jede Hoffnung reine Torheit. Gibt es aber jene reale Möglichkeit, so brauchen wir auch nicht die Hoffnung aufzugeben. Wir müssen nur neue Alternativen und Auswege suchen und in einer konzertierten Aktion uns bemühen, diese neuen Alternativen zu verwirklichen.

3. Wo stehen wir heute und wohin führt unser Weg?

a) Wo stehen wir heute?

Es ist schwierig, auf der historischen Linie, die vom Industrialismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in die Zukunft führt, unsere genaue Position zu bestimmen. Leichter ist es zu sagen, wo wir uns nicht befinden. Wir sind nicht unterwegs zu einem freien Unternehmertum, sondern entfernen uns schnell davon. Wir sind nicht unterwegs zu einem größeren Individualismus, sondern werden in wachsendem Maße zu einer manipulierten Massenzivilisation. Wir sind nicht unterwegs zu jenen Orten, auf die wir uns nach unseren ideologischen Landkarten angeblich zu bewegen. Wir marschieren in einer völlig anderen Richtung. Manche erkennen diese Marschrichtung auch recht deutlich; unter ihnen gibt es einige, die sie begrüßen, und andere, die sie mit Furcht erfüllt. Die meisten von uns haben jedoch Landkarten vor Augen, die sich von der Wirklichkeit ebenso unterscheiden, wie eine Weltkarte aus dem Jahr 500 v. Chr. Die Erkenntnis, dass unsere Landkarten nicht stimmen, genügt aber nicht. Wir brauchen unbedingt korrekte Landkarten, um die gewünschte Richtung einschlagen zu können. Die wichtigste Angabe auf der neuen Landkarte ist der Hinweis, dass wir das Stadium der ersten Industriellen Revolution hinter uns haben und bereits in die Periode der zweiten Industriellen Revolution eingetreten sind.

Die erste Industrielle Revolution war dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch gelernt hatte, die Energie lebendiger Wesen (von Tieren und Menschen) durch die mechanische Energie von Dampf, Öl, Elektrizität und Atomkraft zu ersetzen. Diese neuen Energiequellen waren die Grundlage für eine fundamentale Veränderung in der industriellen Produktion. Im Zusammenhang mit diesem neuen industriellen Potenzial stand ein bestimmter Typ der industriellen Organisation, bei dem eine große Anzahl von Industrieunternehmen, die wir heute als Klein- oder Mittelbetriebe bezeichnen würden, von den Eigentümern selbst geführt wurden, die miteinander im Konkurrenzkampf standen und die ihre Arbeiter ausbeuteten und mit ihnen um den Anteil am Profit kämpften. Der Herr des Unternehmens gehörte der Mittel- oder Oberklasse an. Er war auch der Herr im eigenen Haus und fühlte sich als Herr seines Schicksals. Die skrupellose Ausbeutung der farbigen Völker ging Hand in Hand mit [IV-280] Reformen im eigenen Land, mit einer mehr und mehr wohlwollenden Einstellung den Armen gegenüber und – in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts – schließlich mit dem Aufstieg der Arbeiterklasse aus tiefster Armut zu einem verhältnismäßig komfortablen Leben.

Auf die erste Industrielle Revolution folgte die zweite, deren Beginn wir gegenwärtig erleben. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur die lebendige Energie durch mechanische Energie, sondern das menschliche Denken durch das Denken von Maschinen ersetzt wird. Die Kybernetik und Automation (die „Kybernation“) ermöglichen die Konstruktion von Maschinen, die – wenn es um die Lösung wichtiger technischer und organisatorischer Fragen geht – viel genauer und schneller funktionieren als das menschliche Gehirn. Die „Kybernation“ ermöglicht eine neue Art der wirtschaftlichen und sozialen Organisation. Eine relativ kleine Zahl von Mammutunternehmen ist zum Zentrum der Wirtschaftsmaschinerie geworden und wird sie in absehbarer Zukunft völlig beherrschen. Das Unternehmen ist zwar juristisch Eigentum von Hunderttausenden von Aktienbesitzern, wird aber von einer sich ständig aus sich selbst erneuernden Bürokratie gelenkt, und zwar praktisch völlig unabhängig von den eigentlichen Besitzern. Die Allianz zwischen Privatunternehmen und Regierung wird so eng, dass die beiden Partner dieses Bündnisses immer schwerer voneinander zu unterscheiden sind. In Amerika ist der größte Teil der Bevölkerung gut ernährt und gut untergebracht, und auch für Unterhaltung ist gesorgt. Auch die „unterentwickelten“ Amerikaner, die noch immer weit unter diesem Standard leben, werden voraussichtlich in absehbarer Zukunft die Mehrheit einholen. Wir bekennen uns auch weiterhin zum Individualismus, zur Freiheit und zum Glauben an Gott, aber unsere Bekenntnisse werden fadenscheinig, wenn wir sie mit der Wirklichkeit der zwanghaften Konformität des Organisationsmenschen vergleichen, der sich vom Prinzip eines hedonistischen Materialismus leiten lässt.

Wenn die Gesellschaft stillstehen könnte – was sie aber ebenso wenig kann wie ein Individuum – wäre die Lage vielleicht nicht ganz so bedrohlich. Aber wir bewegen uns auf eine neue Art der Gesellschaft und auf eine neue Art des menschlichen Lebens zu, von der wir erst den Anfang sehen und deren Entwicklung sich rapide beschleunigt.

b) Die Vision der dehumanisierten Gesellschaft im Jahre 2000

Welche Art von Gesellschaft und was für eine Art von Menschen werden wir wohl im Jahre 2000 vorfinden, vorausgesetzt, der Atomkrieg hat nicht schon vorher die menschliche Rasse vernichtet?

Wenn die Menschen wüssten, welchen Weg die amerikanische Gesellschaft vermutlich einschlagen wird, wären viele, wenn nicht die meisten, so entsetzt darüber, dass sie wohl geeignete Vorkehrungen treffen würden, den Kurs zu ändern. Wenn sie sich dagegen nicht darüber klar sind, in welcher Richtung sie sich bewegen, dann werden sie erst erwachen, wenn es bereits zu spät ist und wenn ihr Schicksal unwiderruflich besiegelt ist. Unglücklicherweise sind die allermeisten sich nicht darüber klar, wohin [IV-281] wir steuern. Sie merken nicht, dass die neue Gesellschaft, auf die sie sich zubewegen, sich von der griechischen, römischen und von der mittelalterlichen Gesellschaft sowie von der herkömmlichen Industriegesellschaft ebenso radikal unterscheidet, wie sich die Ackerbaugesellschaft von den Sammlern und Jägern unterschied. Die meisten Menschen denken immer noch in den gesellschaftlichen Vorstellungen der ersten Industriellen Revolution. Sie sehen, dass wir heute über mehr und bessere Maschinen verfügen als die Menschen vor fünfzig Jahren und sehen darin einen Fortschritt. Sie glauben, es sei ein Zeichen persönlicher Freiheit, wenn keine direkte politische Unterdrückung herrscht. Ihre Vision vom Jahre 2000 geht dahin, dass dann alle Sehnsüchte und Bestrebungen des Menschen seit dem Ende des Mittelalters voll verwirklicht sein würden. Sie sehen nicht, dass das Jahr 2000 nicht die Erfüllung und der beglückende Höhepunkt einer Epoche sein könnte, in welcher der Mensch um seine Freiheit und um sein Glück kämpfte, sondern der Beginn einer Epoche, in welcher der Mensch aufhört menschlich zu sein und sich in eine denkunfähige und gefühllose Maschine verwandelt.

Es ist interessant festzustellen, dass die Gefahren der neuen dehumanisierten Gesellschaft von Denkern mit Intuition bereits im neunzehnten Jahrhundert klar erkannt wurden. Deren Vision erscheint uns umso eindrucksvoller, als es sich um Menschen aus entgegengesetzten politischen Lagern handelt. (Vgl. die entsprechenden Aussagen von Burckhardt, Proudhon, Baudelaire, Thoreau, Marx und Tolstoi, die ich in meinem Buch Wege aus einer kranken Gesellschaft [1955a, GA IV, S. 148 ff.] zitiert habe.)

Ein Konservativer wie Disraeli und ein Sozialist wie Marx waren praktisch derselben Meinung hinsichtlich der Gefahr, die der Menschheit aus dem unkontrollierbaren Wachstum von Produktion und Konsum erwachsen würde. Sie erkannten beide, dass die Versklavung durch die Maschine und die ständig zunehmende Habgier dem Menschen höchst abträglich sein würde. Disraeli sah eine Lösung darin, dass man die Macht der neuen Bourgeoisie in Schranken hielt. Marx glaubte, eine hochindustrialisierte Gesellschaft könnte in eine humane verwandelt werden, bei der die Menschen und nicht die materiellen Güter das Ziel aller gesellschaftlichen Anstrengungen wären. (Vgl. E. Fromm, 1961b.) Einer der fortschrittlichsten Denker des letzten Jahrhunderts, John Stuart Mill, erkannte das Problem in voller Klarheit:

Ich gestehe, dass mich nicht das Lebensideal der Leute bezaubert, die glauben, dass der Normalzustand menschlicher Wesen in dem fortwährenden Kampfe gegeneinander besteht, dass das Stoßen, Drängen, Einander auf die Fersen Treten, das heute das Kennzeichen unserer gesellschaftlichen Zustände ist, das wünschenswerteste Los der Menschen oder etwas anderes sei, als die unerfreulichen Merkmale eines einzelnen Abschnittes des gewerblichen Fortschrittes. (...) Gleichwohl ist es durchaus angemessen, dass, solange Reichtum noch Macht ist und es das Ziel allgemeinen Ehrgeizes ist, so reich wie möglich zu werden, der Weg zur Befriedigung dieses Ehrgeizes allen ohne Begünstigung oder Parteilichkeit offenstehen soll. Aber der beste Zustand für die menschliche Natur ist doch der, dass keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, und niemand Grund zu der Furcht hat, dass er durch die Anstrengungen anderer, die sich selber vorwärtsdrängen, zurückgestoßen werde. (J. S. Mill, 1921, Band 2, S. 391 f.) [IV-282]

Offensichtlich haben große Denker bereits vor hundert Jahren erkannt, was sich heute oder morgen ereignen wird, während wir, die wir es erleben, die Augen davor schließen, um uns in unserem täglichen Trott nicht beirren zu lassen. In dieser Hinsicht scheinen Liberale und Konservative gleich blind zu sein. Es gibt nur wenige weitsichtige Autoren, die das Ungeheuer klar erkennen, dem wir ans Licht der Welt verhelfen. Es ist nicht der Leviathan von Hobbes, sondern ein Moloch, das alles vernichtende Idol, dem das menschliche Leben geopfert werden soll. George Orwell und Aldous Huxley haben diesen Moloch mit viel Phantasie beschrieben, und auch einige Science-Fiction-Autoren beweisen in ihren Schilderungen mehr Scharfblick als die meisten professionellen Soziologen und Psychologen.

Ich erwähnte bereits Brzezinskis Beschreibung der technotronen Gesellschaft und möchte hier nur noch folgendes Zitat hinzufügen:

Der weitgehend humanistisch orientierte und gelegentlich ideologisch eingestellte intellektuelle Nonkonformist (...) wird immer mehr durch den Experten und Spezialisten ersetzt (...) oder auch durch alles integrierende Harmonisierer, die tatsächlich zu den Hausideologen der Inhaber der Macht werden und die für eine allumfassende intellektuelle Integration verschiedenster Handlungen sorgen. (Z. Brzezinski, 1968, S. 19).

Ein eindringliches, glänzendes Bild der neuen Gesellschaft hat neuerdings auch einer der hervorragendsten Humanisten unserer Zeit, Lewis Mumford, entworfen. Zukünftige Historiker werden – falls es sie noch gibt – in seinem Werk The Myth of the Machine (L. Mumford, 1967) eine der prophetischen Warnungen unserer Zeit sehen. Mumford verleiht der Zukunft eine neue Tiefe und Perspektive, indem er ihre Wurzeln in der Vergangenheit analysiert. Das zentrale Phänomen, das seiner Ansicht nach Vergangenheit und Zukunft verbindet, bezeichnet er als die „Megamaschine“.

Die „Megamaschine“ ist das völlig organisierte und homogenisierte Gesellschaftssystem, in dem die Gesellschaft als solche wie eine Maschine läuft und wo die Menschen als deren Teile funktionieren. Diese Form der Organisation durch totale Koordination, durch die ständige Vermehrung von Ordnung, Macht, Voraussagbarkeit und vor allem von Kontrolle hat bei frühen Megamaschinen, wie dem ägyptischen und dem mesopotamischen Gesellschaftssystem, ans Wunderbare grenzende technische Resultate gezeitigt, und sie wird mit Hilfe der modernen Technologie in der zukünftigen technologischen Gesellschaft ihren vollkommensten Ausdruck finden.

Mumfords Vorstellung von der Megamaschine hilft uns, uns über einige neuere Phänomene klar zu werden. Mir scheint, dass die Megamaschine in der Neuzeit beim stalinistischen Industrialisierungssystem zum ersten Mal in großem Umfang eingesetzt wurde und hinterher im System des chinesischen Kommunismus. Während Lenin und Trotzki noch hofften, die Revolution würde schließlich – wie Marx es sich vorgestellt hatte – zum Sieg des Individuums über die Gesellschaft führen, verriet Stalin das, was von diesen Hoffnungen übriggeblieben war, und besiegelte diesen Verrat mit der physischen Vernichtung all jener, in denen die Hoffnung vielleicht noch nicht ganz erloschen war. Stalin konnte seine Megamaschine auf einer gut entwickelten industriellen Grundlage bauen, wenn diese auch hinter der von Ländern wie England oder den Vereinigten Staaten noch weit zurückstand. Die kommunistischen Führer in China standen dagegen vor einer anderen Situation. Sie besaßen keine nennenswerte [IV-283] industrielle Basis. Ihr einziges Kapital waren die physische Energie und die Leidenschaften und Gedanken von 700 Millionen Menschen. Sie kamen zu der Überzeugung, dass sie durch die vollständige Koordinierung dieses „Menschenmaterials“ ein Äquivalent des Grundkapitals schaffen könnten, das für eine technische Entwicklung benötigt wurde, die in relativ kurzer Zeit das Niveau des Westens erreichen würde. Diese totale Koordinierung ließ sich nur mit einer Mischung aus Gewalt, Personenkult und Indoktrination erreichen, die im Widerspruch zu Freiheit und Individualismus steht, welche Marx als die wesentlichen Elemente einer sozialistischen Gesellschaft ins Auge gefasst hatte. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die Ideale der Überwindung des privaten Egoismus und des maximalen Konsums wenigstens bis jetzt im chinesischen System erhalten geblieben sind, wenn sie auch mit Totalitarismus, Nationalismus und Reglementierung des Denkens untermischt sind, wodurch die humanistische Zukunftsvision von Marx verfälscht wird.

Die Erkenntnis des radikalen Bruchs zwischen der ersten Phase der Industrialisierung und der zweiten Industriellen Revolution, in der die Gesellschaft selbst zu einer riesigen Maschine wird, in welcher der Mensch nur ein winziges lebendiges Teilchen ist, wird durch gewisse Unterschiede zwischen der Megamaschine von Ägypten und der des zwanzigsten Jahrhunderts etwas verdeckt. Zunächst einmal war die Arbeit der lebendigen Teilchen der ägyptischen Megamaschine Zwangsarbeit. Die nackte Drohung, getötet zu werden oder zu verhungern, zwang den ägyptischen Arbeiter, seine Aufgabe zu erledigen. Heute, im zwanzigsten Jahrhundert, führt der Arbeiter in den am weitesten entwickelten Industrieländern, wie in den Vereinigten Staaten, ein recht komfortables Leben – ein Leben, das seinen Vorfahren, den Arbeitern der Zeit vor hundert Jahren – wie ein traumhaftes Luxusleben vorgekommen wäre. Er hat – und hierin liegt einer der Irrtümer von Marx – am ökonomischen Fortschritt der kapitalistischen Gesellschaft teilgenommen und davon profitiert, und er hat heute in der Tat erheblich mehr zu verlieren als seine Ketten.

Die Bürokratie, welche den Arbeitsprozess steuert, unterscheidet sich wesentlich von der bürokratischen Elite der alten Megamaschine. Ihr Leben wird mehr oder weniger von den gleichen Tugenden der Mittelklasse geleitet, die auch für den Arbeiter gelten. Wenn ihre Mitglieder auch besser bezahlt werden als die Arbeiter, so ist der Unterschied im Konsum doch mehr ein quantitativer als ein qualitativer. Arbeitgeber und Arbeiter rauchen dieselben Zigaretten und fahren Wagen, die sich äußerlich gleichen, wenn die besseren auch ruhiger fahren als die billigeren. Sie sehen sich dieselben Filme und Fernsehprogramme an, und ihre Frauen benutzen die gleichen Kühlschränke. (Dass der unterentwickelte Teil der Bevölkerung an diesem neuen Lebensstil keinen Anteil hat, habe ich bereits erwähnt.)

Die Elite der Manager unterscheidet sich von der früheren Elite auch noch in anderer Hinsicht: Sie sind genauso Teile der Maschine wie die, welchen sie befehlen. Sie sind ebenso, oder vielleicht sogar noch stärker entfremdet, sie haben genauso große oder vielleicht sogar noch größere Angst wie ein Arbeiter in einer ihrer Fabriken. Sie langweilen sich genauso wie alle anderen und greifen zu den gleichen Mitteln gegen ihre Langeweile. Sie sind keine Kultur schaffende Gruppe, wie es die früheren Eliten waren. Wenn sie auch einen recht großen Teil ihres Geldes für die Förderung von [IV-284] Wissenschaft und Kunst ausgeben, so sind sie als Klasse doch ebenso sehr Konsumenten dieser „Kulturellen Wohlfahrt“ wie die, denen sie eigentlich zugutekommen sollte. Die Kultur schaffende Gruppe lebt am Rande der Gesellschaft. Es sind die kreativen Wissenschaftler und Künstler, doch sieht es bisher so aus, als ob die schönste Blüte der Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts am Baume der Wissenschaft und nicht an dem der Kunst zu finden wäre.

c) Die gegenwärtige technologische Gesellschaft
Prinzipien

Die technotrone Gesellschaft könnte das System der Zukunft sein, aber noch ist es nicht soweit. Sie kann sich aus dem bereits Vorhandenen entwickeln, und sie wird dies vermutlich tun, wenn nicht genügend Menschen die Gefahr erkennen und unseren Kurs neu ausrichten. Hierzu müssen wir jedoch den Funktionsmechanismus unseres gegenwärtigen technologischen Systems und seine Wirkung auf den Menschen im einzelnen besser verstehen.

Welches sind die Leitprinzipien dieses Systems in seiner heutigen Ausprägung?

Das System wird von zwei Prinzipien programmiert, welche die Arbeit und das Denken aller daran Beteiligten steuern. Das erste Prinzip ist die Maxime, dass etwas getan werden soll, weil es technisch möglich ist. Wenn der Bau von Atomwaffen möglich ist, müssen sie gebaut werden, auch dann, wenn sie uns alle vernichten könnten. Wenn die Fahrt zum Mond oder zu den Planeten möglich ist, muss sie unternommen werden, wenn auch auf Kosten vieler unbefriedigter Bedürfnisse hier auf der Erde. Dieses Prinzip bedeutet die Negierung aller Werte, welche die humanistische Tradition entwickelt hat. Diese Tradition besagt, dass etwas getan werden sollte, weil es dem Wachstum, der Freude und der Vernunft des Menschen förderlich ist, weil es schön, gut oder wahr ist. Wenn man sich erst einmal zu dem Prinzip bekennt, dass etwas getan werden soll, weil es technisch getan werden kann, werden alle anderen Werte entthront und die technische Entwicklung allein wird zur Grundlage der Ethik.[15] [IV-285]

Das zweite Prinzip ist das Prinzip der maximalen Effizienz und der maximalen Produktion. Die Forderung nach maximaler Effizienz führt folgerichtig zur Forderung einer minimalen Individualität. Man glaubt, dass die gesellschaftliche Maschinerie wirkungsvoller arbeitet, wenn die einzelnen zu nur quantifizierbaren Einheiten zurückgestutzt werden, deren Persönlichkeit auf Lochkarten erfassbar ist. Solche Einheiten sind mit bürokratischen Vorschriften leichter zu verwalten, weil sie keine Schwierigkeiten machen und keine Reibungen verursachen. Zu diesem Zweck müssen die Menschen entindividualisiert werden, und man muss ihnen beibringen, ihre Identität nicht in sich selbst, sondern in der betrieblichen Organisation zu finden.

Die Frage der wirtschaftlichen Effizienz erfordert gründliches Nachdenken. Man muss das Problem der Wirtschaftlichkeit, das heißt mit kleinstmöglichem Aufwand eine größtmögliche Wirkung zu erzielen, im Zusammenhang mit den historischen und entwicklungsmäßigen Gegebenheiten sehen. Das Problem ist zweifellos schwerwiegender in einer Gesellschaft, in der die materielle Armut der wichtigste Tatbestand im Leben ist, und es verliert in dem Maß an Bedeutung, wie sich die Produktivkräfte der Gesellschaft weiterentwickeln.

Ferner sollte bei diesen Untersuchungen voll berücksichtigt werden, dass die Effizienz nur bei bereits eingeführten Tätigkeiten eine bekannte Größe darstellt. Da wir nicht viel über die Effizienz bei noch nicht erprobten Methoden wissen, sollten wir vorsichtig sein, wenn wir uns mit dem Hinweis auf diese Effizienz für etwas einsetzen. Außerdem sollten wir das zur Diskussion stehende Gebiet und seinen zeitlichen Geltungsbereich sorgfältig durchdenken und genau angeben. Was im engen Rahmen gesehen effizient erscheinen mag, kann höchst ineffizient sein, wenn man den zeitlichen und inhaltlichen Rahmen weiter steckt. In der Ökonomie wird man sich in zunehmendem Maß der sogenannten neighborhood effects bewusst. Man versteht darunter Wirkungen, die über das unmittelbare Anliegen hinausgehen und bei der Abwägung des Gesamtnutzens und der Kosten oft übersehen werden. Ein Beispiel hierfür wäre etwa, wenn man die Effizienz eines bestimmten Industrieprojekts allein im Hinblick auf seine unmittelbaren Auswirkungen auf das Unternehmen selbst bestimmen würde und dabei übersähe, dass die in den benachbarten Gewässern deponierten und die Luft verunreinigenden Abfallstoffe für die Allgemeinheit eine ernste und kostspielige Belastung darstellen. Wir müssen deshalb unbedingt klare Effizienz-Standards aufstellen, welche auch den jeweiligen Zeitpunkt und das Interesse der gesamten Gesellschaft mitberücksichtigen. Schließlich ist auch der Mensch als ein grundlegender Faktor in dem System, dessen Effizienz wir zu ermitteln versuchen, in Rechnung zu stellen.

Die Dehumanisierung im Namen einer größtmöglichen Effizienz ist eine nur allzu häufige Erscheinung. So wenden beispielsweise große Telefongesellschaften Methoden aus Aldous Huxleys Brave New World (1946) an, wenn sie die Gespräche zwischen den Fernsprechteilnehmern und den Telefonistinnen auf Tonband aufnehmen und die Fernsprechteilnehmer anschließend um eine Bewertung der Arbeitsleistung und -einstellung der betreffenden Angestellten bitten – alles mit dem Ziel, ihnen die „richtige“ Einstellung beizubringen, ihre Arbeit zu standardisieren und den Nutzeffekt zu erhöhen. Aus der engen Sicht der unmittelbaren Interessen der Gesellschaft [IV-286] mag ihr das willfährige und fügsame Arbeitskräfte einbringen und hierdurch die Wirtschaftlichkeit des Betriebs steigern. Bei den Angestellten als menschlichen Wesen erzeugen solche Methoden jedoch Gefühle von Unzulänglichkeit, Angst und Frustration, die auf die Dauer entweder zur Gleichgültigkeit oder zu einer feindseligen Einstellung führen können. Auf längere Sicht dürften solche Praktiken nicht einmal die Effizienz erhöhen, weil sie das Unternehmen und die Allgemeinheit zweifellos teuer zu stehen kommen.

Eine andere allgemein verbreitete Praxis bei der Organisation der Arbeit besteht darin, dass man die Elemente der Kreativität (bei denen immer ein gewisses Risiko und eine bestimmte Ungewissheit mitgegeben ist) sowie die Zusammenarbeit ständig mehr in den Hintergrund treten lässt, indem man die Aufgaben so weit aufteilt und unterteilt, bis kein persönlicher Überblick und kein zwischenmenschlicher Kontakt mehr übrigbleibt oder auch nur als wünschenswert angesehen würde. Arbeiter und Techniker sind gegen diesen Prozess übrigens keineswegs unempfindlich. Sie sind sich oft ihrer Frustration durchaus bewusst und sprechen auch darüber. Äußerungen wie „Wir sind doch Menschen“ oder „Das ist keine Arbeit für menschliche Wesen“ sind nicht selten. Auch hier zeigt sich, dass Effizienz im engeren Sinn auf den Einzelnen und die Gesellschaft demoralisierend wirken kann. Wenn wir uns nur für die Zahlen von Input und Output interessieren, kann ein System recht effizient erscheinen. Betrachten wir aber auch die Auswirkungen der angewandten Methoden auf die betreffenden menschlichen Wesen, so können wir entdecken, dass sie gelangweilt, ängstlich, niedergedrückt, angespannt oder dergleichen sind. Das hat zweierlei Folgen: Erstens ist zu erwarten, dass ihr Vorstellungsvermögen durch ihr psychisches Leiden behindert wird, dass sie unschöpferisch werden, dass ihr Denken routinemäßig und bürokratisch wird und dass sie dementsprechend nicht mit neuen Ideen und Lösungen kommen, die zu einer produktiven Weiterentwicklung des Systems beitragen könnten. Aufs Ganze gesehen dürfte ihre Energie beträchtliche Einbußen erleiden. Zweitens werden sie vermutlich unter zahlreichen körperlichen Beschwerden leiden, wie sie durch Stress und Anspannungen hervorgerufen werden. Auch diese Beeinträchtigung der Gesundheit bedeutet für das System einen Verlust. Bedenkt man überdies, in welch ungünstiger Weise sich diese Spannung und Angst auf ihre Beziehungen zu ihrer Frau und ihren Kindern und auf ihre Funktion als verantwortungsvolle Bürger auswirkt, so kann sich herausstellen, dass die scheinbar so effiziente Methode für das System als Ganzes höchst ineffizient ist, und das nicht nur an menschlichen Überlegungen, sondern auch an rein ökonomischen Kriterien gemessen.

Zusammenfassend ist zu sagen: Bei jeder zielgerichteten Tätigkeit ist eine große Effizienz gewiss wünschenswert, doch sollte dieser Nutzeffekt auch im Hinblick auf die umfassenderen Systeme beurteilt werden, von denen das untersuchte System nur ein Teil ist, und man sollte auch den Faktor Mensch in dem System mitberücksichtigen. Schließlich sollte die Effizienz als solche in keinem Unternehmen einfachhin dominierend sein.

Der andere Aspekt des gleichen Prinzips, nämlich das Streben nach maximalem Output, bedeutet – einfach ausgedrückt: Gleich was wir produzieren, je mehr wir produzieren, umso besser. Der wirtschaftliche Erfolg eines Landes wird am [IV-287] Anstieg seiner Gesamtproduktion gemessen. Das gleiche gilt für den Erfolg eines Unternehmens. Ford kann durch den Misserfolg mit einem kostspieligen neuen Modell wie dem „Edsel“ mehrere hundert Millionen Dollar verlieren, doch bedeutet das nur einen geringfügigen Fehlschlag, solange die Produktionskurve ansteigt. Das Wirtschaftswachstum wird an der ständig zunehmenden Produktion gemessen, und man kann sich noch keine Grenze vorstellen, wo die Produktion stabilisiert werden könnte. Auch die einzelnen Länder werden nach diesem Prinzip miteinander verglichen: Die Sowjetunion hofft die Vereinigten Staaten dadurch zu überrunden, dass sie ein schnelleres Wirtschaftswachstum erzielt.

Nicht nur die industrielle Produktion wird vom Prinzip einer ständigen Beschleunigung beherrscht, der keine Grenzen gesetzt sind, auch das Erziehungssystem richtet sich nach demselben Grundsatz: Je mehr College-Absolventen, umso besser. Das gleiche gilt für den Sport, wo jeder neue Rekord als Fortschritt angesehen wird. Sogar das Wetter scheint man nach demselben Prinzip zu beurteilen. Man betont, das sei „der heißeste Tag in den letzten zehn Jahren“ gewesen – oder je nachdem auch der kälteste – und ich habe den Eindruck, dass manche Leute sich durch das stolze Gefühl, die Rekordtemperatur miterlebt zu haben, über die damit verbundenen Unannehmlichkeiten hinwegtrösten. Man könnte noch endlos weitere Beispiele dafür anführen, dass eine ständige Vermehrung der Quantität das Ziel unseres Lebens ist. Tatsächlich geht es dabei um genau das, was man unter „Fortschritt“ versteht.

Nur wenige fragen noch nach der Qualität oder danach, wozu diese ganze Vermehrung der Quantität eigentlich gut sein soll. Dass dies nicht geschieht, ist unverkennbar in einer Gesellschaft, in deren Mittelpunkt nicht mehr der Mensch steht und in der ein bestimmter Aspekt, nämlich der der Quantität, alle anderen Aspekte erstickt hat. Es ist leicht einzusehen, dass diese Vorherrschaft des Prinzips, „je mehr, desto besser“, das gesamte System aus dem Gleichgewicht bringen wird. Wenn sich alle Anstrengungen darauf richten, mehr zu tun, verliert die Lebensqualität jede Bedeutung, und Tätigkeiten, die einst Mittel zum Zweck waren, werden zum Selbstzweck.[16]

Wenn der die Wirtschaft beherrschende Grundsatz lautet, immer noch mehr zu [IV-288] produzieren, dann muss der Verbraucher bereit sein, immer mehr zu kaufen – das heißt immer mehr zu konsumieren. Die Industrie verlässt sich nicht mehr auf die spontanen Wünsche der Verbraucher nach immer neuen Gebrauchsgütern. Durch das von vornherein eingebaute Veralten zwingt sie ihre Kunden, neue Dinge zu kaufen, obwohl die alten an sich oft noch weit länger halten könnten. Durch Änderungen in der Formgebung von Industrieerzeugnissen aller Art, einschließlich Kleidern und sogar Nahrungsmitteln, zwingt sie sie psychologisch, mehr zu kaufen, als sie tatsächlich brauchen oder haben möchten. Aber die Industrie verlässt sich in ihrem Streben nach steigender Produktion nicht so sehr auf die Bedürfnisse und Wünsche des Verbrauchers als auf seine Beeinflussung durch die Werbung, welche die wichtigste Offensive gegen das Recht des Verbrauchers darstellt, selbst zu wissen, was er braucht. Wenn in den Vereinigten Staaten 1966 16,5 Milliarden Dollar für die Direktwerbung (in Zeitungen, Magazinen, Radio und Fernsehen) ausgegeben wurden, so mag das wie eine unvernünftige Vergeudung von menschlichen Talenten, von Papier und Druckerschwärze aussehen. Aber es ist gar nicht so unvernünftig in einem System, das auf dem Standpunkt steht, dass die Steigerung der Produktion und damit des Konsums für unser Wirtschaftssystem von wesentlicher Bedeutung ist und dass dieses sonst zusammenbrechen würde. Wenn wir zu den Kosten für die Werbung noch die beträchtlichen Ausgaben für die veränderte Formgebung von haltbaren Verbrauchsgütern, besonders von Autos und Verpackungen rechnen, welche teilweise keine andere Aufgabe hat, als dem Verbraucher neuen Appetit zu machen, so wird deutlich, dass die Industrie bereit ist, einen hohen Preis für die Steigerung der Produktion und das Ansteigen der Verkaufskurven zu bezahlen. (Das Problem, ob die unbegrenzte Steigerung der Produktion und des Konsums eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellt, wird im fünften Kapitel behandelt.)

Die Angst der Industrie vor den Folgen für unsere Wirtschaft, wenn unser Lebensstil sich ändern würde, kommt in folgender Äußerung eines führenden Investmentfachmanns prägnant zum Ausdruck:

Die Kleidung würde um ihrer Nützlichkeit willen erworben, Nahrungsmittel würden wegen ihrer Billigkeit und ihres Nährwertes gekauft, Automodelle würden auf das Wesentliche beschränkt und vom gleichen Besitzer während der gesamten zehn oder fünfzehn Jahre ihrer Lebensdauer gefahren, Häuser würden allein als Unterkunft und ohne Rücksicht auf ihren Stil oder die Nachbarschaft gebaut und instand gehalten. Und was würde aus unserem Markt, der auf ständig neue Modelle, neue Formen und neue Ideen angewiesen ist? (P. Mazur, 1953, S. 32) [IV-289]

Wirkung auf den Menschen

Welche Wirkung hat diese Art der Organisation auf den Menschen? Sie reduziert ihn zu einem Teil der Maschine, der von deren Rhythmus und Erfordernissen beherrscht wird. Sie verwandelt ihn in den homo consumens, in den totalen Konsumenten, dessen einziges Ziel es ist, immer mehr zu haben und zu benutzen. Diese Gesellschaft produziert viele nutzlose Dinge und im gleichen Maß auch viele nutzlose Menschen. Als Zahnrädchen in der Produktionsmaschine wird der Mensch zu einem Ding und hört auf, menschlich zu sein. Er verbringt seine Zeit mit Tätigkeiten, die ihn nicht interessieren, mit Leuten, die ihn nicht interessieren und mit der Herstellung von Dingen, die ihn nicht interessieren, und wenn er gerade nicht produziert, so konsumiert er. Er ist der ewige Säugling mit dem offenen Mund, der ohne Anstrengung und ohne innere Aktivität alles in sich aufnimmt, was ihm die seine Langeweile vertreibende (und Langeweile erzeugende) Industrie gerade aufnötigt – Zigaretten, Alkohol, Filme, Fernsehen, Sport, Lektüre –, und alldem setzt einzig seine Zahlungsfähigkeit eine gewisse Grenze. Aber die die Langeweile vertreibenden, d.h. die Zeitvertreib verkaufenden Industrien – die Autoindustrie, die Filmindustrie, die Fernsehindustrie und so weiter – können lediglich verhindern, dass die Langeweile uns ins Bewusstsein dringt. In Wirklichkeit vergrößern sie sogar noch die Langeweile, so wie Salzwasser, das man trinkt, um seinen Durst zu löschen, diesen nur noch verstärkt. Langeweile bleibt Langeweile, auch wenn sie dem Betreffenden nicht bewusst ist.[17]

Das Untätigsein des Menschen der heutigen Industriegesellschaft ist einer seiner besonders charakteristischen pathologischen Züge. Er nimmt alles in sich auf, er will gefüttert werden, aber er bewegt sich nicht, er leitet nichts in die Wege, gewissermaßen verdaut er seine Nahrung nicht. Er erwirbt das Ererbte nicht auf produktive Weise neu, sondern er häuft es an oder konsumiert es. Er leidet unter einem schweren Systemversagen, das dem nicht unähnlich ist, das man in extremerer Form bei depressiven Menschen findet.

Das Untätigsein des Menschen ist nur ein Symptom eines Gesamtsyndroms, das man als das „Entfremdungssyndrom“ bezeichnen könnte. Da er untätig ist, tritt er nicht aktiv mit der Welt in Beziehung und sieht sich gezwungen, sich seinen Götzen und deren Forderungen zu unterwerfen. Daher fühlt er sich machtlos, einsam und angsterfüllt. Er besitzt kaum ein Gefühl der Integrität oder der Identität mit sich selbst. Konformität erscheint ihm als die einzige Möglichkeit, eine unerträgliche Angst zu vermeiden – und selbst die Konformität erleichtert ihm nicht immer seine Angst.

Unter den amerikanischen Autoren hat diese Dynamik keiner klarer erkannt als Thorstein Veblen. Er schreibt:

In allen bisherigen Formulierungen der Wirtschaftstheorie, ob sie von Wirtschaftswissenschaftlern in England oder vom Kontinent stammen, herrscht eine hedonistische Vorstellung von dem Menschenmaterial, mit dem sich die Untersuchung beschäftigt, das heißt einer passiven und ihrem Wesen nach trägen und unveränderlichen, vorgegebenen menschlichen Natur. (...) Die hedonistische Auffassung vom Menschen sieht in diesem einen blitzschnellen Kalkulator von Lust und Schmerz [IV-290] oder auch ein aufgehängtes Kügelchen des Glücksstrebens, das unter dem Impuls von Reizen im Raum umherschwingt, die es zwar anstoßen, aber nicht verändern. Für ihn gibt es weder ein Vorher noch ein Nachher. Er ist eine isolierte, abgegrenzte menschliche Gegebenheit, die sich in stabilem Gleichgewicht befindet, wenn sie nicht von den auf sie einwirkenden Kräften in die eine oder die andere Richtung gestoßen wird. Nachdem er sich selbst im elementaren Raum ausgesetzt hat, rotiert er symmetrisch um die eigene geistige Achse, bis er in das Kräfteparallelogramm gerät und die Richtung der Resultanten einschlägt. Wenn die Kraft des Anstoßes verbraucht ist, so kommt er zur Ruhe und ist wieder das selbstgenügsame Kügelchen des Glücksstrebens. Geistig ist der hedonistische Mensch kein Erster Beweger. Er ist nicht Sitz eines Lebensprozesses, es sei denn in dem Sinn, dass eine Reihe von Permutationen mit ihm vorgenommen werden, die ihm durch äußere, ihm selbst fremde Umstände aufgezwungen werden (Th. Veblen, 1919, S. 73; Hervorhebung E. F.).

Neben den auf Untätigsein beruhenden pathologischen Zügen gibt es noch andere, die für das Verständnis der heutigen pathologischen Normalität von Bedeutung sind. Ich meine die zunehmende Abspaltung der rein verstandesmäßigen Funktionen von der affektiv-emotionalen Erfahrung, die Kluft zwischen Denken und Fühlen, zwischen Geist und Herz, zwischen Wahrheit und Leidenschaft.

Logisches Denken muss nicht schon vernünftig (rational) sein, wenn es ausschließlich logisch ist. Paranoides Denken etwa ist dadurch gekennzeichnet, dass es zwar völlig logisch sein kann, sich aber in keiner Weise für die Realität interessiert oder konkret danach fragt. Logik schließt also Wahnsinn nicht aus. Logisches Denken ist nicht vernünftig, wenn es nicht von der Sorge um das Leben geleitet wird und wenn es den Vollzug des Lebens in seiner ganzen Konkretheit und mit all seinen Widersprüchen außer acht lässt. Andererseits kann nicht nur das Denken, sondern können auch Emotionen vernünftig sein. „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point“ (Das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß) sagt Pascal. Rationalität im Gefühlsleben bedeutet, dass die Emotionen die psychische Struktur des Betreffenden bestätigen, dass sie mithelfen, sie in harmonischem Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig ihrem Wachstum förderlich sind. So ist eine irrationale Liebe beispielsweise eine Liebe, welche die Abhängigkeit des Betreffenden und damit seine Angst und Feindseligkeit vergrößert. Eine rationale Liebe dagegen ist eine Liebe, bei der ein Mensch innig auf einen anderen bezogen ist, während sie ihm gleichzeitig seine Unabhängigkeit und Integrität bewahrt. Vernunft erwächst aus einer Mischung von rationalem Denken und Fühlen. Werden beide Funktionen auseinandergerissen, so entartet das Denken zu einer schizoiden intellektuellen Aktivität, und das Gefühl entartet zu neurotischen, das Leben schädigenden Leidenschaften.

Die Spaltung zwischen Denken und Fühlen führt zu einer Erkrankung, zu einer leichten chronischen Schizophrenie, an welcher der neue Mensch des technotronen Zeitalters zu leiden beginnt. In den Sozialwissenschaften ist es Mode geworden, über menschliche Probleme nachzudenken, ohne sich um die mit diesen Problemen verbundenen Gefühle zu kümmern. Man steht auf dem Standpunkt, die wissenschaftliche Objektivität verlange, dass die den Menschen betreffenden Gedanken und Theorien von aller emotionalen Besorgnis um den Menschen frei bleiben müssten. [IV-291]

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120326
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Eugene McCarthy Politik Gesellschaftskritik Humanismus Menschenbild Nekrophilie
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Titel: Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik