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Psychoanalyse und Religion

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch aus dem Jahr 1950 hat Fromm erstmals seine Ansichten zur Religion veröffentlicht. Sie sind von seiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse ebenso beeinflusst, wie von seiner Auseinandersetzung mit nicht-theistischen Religionen und der Mystik.

Fromms Sicht der Religion ist stark davon geprägt, dass er ein autoritäres Religionsverständnis einem humanistischen gegenüberstellt – eine Kontrastierung, die auf der in Psychoanalyse und Ethik ausgeführten Unterscheidung zwischen einer nicht-produktiven und der produktiven Charakterorientierung aufbaut.

Da institutionalisierte Volksreligionen in der Regel an den nicht-produktiven Gesellschafts-Charakterorientierungen partizipieren, haben sie nur zu oft negative Wirkungen für das Gelingen des Menschen. Diese Erkenntnis führt bei Fromm zu einer deutlichen Religionskritik, obwohl für ihn das Phänomen des Religiösen ein urmenschliches Phänomen ist.

Fromms kritische Auseinandersetzung mit autoritären Religionsphänomenen provozierte eine zum Teil heftig geführte Auseinandersetzung vor allem mit christlichen Theologen des angelsächsischen Raums, die sich gegen Fromms Kritik am calvinistisch geprägten Protestantismus zur Wehr setzten und nicht müde wurden, sein humanistisches Religionsverständnis in Frage zu stellen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Dieses Buch[1] kann als Fortsetzung der in Psychoanalyse und Ethik (1947a) niedergelegten Gedanken angesehen werden, die eine Untersuchung der Psychologie der Ethik sind. Ethik und Psychologie sind einander nahe verwandt, und darum überschneiden ihre Gebiete einander bisweilen. Doch habe ich in diesem Buch versucht, den Schwerpunkt auf die Religion zu legen, während er in Psychoanalyse und Ethik ganz und gar auf der Ethik lag.

Die in den folgenden Kapiteln dargestellten Ansichten sind keineswegs kennzeichnend für die „Psychoanalyse“ überhaupt. Es gibt Psychoanalytiker, die praktizierende Anhänger einer Religion sind, und andere, welche religiöse Interessen für ein Symptom ungelöster emotionaler Konflikte halten. Die Stellung, die in diesem Buche eingenommen wird, weicht von beiden Haltungen ab und ist höchstens charakteristisch für die Überzeugung einer dritten Gruppe von Psychoanalytikern.

An dieser Stelle möchte ich meiner Frau[2] danken, nicht nur für die zahlreichen Anregungen, die ich unmittelbar verwerten konnte, sondern weit darüber hinaus für das, was ich ihrem durchdringenden Forschergeist verdanke und was so viel zu meiner eigenen Entwicklung beigetragen hat, dass meine Gedanken über Religion davon mitgeprägt sind.

E. F.

1. Das Problem

Nie zuvor war der Mensch der Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen so nahe wie heute. Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Errungenschaften befähigen uns, den Tag vorauszusehen, an dem der Tisch für alle Hungrigen gedeckt sein wird – einen Tag, an dem das Menschengeschlecht eine einzige Gemeinschaft bilden und nicht mehr in getrennten Einheiten leben wird. Tausende von Jahren waren nötig für diese Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, für sein wachsendes Vermögen, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen und seine Kräfte zweckorientiert zu gebrauchen. Der Mensch hat eine neue Welt mit eigenen Gesetzen und eigenem Schicksal geschaffen. Wenn er seine Schöpfung betrachtet, kann er sagen: Wahrlich, sie ist gut.

Aber was kann er sagen, wenn er sich selbst betrachtet? Ist er der Verwirklichung eines anderen Traumes der Menschheit nähergekommen – dem von der Vervollkommnung des Menschen? Des Menschen, der seinen Nächsten liebt, Gerechtigkeit übt, die Wahrheit spricht und das zur Wirklichkeit gemacht hat, was er der Möglichkeit nach ist – das Ebenbild Gottes?

Die Frage aufwerfen, heißt uns Pein bereiten, denn die Antwort ist so schmerzlich eindeutig. Während wir wunderbare Dinge geschaffen haben, versäumten wir, uns selber zu Wesen zu machen, welche dieser gewaltigen Anstrengung wert wären. Unser Leben ist nicht das der Brüderlichkeit, des Glücks und der Zufriedenheit, sondern es gleicht einem geistigen Chaos und einer Verworrenheit, die einem Zustand des Verrücktseins gefährlich nahekommt – nicht jener hysterischen Form von Verrücktheit, die es im Mittelalter gab, sondern einer Verrücktheit, welche der Schizophrenie verwandt ist, bei der der Kontakt mit der inneren Realität verlorengegangen, und bei der das Denken vom Gefühl abgespalten ist.

Sehen wir uns nur einiges aus dem Nachrichtenteil der Presse an, wie wir ihn täglich morgens und abends lesen. Als Reaktion auf die Wasserknappheit in New York ermahnen die Kirchen, um Regen zu beten, und gleichzeitig versuchen die Regenmacher, mit chemischen Mitteln Regen herzustellen. Mehr als ein Jahr lang wurde von fliegenden Untertassen berichtet. Die einen bestreiten ihr Vorhandensein, andere erklären sie für wirklich und der eigenen oder einer fremden Militärmacht zugehörig, [VI-231] während wiederum andere ernsthaft behaupten, es seien Maschinen, welche die Bewohner eines andern Planeten zu uns schickten. Man sagt uns, nie habe Amerika so gute Aussichten auf eine helle Zukunft gehabt wie jetzt um die Jahrhundertmitte; auf derselben Seite wird die Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges erörtert, und die Gelehrten streiten sich darüber, ob die Atomwaffen zur Zerstörung des Erdballs führen werden oder nicht.

Die Leute gehen in die Kirchen und hören Predigten, in denen die Grundsätze der Liebe und der Barmherzigkeit gepriesen werden; und dieselben Leute würden sich für Narren oder Schlimmeres halten, wenn sie Bedenken hätten, einem Kunden etwas aufzuschwatzen, wovon sie wissen, dass es über seine Verhältnisse geht. Kinder lernen in der Sonntagsschule, dass Ehrlichkeit, Lauterkeit und die Sorge um das Seelenheil die leitenden Prinzipien des Lebens sein sollten, während „das Leben“ lehrt, dass die Befolgung dieser Grundsätze uns bestenfalls zu weltfremden Träumern macht. Wir haben die erstaunlichsten Möglichkeiten der Mitteilung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, und zugleich werden wir täglich mit einem Unsinn gefüttert, der für den Verstand von Kindern beleidigend wäre, würden diese nicht damit großgezogen. Viele Stimmen verkünden, unsere Lebensweise mache uns glücklich. Aber wie viele Menschen unserer Zeit sind glücklich? Es ist interessant, sich an eine zufällige Aufnahme zu erinnern, die kürzlich in der Zeitschrift „Life“ erschien. Eine Gruppe von Menschen wartet an einer Straßenecke auf das grüne Licht. Was an diesem Bilde so auffällig war und so aufrüttelnd wirkte, war der im Text erklärte Umstand, dass diese Menschen, die alle wie gelähmt und verängstigt aussahen, nicht etwa einen schrecklichen Verkehrsunfall mitangesehen hatten, sondern beliebige Leute waren, die ihren Geschäften nachgingen.

Wir klammern uns an den Glauben, wir seien glücklich; wir lehren unsere Kinder, dass wir es weiter gebracht haben als irgendeine frühere Generation und dass im Endeffekt kein Wunsch unerfüllbar und nichts uns unerreichbar sein werde. Der äußere Anschein unterstützt diesen Glauben, der uns unablässig eingehämmert wird.

Aber hören unsere Kinder eine Stimme, die ihnen sagt, wohin sie gehen und wofür sie leben? Irgendwie fühlen sie, wie alle menschlichen Wesen, dass das Leben einen Sinn haben muss – aber welchen? Finden sie ihn in den Widersprüchen, in Doppelzüngigkeiten und der zynischen Resignation, der sie auf Schritt und Tritt begegnen? Sie sehnen sich nach Glücksgefühl, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Liebe, nach einem Objekt der Hingabe – vermögen wir ihr Verlangen zu befriedigen?

Wir sind ebenso hilflos wie sie. Wir kennen die Antwort nicht, weil wir sogar vergessen haben, die Frage zu stellen. Wir geben vor, unser Leben habe eine feste Grundlage und leugnen die Schatten des Unbehagens, der Angst und der Verwirrung, die uns nie verlassen.

Manche Menschen halten die Rückkehr zur Religion für die Antwort; doch nicht als einen echten Glaubensakt, sondern um quälenden Zweifeln zu entgehen; sie entscheiden sich dafür nicht aus Hingabe, sondern aus Sicherheitsbedürfnis. Wer die gegenwärtige Zeit erforscht und wessen Hauptanliegen nicht die Kirche, sondern die Seele des Menschen ist, sieht in einem solchen Schritt ein weiteres Symptom für die Schwäche unserer Lebenskraft. [VI-232]

Diejenigen, welche die Lösung in einer Rückkehr zur traditionellen Religion sehen, sind von einer Auffassung beeinflusst, die häufig von Religionsanhängern vorgebracht wird, nämlich dass wir zu wählen hätten zwischen Religion und einer Lebensweise, die sich einzig um die Befriedigung unserer instinktiven Bedürfnisse und materiellen Annehmlichkeiten kümmert; dass wir, wenn wir nicht an Gott glauben, keinen Grund – und kein Recht – hätten, an die Seele und ihre Forderungen zu glauben. Priester und Seelsorger scheinen die einzigen Berufe zu sein, die sich mit der Seele befassen, die einzigen Anwälte für die Ideale Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit.

Geschichtlich ist dies nicht ganz zutreffend. Während in einigen Kulturen, wie der ägyptischen, die Priester die „Seelenärzte“ waren, lag diese Aufgabe z.B. in Griechenland mindestens teilweise in den Händen der Philosophen. Sokrates, Plato und Aristoteles behaupteten nicht, im Namen irgendeiner Offenbarung zu sprechen; vielmehr beriefen sie sich auf die Autorität der Vernunft und auf ihr Anliegen, dem Menschen zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele zu verhelfen. Sie beschäftigten sich mit dem Menschen als einem Selbstzweck und sahen in ihm den wichtigsten Gegenstand der Forschung. Ihre Abhandlungen über Philosophie und Ethik waren zugleich Werke der Psychologie. Diese Tradition der Antike hat die Renaissance fortgeführt, und es ist sehr charakteristisch, dass das erste Buch, das in seinem Titel das Wort Psychologie enthält, den Untertitel trägt: Hoc est, de hominis perfectione („Das heißt: Von der Vervollkommnung des Menschen“, R. Goeckel, 1590).[3] Zur Zeit der Aufklärung erreichte diese Tradition ihren Höhepunkt. Aufgrund ihres Glaubens an die menschliche Vernunft bejahten die Philosophen der Aufklärung, die zugleich Seelenforscher waren, die Unabhängigkeit des Menschen von politischen Fesseln ebenso sehr wie von den Banden des Aberglaubens und der Unwissenheit. Sie lehrten ihn, sich gegen Existenzbedingungen zu wehren, welche die Aufrechterhaltung von Illusionen verlangten. Ihre psychologische Forschung wurzelte in dem Versuch, die Bedingungen des menschlichen Glücks zu entdecken. Ein Zustand des Glücklichseins, sagten sie, könne nur erreicht werden, wenn der Mensch innere Freiheit erlangt habe. Nur dann vermöge er geistig gesund zu sein. Doch hat der Rationalismus der Aufklärung bei den darauf folgenden Generationen einen drastischen Wandel erfahren. Berauscht von einem neuen materiellen Wohlstand und vom Erfolg bei der Beherrschung der Natur, hat der Mensch aufgehört, sich selbst für das Wesentliche des Lebens und den wichtigsten Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung zu halten. Statt mit der Vernunft die Wahrheit zu entdecken und mit ihr durch die Oberfläche hindurch zum Wesen der Phänomene vorzudringen, setzte man auf den technischen Verstand[4] als einem bloßen Werkzeug zur Manipulation der Dinge und Menschen. Der Mensch hat aufgehört zu glauben, dass die Kraft der Vernunft die Gültigkeit von Normen und Ideen für das menschliche Verhalten begründen kann.

Dieser Wandel des intellektuellen und emotionalen Klimas hat einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft gehabt. Ungeachtet gewisser Ausnahmen, wie Nietzsche und Kierkegaard, wurde die Tradition, nach der die Psychologie die Erforschung der Seele im Blick auf des Menschen Tugend und Glück war, verlassen. Die akademische Psychologie beschäftigte sich, indem sie die Naturwissenschaften und deren Laboratoriumsmethoden des Wägens und Zählens [VI-233] nachahmte, mit allem, ausgenommen der Seele. Sie versuchte, jene Aspekte des Menschen zu verstehen, die im Laboratorium geprüft werden können, und behauptete, das Gewissen, die Werturteile, das Wissen um Gut und Böse seien metaphysische Vorstellungen, deren Abklärung außerhalb der Aufgaben der Psychologie liege; sie befasste sich weit häufiger mit unbedeutenden Problemen, für welche die angeblich wissenschaftlichen Methoden passten, als mit der Ausarbeitung neuer Methoden zum Studium der wesentlichen Probleme des Menschen. Damit wurde die Psychologie zu einer Wissenschaft, deren Hauptgegenstand, die Seele, fehlte. Sie befasste sich mit Mechanismen, Reaktionsbildungen, Trieben, jedoch nicht mit den ganz spezifisch menschlichen Phänomenen: mit der Liebe, der Vernunft, dem Gewissen und den Werten. Weil mit dem Wort Seele Assoziationen verbunden sind, die auf diese höheren Kräfte des Menschen deuten, benutze ich es hier und in den folgenden Kapiteln häufiger als die Ausdrücke „Psyche“ oder „Geist“.

Dann kam Freud, der letzte große Vertreter des Rationalismus der Aufklärung und zugleich der erste, der dessen Grenzen an den Tag brachte. Er wagte es, die Lobgesänge über den Triumph des instrumentellen Verstandesdenkens[5] zu unterbrechen. Er zeigte, dass die Vernunft die wertvollste und eigentümlichste Kraft des Menschen ist, dass sie jedoch der verzerrenden Einwirkung der Leidenschaften unterworfen sei, und dass einzig das Verstehen der Leidenschaften des Menschen seine Vernunft so befreien kann, dass er den richtigen Gebrauch davon macht. Er wies sowohl die Macht als auch die Schwächen der menschlichen Vernunft auf und erhob den Satz „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Jo 8,32) zum leitenden Prinzip einer neuen Heilmethode.

Zuerst meinte Freud, er habe es nur mit bestimmten Krankheiten und ihrer Heilung zu tun. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er weit über das Gebiet der Medizin hinausgegangen war und eine Tradition wieder aufgenommen hatte, in der die Psychologie, indem sie die Seele des Menschen erforscht, die theoretische Grundlage für die Kunst des Lebens und für das Erlangen von Glück war.

Freuds Methode, die Psychoanalyse, ermöglichte höchst genaue und gründliche Erforschung der Seele. Im „Laboratorium“ des Analytikers gibt es keinerlei Geräte. Er kann das Gefundene weder wägen noch zählen; aber Träume, Phantasien und Assoziationen geben ihm einen Einblick in die verborgenen Wünsche und Ängste seiner Patienten. In seinem „Laboratorium“, in dem er sich einzig auf Beobachtung, Vernunft und seine eigene Erfahrung als Mensch verlässt, macht er die Entdeckung, dass geistig-seelische Erkrankungen nur im Zusammenhang mit ethischen Problemen verstanden werden können: dass sein Patient krank ist, weil er die Forderungen seiner Seele vernachlässigt hat. Der Analytiker ist weder Theologe noch Philosoph und will in diesen Bereichen auch nicht kompetent sein. Aber als Seelenarzt hat er es mit genau den gleichen Problemen wie Philosophie und Theologie zu tun: mit der Seele des Menschen und ihrem Heil.

Wenn wir die Aufgabe des Psychoanalytikers in dieser Weise umschreiben, finden wir, dass gegenwärtig zwei Berufsgruppen um die Seele des Menschen bemüht sind: die Priester und die Psychoanalytiker. Wie verhalten sie sich zueinander? Versucht der Psychoanalytiker sich des Bereichs des Priesters zu bemächtigen und ist [VI-234] Gegensätzlichkeit zwischen ihnen unvermeidlich? Oder sind sie Verbündete, die nach den gleichen Zielen streben und deren Arbeitsgebiete sich ergänzen und ineinander übergreifen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis?

Den ersten dieser beiden Standpunkte haben sowohl Psychoanalytiker als auch Kirchenvertreter eingenommen. Freuds Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c) und Sheens Peace of Soul[6] betonen den Gegensatz. C. G. Jungs Psychologie und Religion (C. G. Jung, 1937) und Rabbi Liebmans Peace of Mind (J. L. Liebman, 1946) sind charakteristische Versuche, Psychoanalyse und Religion zu versöhnen. Die Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl von Seelsorgern sich mit der Psychoanalyse beschäftigt, ist ein Anzeichen dafür, wie weit dieser Glaube an eine Verbindung von Psychoanalyse und Religion schon in das Gebiet der seelsorgerlichen Praxis eingedrungen ist.

Wenn ich es unternehme, in dieser Schrift das Problem von Psychoanalyse und Religion aufs Neue zu erörtern, dann darum, weil ich zeigen möchte, dass es trügerisch ist, ein Entweder-oder des unversöhnlichen Gegensatzes einerseits oder der Gleichheit der Interessen andererseits aufzustellen. Vielmehr kann eine gründliche und unvoreingenommene Untersuchung zeigen, dass die Beziehung zwischen Religion und Psychoanalyse zu vielgestaltig ist, um mit der einen oder andern dieser beiden einfachen und bequemen Einstellungen gleichgesetzt werden zu können.

Ich möchte zeigen, wie falsch es ist, wenn behauptet wird, wir müssten auf die Beschäftigung mit der Seele verzichten, wenn wir nicht die Lehrsätze der Religion akzeptierten. Der Psychoanalytiker ist in der Lage, die menschliche Wirklichkeit sowohl hinter der Religion als auch hinter den nicht-religiösen[7] Symbolsystemen zu untersuchen. Er kommt zu dem Schluss, dass es nicht darum geht, ob der Mensch zur Religion zurückkehrt und an Gott glaubt, sondern ob er die Liebe lebt und die Wahrheit denkt. Tut er das, dann ist es von zweitrangiger Bedeutung, welchem Symbolsystem er anhängt. Tut er das nicht, so ist es überhaupt ohne Bedeutung.

2. Freud und Jung

Freud hat das Problem von Psychoanalyse und Religion in einem seiner tiefgründigsten und geistreichsten Bücher, Die Zukunft einer Illusion, behandelt. Jung, der der erste Psychoanalytiker war, der verstanden hat, dass Mythen und religiöse Ideen der Ausdruck tiefer Einsichten sind, hat dasselbe Thema in den Terry-Vorlesungen 1937 behandelt (publiziert unter dem Titel Psychologie und Religion).

Wenn ich jetzt versuche, eine kurze Zusammenfassung der Stellungnahme beider Psychoanalytiker zu geben, so geschieht es zu einem dreifachen Zweck:

  1. um anzugeben, wo die Diskussion des Problems jetzt steht und welches der Ausgangspunkt für meine Darlegungen ist;
  2. um durch die Erörterung von einigen grundlegenden Begriffen Freuds und Jungs die Grundlagen für die Darlegungen der folgenden Kapitel zu geben;
  3. um die weitverbreitete Meinung zu korrigieren, Freud sei „gegen“ und Jung „für“ Religion. Dies wird uns erlauben, das Trügerische solcher Übervereinfachungen in diesem komplexen Bereich einzusehen und die Zweideutigkeit der Ausdrücke „Religion“ und „Psychoanalyse“ zu untersuchen.

Welche Stellung nimmt Freud zur Religion in Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c) ein?

Für Freud liegt der Ursprung der Religion in der Hilflosigkeit des Menschen angesichts der Naturkräfte außer ihm und der Triebkräfte in ihm. Religion entsteht nach Freud in den Frühstadien der menschlichen Entwicklung, wo der Mensch noch nicht imstande ist, seine Vernunft zur Bewältigung dieser äußeren und inneren Kräfte zu gebrauchen; er muss sie entweder verdrängen oder mit Hilfe anderer affektiver Kräfte mit ihnen fertig werden. Statt diesen Kräften mit Hilfe der Vernunft gewachsen zu sein, bewältigt er sie mit „Gegen-Affekten“, also mit anderen emotionalen Kräften, deren Aufgabe es ist, das zu unterdrücken und zu beherrschen, was er vernünftig zu bewältigen nicht imstande ist.

In diesem Prozess entwickelt der Mensch das, was Freud eine „Illusion“ nennt, deren Inhalt aus den eigenen Kindheitserfahrungen stammt. Angesichts gefährlicher, unkontrollierbarer und unverständlicher Kräfte innerhalb und außerhalb seiner selbst, erinnert er sich an früher und regrediert auf eine Kindheitserfahrung, als er sich von einem Vater beschützt fühlte, dem er überlegene Weisheit und Stärke zuschrieb und [VI-236] dessen Liebe und Schutz er gewinnen konnte, wenn er seinen Befehlen gehorchte und vermied, seine Verbote zu missachten.

Auf diese Weise ist die Religion nach Freud eine Wiederholung der Kindheitserfahrung. Der Mensch bewältigt die bedrohlichen Kräfte in eben jener Weise, in der er als Kind lernte, mit seiner eigenen Unsicherheit fertig zu werden, nämlich dadurch, dass er sich auf seinen Vater verließ, ihn bewunderte und fürchtete. Freud vergleicht die Religion mit den Zwangsneurosen, wie wir sie bei Kindern finden. Und nach ihm ist Religion eine kollektive Neurose, durch ähnliche Bedingungen verursacht wie diejenigen, welche Kinderneurosen hervorrufen.

Freuds Analyse der psychologischen Wurzeln der Religion versucht zu zeigen, warum die Menschen auf die Idee von einem Gott kamen. Aber er behauptet, zu mehr als nur zu diesen psychologischen Wurzeln vorzustoßen. Er behauptet, die Irrealität der theistischen Auffassung erwiesen zu haben, indem er sie als eine Illusion beschrieb, die der Wunschwelt des Menschen entspringt.[8]

Freud geht noch über den Versuch, den Illusionscharakter der Religion aufzuzeigen, hinaus. Er erklärt die Religion für eine Gefahr, weil sie dazu neige, schlechte menschliche Institutionen zu sanktionieren, mit denen sie sich im Verlauf ihrer Geschichte verbunden habe; ferner, weil sie die Menschen lehre, an eine Illusion zu glauben, und weil sie das kritische Denken verbiete und deshalb für die Verarmung des Vernunftvermögens verantwortlich sei.[9] Diese Anklage wurde, ebenso wie die erste, von den Denkern der Aufklärung gegen die Kirche erhoben. Aber in Freuds Bezugsrahmen bekommt der zweite Vorwurf eine noch größere Bedeutung, als er sie im achtzehnten Jahrhundert hatte. Freud vermochte in seiner analytischen Arbeit zu zeigen, dass, wird in einem Bereich das kritische Denken verboten, dies zu einer Schwächung der kritischen Fähigkeiten auch auf anderen Gebieten führt und damit die Kraft der Vernunft hemmt. Freuds dritter Einwand gegen die Religion lautet, dass sie die Moral auf einen sehr unsicheren Grund stelle. Wenn die Gültigkeit ethischer Normen darauf beruht, dass sie Gottes Gebote sind, so steht und fällt die Zukunft der Ethik mit dem Glauben an Gott. Da Freud als erwiesen ansieht, dass religiöser Glaube mit der Zeit aufhört, muss er zwangsläufig annehmen, dass der Fortbestand der Verbindung von Religion und Ethik zur Zerstörung unserer moralischen Werte führen werde.

Die Gefahren, die Freud in der Religion sieht, machen deutlich, dass seine eigenen [VI-237] Ideale und Werte genau diejenigen sind, die er von der Religion bedroht glaubt: Vernunft, Verminderung des menschlichen Leidens und sittliches Verhalten. Doch brauchen wir uns nicht an Folgerungen aus Freuds Kritik an der Religion zu halten. Er hat sehr nachdrücklich gesagt, welches die Normen und Ideale sind, an die er glaubt: Menschenliebe, Wahrheit und Freiheit. Vernunft und Freiheit hängen nach Freud wechselseitig voneinander ab. Wenn der Mensch seine Illusion eines väterlichen Gottes aufgibt, wenn er sich seines Alleinseins und seiner Bedeutungslosigkeit im Universum bewusst wird, wird er wie ein Kind sein, das sein Vaterhaus verlassen hat. Es ist jedoch das eigentliche Ziel der menschlichen Entwicklung, diese infantile Fixierung zu überwinden. Der Mensch muss sich dazu erziehen, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. Wenn er weiß, dass er sich auf nichts verlassen kann außer auf seine eigenen Kräfte, dann wird er lernen, sie richtig zu gebrauchen. Nur der freie Mensch, der sich von Autorität losgemacht hat – einer drohenden und beschützenden Autorität –, kann seine Vernunftkraft anwenden und objektiv die Welt und seine eigene Rolle darin erfassen, ohne Illusion, aber mit der Fähigkeit, die ihm innewohnenden Gaben zu entwickeln und zu gebrauchen. Nur wenn wir heranwachsen und aufhören, Kinder zu sein, die von einer Autorität abhängen und sie fürchten, können wir wagen, selbst zu denken. Das Umgekehrte ist aber ebenso wahr. Nur durch eigenes Denken vermögen wir uns von der Herrschaft der Autorität freizumachen. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam zu beachten, dass Freud erklärt, das Gefühl der Ohnmacht sei das Gegenteil religiösen Empfindens. Im Hinblick auf die Tatsache, dass viele Theologen – bis zu einem gewissen Grade, wie wir später sehen werden, auch Jung – das Gefühl der Abhängigkeit und Ohnmacht für den Kern religiöser Erfahrung halten, ist diese Aussage Freuds von großem Gewicht. Sie drückt, wenn auch mehr indirekt, seine eigene Auffassung von religiöser Erfahrung aus, nämlich als Gefühl der Unabhängigkeit und als Bewusstwerden der eigenen Kräfte. Ich werde später zu zeigen versuchen, dass dieser Unterschied eines der kritischen Probleme der Religionspsychologie ist.

Wenn wir uns nunmehr Jung zuwenden, finden wir beinahe an jedem Punkt das Gegenteil von Freuds Auffassung. Jung beginnt mit einer Erörterung der allgemeinen Prinzipien seiner Auffassung. Während Freud, ohne beruflich Philosoph zu sein, an das Problem vom psychologischen und philosophischen Standpunkt herangeht, wie es William James, Dewey und Macmurray getan haben, erklärt Jung zu Beginn seines Buches Psychologie und Religion: „Ich beschränke mich auf die Beobachtung von Phänomenen, und ich enthalte mich jeder metaphysischen oder philosophischen Betrachtungsweise.“ (C. G. Jung, 1937, S. 2.) Er fährt fort, indem er auseinandersetzt, warum er als Psychologe die Religion ohne Anwendung philosophischer Gedankengänge analysieren kann. Er nennt seinen Standpunkt

ausschließlich phänomenologisch; das will sagen, er beschäftigt sich mit Vorkommnissen, Ereignissen, Erfahrungen, kurz gesagt, mit Tatsachen. Seine Wahrheit ist ein Tatbestand, kein Urteil. Wenn die Psychologie zum Beispiel von dem Motiv der jungfräulichen Geburt spricht, so beschäftigt sie sich nur mit der Tatsache, dass es eine solche Idee gibt, aber sie beschäftigt sich nicht mit der Frage, ob eine solche Idee in irgendeinem Sinne wahr oder falsch sei. Die Idee ist psychologisch wahr, insoweit sie existiert. Psychologische Existenz ist [VI-238] subjektiv, insoweit eine Idee nur in einem Individuum vorkommt. Aber sie ist objektiv, insoweit sie durch einen consensus gentium von einer größeren Gruppe geteilt wird (C. G. Jung, 1937, S. 2; Hervorhebung E. F.).

Ehe ich Jungs Analyse der Religion darstelle, scheint es am Platze, ihre methodologischen Voraussetzungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Jungs Gebrauch des Begriffs Wahrheit ist unhaltbar. Er behauptet, „die Wahrheit ist ein Tatbestand, kein Urteil“, und „ein Elefant ist wahr, weil er existiert“ (C. G. Jung, 1937, S. 2 f.).

Jung vergisst, dass die Wahrheit sich immer und notwendigerweise auf ein Urteil bezieht und nicht auf die Beschreibung einer Erscheinung, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit einem Wortzeichen benennen. Jung stellt fest, eine Idee sei „psychologisch wahr, insofern sie existiert“ (C. G. Jung, 1937, S. 2). Aber eine Idee „existiert“ unabhängig davon, ob sie eine Wahnidee ist oder einem Sachverhalt entspricht. Das Vorhandensein einer Idee macht sie noch in keinem Sinne „wahr“. Sogar der praktizierende Psychiater könnte nicht arbeiten, ohne sich um die Wahrheit einer Idee zu kümmern, das heißt, um die Beziehung der Idee zu jenem Phänomen, das sie darstellen will. Ansonsten könnte er nicht von einer Wahnidee oder einem paranoiden System sprechen. Aber Jungs Ansatz ist nicht nur vom psychiatrischen Standpunkt her unhaltbar; er vertritt einen Relativismus, der, wiewohl Jung – oberflächlich gesehen – der Religion freundlicher gegenüberzustehen scheint als Freud, beispielsweise dem Juden- und dem Christentum sowie dem Buddhismus dem Geiste nach prinzipiell entgegengesetzt ist. Denn diese Religionen betrachten das Streben nach Wahrheit als eine der Kardinaltugenden und -verpflichtungen des Menschen und bestehen darauf, dass ihre Lehren, einerlei, ob sie durch Offenbarung oder nur kraft der Vernunft zustande gekommen sind, dem Kriterium der Wahrheit unterworfen sind.

Jung ist nicht blind gegenüber den Schwierigkeiten seiner Position, aber die Art, wie er sie zu lösen sucht, ist leider völlig unhaltbar. Er versucht, zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Existenz zu unterscheiden, obwohl die Dehnbarkeit dieser Ausdrücke offenkundig ist. Jung scheint zu denken, dass etwas Objektives gültiger und wahrer ist als etwas nur Subjektives. Sein Kriterium für den Unterschied zwischen subjektiv und objektiv hängt davon ab, ob eine Idee nur in einem Individuum lebendig ist oder von einer Gesellschaft aufgestellt ist. Aber waren wir nicht Zeuge einer folie à millions, der Verrücktheit ganzer Gesellschaften in unserem eigenen Zeitalter? Haben wir nicht erlebt, dass Millionen von Menschen, von ihren irrationalen Leidenschaften verführt, an Ideen glaubten, die nicht weniger wahnsinnig und irrational sind als die Hirngespinste eines einzigen Individuums? Was hat es zu bedeuten, wenn man sie für „objektiv“ erklärt? Die Geisteshaltung, aus der heraus zwischen subjektiv und objektiv unterschieden wird, ist die gleiche wie bei jenem Relativismus, von dem ich oben sprach. Genauer gesagt, es handelt sich dabei um einen soziologischen Relativismus, der die gesellschaftliche Billigung einer Idee zum Maßstab für ihre Gültigkeit, ihren Wahrheitsgehalt oder ihre „Objektivität“ macht.[10],[11]

Nach der Darlegung dieser methodologischen Voraussetzungen legt Jung seine [VI-239] Ansichten über das Zentralproblem dar: „Was ist Religion? Welches ist die Natur religiöser Erfahrungen?“ Seine Definition wird von vielen Theologen geteilt. Sie kann kurz so zusammen gefasst werden: Das Wesen religiöser Erfahrungen ist die Unterwerfung unter Mächte, die höher sind als wir selbst. Doch sollten wir lieber Jung selbst zitieren. Er erklärt: Religion ist „eine sorgfältige und gewissenhafte Beobachtung dessen, was Rudolf Otto treffend das ‘Numinosum’ genannt hat, nämlich eine dynamische Existenz oder Wirkung, die nicht von einem Willkürakt verursacht wird. Im Gegenteil, die Wirkung ergreift und beherrscht das menschliche Subjekt, welches immer viel eher ihr Opfer denn ihr Schöpfer ist“ (C. G. Jung, 1937, S. 3; Hervorhebungen am Ende E. F.). Nach der Definition der religiösen Erfahrung als Ergriffenwerden von einer Macht außer uns fährt Jung fort, den Begriff des Unbewussten als einer religiösen Größe zu interpretieren. Nach ihm kann das Unbewusste nicht einfach ein Teil des individuellen Geisteslebens sein, es ist vielmehr eine von uns unabhängige Macht, die sich unserem Geist aufdrängt.

Die Tatsache, dass man die Stimme (des Unbewussten) im eigenen Traum wahrnimmt, beweist gar nichts, denn man kann auch die Straßengeräusche wahrnehmen, und es würde niemandem einfallen, solche als die eigenen zu bezeichnen. Es gibt nur eine einzige Bedingung, unter der man die Stimme legitimerweise die eigene nennen könnte, wenn man nämlich annimmt, die bewusste Persönlichkeit sei der Teil eines Ganzen oder ein kleinerer Kreis, der in einem größeren enthalten ist. Ein kleiner Bankangestellter, der seinem Freund die Stadt zeigt und auf das Bankgebäude hinweist mit den Worten: „Und das hier ist meine Bank“, macht von demselben Vorrecht Gebrauch. (C. G. Jung, 1937, S. 42.)

Es ist eine notwendige Schlussfolgerung aus dieser Definition der Religion und des Unbewussten, wenn Jung zu dem Ergebnis kommt, angesichts der Natur des Unbewussten sei dessen Einfluss auf uns „ein grundlegendes religiöses Phänomen“ (C. G. Jung, 1937, S. 41). Daraus folgt weiter, Dogma und Traum seien beides religiöse Phänomene. weil beide der Ausdruck des Ergriffenseins von einer Macht außer uns sind. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, dass nach der Logik Jungs Geisteskrankheit ein eminent religiöses Phänomen genannt werden müsste.

Hält die populäre Meinung, Freud sei ein Feind und Jung ein Freund der Religion, unserer Prüfung der Haltung beider gegenüber der Religion stand? Ein Vergleich ihrer Ansichten zeigt, dass jene Behauptung eine irreführende Vereinfachung ist.

Freud ist der Auffassung, das Ziel der menschlichen Entwicklung sei die Erreichung folgender Ideale: Erkenntnis (Vernunft, Wahrheit, Logos), Menschenliebe, Verminderung des Leidens, Unabhängigkeit und Verantwortungsgefühl. Diese Ideale bilden den ethischen Kern aller großen Religionen, auf denen die westliche und die östliche Kultur beruht: der Lehren des Konfuzius und Lao-tse, Buddhas, der Propheten und Jesu. Gewiss gibt es bestimmte Akzentverschiebungen zwischen diesen Lehren, zum Beispiel, wenn Buddha den Ton auf die Verminderung des Leidens legt, die Propheten auf Einsicht und Gerechtigkeit, Jesus auf die Menschenliebe; dennoch ist es erstaunlich, bis zu welchem Grade diese religiösen Lehrer in Bezug auf das Ziel der menschlichen Entwicklung und die Normen, nach denen der Mensch sich zu richten habe, übereinstimmen. Freud spricht im Namen des ethischen Kerns der Religion und kritisiert ihre theistisch-übernatürlichen Seiten, sofern sie die volle [VI-240] Verwirklichung dieser ethischen Zielsetzungen hindern. Er erklärt die theistisch-übernatürlichen Auffassungen als Stadien der menschlichen Entwicklung, die einstmals notwendig und förderlich waren, jetzt aber nicht länger nötig und tatsächlich ein Hindernis für weiteres Wachstum seien. Darum ist die Behauptung, Freud sei „gegen“ Religion, irreführend, außer wenn wir scharf auseinanderhalten, welche Religion oder welchen Aspekt von Religion er kritisiert und für welchen er sich einsetzt.

Für Jung ist eine religiöse Erfahrung durch ein spezifisches Gefühlsmoment gekennzeichnet: Unterwerfung unter eine höhere Macht, sei diese nun Gott genannt oder das Unbewusste. Zweifellos ist dies eine zutreffende Charakteristik eines bestimmten Typs religiöser Erfahrungen – innerhalb der christlichen Konfessionen bildet sie zum Beispiel den Kern der Lehren Luthers und Calvins –, während sie im Widerspruch steht zu einem andern Typ religiöser Erfahrung, etwa dem im Buddhismus lebendigen. In ihrem Relativismus gegenüber der Wahrheit steht Jungs Auffassung von Religion im Gegensatz zum Buddhismus, zum Judentum und zum Christentum. Denn in diesen Religionen ist die Verpflichtung des Menschen, nach der Wahrheit zu forschen, eine unabdingbare Forderung. Die ironische Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ ist ein Symbol für eine antireligiöse Haltung nicht nur vom Standpunkt des Christentums, sondern ebenso sehr von dem aller großen Religionen.

Um die Positionen Freuds und Jungs auf eine kurze Formel zu bringen: Freud widersetzt sich der Religion im Namen der Ethik – eine Haltung, die zweifellos „religiös“ genannt werden kann. Jung beschränkt die Religion auf ein psychologisches Phänomen und erhebt gleichzeitig das Unbewusste zu einem religiösen Phänomen.[12]

3. Analyse einiger Typen religiöser Erfahrung

Jede Erörterung über Religion ist durch eine ernste terminologische Schwierigkeit behindert. Obwohl wir wissen, dass es außerhalb des Monotheismus viele Religionen gab und gibt, verbinden wir doch die Vorstellung von Religion mit der von einem System, das um Gott und übernatürliche Kräfte kreist; wir neigen dazu, die monotheistische Religion als den Bezugsrahmen anzusehen, von dem aus wir alle anderen Religionen zu verstehen und einzuschätzen suchen. Daher wird es zweifelhaft, ob Religionen ohne Gott, wie der Buddhismus oder der Taoismus oder der Konfuzianismus, Religionen im eigentlichen Sinne genannt werden können. Weltliche Systeme wie die gegenwärtigen autoritären Gebilde werden keinesfalls Religionen genannt, obwohl sie, psychologisch gesprochen, diese Bezeichnung verdienten. Wir haben einfach kein Wort, mit dem wir die Religion als allgemein menschliches Phänomen bezeichnen könnten, ohne dass sich die Vorstellung eines bestimmten Religionstyps einschliche und den Begriff färbte. Mangels eines solchen Ausdrucks werde ich in den folgenden Kapiteln das Wort Religion gebrauchen, doch möchte ich von Anfang an klarstellen, dass ich darunter jedes System des Denkens und Tuns verstehe, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet.

In der Tat gibt es keine Kultur in der Geschichte – und es scheint, dass es auch in Zukunft keine geben wird –, die nicht Religion in diesem weiten Sinne mit einschlösse. Doch brauchen wir nicht bei dieser bloß beschreibenden Feststellung stehen zu bleiben. Das Studium des Menschen führt uns zu der Erkenntnis, dass das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Orientierungssystem und einem Objekt der Hingabe in den Bedingungen des menschlichen Daseins tief verwurzelt ist. In Psychoanalyse und Ethik (1947a) habe ich versucht, die Natur dieses Bedürfnisses zu analysieren, und ich füge die betreffenden Stellen dieses Buches hier ein:

Bewusstsein seiner selbst, Vernunftbegabung und Vorstellungsvermögen haben jene „Harmonie“ zerrissen, die für das tierische Dasein charakteristisch ist. Ihr Auftreten hat den Menschen zu einer Abnormität gemacht, zu einer Laune des Universums. Er ist ein Teil der Natur, ist ihren physikalischen Gesetzen unterworfen und kann diese Gesetze nicht ändern; dennoch transzendiert er die übrige Natur. Er ist von der Natur [VI-242] abgeteilt und zugleich ein Teil von ihr; er ist heimatlos und ist trotzdem an die gleiche Heimat gebunden, die er mit allen Geschöpfen gemeinsam hat. An einem zufälligen Ort und zu einem zufälligen Zeitpunkt wird er in die Welt geworfen, ebenso zufällig wird er aus ihr vertrieben. Wenn er sich seiner selbst bewusst wird, erkennt er die eigene Ohnmacht und die Grenzen seiner Existenz. Er sieht sein Ende voraus: den Tod. Nie kann er sich von der Dichotomie der eigenen Existenz freimachen. Er kann sich nicht von seiner Geistigkeit befreien, auch wenn er es wollte; er kann nicht von seinem Körper frei werden, solange er lebt – und sein Körper veranlasst ihn, leben zu wollen.

Die Vernunftbegabung, des Menschen Segen, ist auch sein Fluch. Sie zwingt ihn, sich unablässig mit der Lösung einer an sich unlösbaren Dichotomie zu beschäftigen. Darin unterscheidet sich die menschliche Existenz von der aller übrigen Organismen. Sie befindet sich in einem Zustand ständiger und unvermeidlicher Unausgeglichenheit. Das Leben des Menschen kann nicht gelebt werden, indem die Verhaltensmuster der Gattung einfach nur wiederholt werden; jeder Einzelne muss es selbst leben. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich langweilt, unzufrieden ist und sich aus dem Paradies ausgeschlossen glaubt. Die eigene Existenz ist ihm zu einem Problem geworden, das er lösen muss und dem er nicht entfliehen kann. Er kann nicht auf einen vormaligen Zustand der Harmonie mit der Natur regredieren; er muss vorwärts schreitend seine Vernunft entwickeln, bis er selbst zum Herrn über die Natur und zum Herrn über sich selbst geworden ist.

Das Aufkommen der Vernunftbegabung hat eine Dichotomie im Menschen geschaffen, die ihn zwingt, unablässig nach neuen Lösungen zu suchen. Die Dynamik seiner Geschichte ist mit der Existenz der Vernunft unlösbar verknüpft. Sie veranlasst ihn, sich zu entwickeln und dadurch die ihm eigene Welt zu schaffen, in der er sich mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu Hause fühlen kann. Jede Stufe, die er erreicht, lässt ihn unbefriedigt und verwirrt ihn. Und diese Verwirrung zwingt ihn, neue Lösungen anzustreben. Einen angeborenen „Fortschrittstrieb“ gibt es beim Menschen nicht. Es ist der Widerspruch der eigenen Existenz, der den Menschen auf der begonnenen Bahn fortschreiten lässt. Da er das Paradies – die Einheit mit der Natur – verloren hat, wurde er zum ewigen Wanderer (Odysseus, Ödipus, Abraham, Faust). Er ist gezwungen, vorwärts zu gehen und muss mit andauernder Anstrengung das Unbekannte zu erkennen suchen, indem er die Lücken seines Wissens mit Antworten ausfüllt. Über sich und den Sinn der eigenen Existenz muss er sich selbst Rechenschaft geben. Um diesen inneren Zwiespalt zu überwinden, drängt es ihn – getrieben von einem Willen nach „Absolutheit“ –, eine andere Art von Harmonie zu finden, die den Fluch von ihm nimmt, durch den er von der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst getrennt wurde (...).

Die Disharmonie der Existenz des Menschen erzeugt Bedürfnisse, die weit über die hinausgehen, die in seinem animalischen Ursprung begründet liegen. Diese Bedürfnisse bewirken einen drängenden Wunsch, die Einheit und das Gleichgewicht zwischen sich und der übrigen Natur wiederherzustellen. Der Mensch macht den Versuch, diese Einheit und dieses Gleichgewicht vor allem gedanklich wieder zu erreichen. Er konstruiert ein umfassendes Weltbild, das ihm als Bezugsrahmen dient, von dem er eine Antwort auf die Fragen nach seinem Platz in der Welt und seinen Aufgaben ableiten [VI-243] kann. Derartige Gedankensysteme sind jedoch nicht ausreichend. Wenn der Mensch nur körperloser Intellekt wäre, könnte er sein Ziel durch ein umfassendes Gedankensystem erreichen. Da er aber ein Wesen ist, das sowohl Körper wie Geist besitzt, muss er auf die Widersprüche seiner Existenz nicht nur denkend reagieren, sondern auch im Lebensvollzug, in seinem Fühlen und Handeln. Er muss danach streben, Einheit und Einssein auf allen Ebenen seines Seins zu erfahren, um so ein neues Gleichgewicht zu finden. Deshalb erfordert ein befriedigendes Orientierungssystem nicht nur intellektuelle Elemente, sondern auch solche des Gespürs und des Gefühls, die in allen Bereichen des menschlichen Lebens aktiv zu verwirklichen sind. Die Hingabe an ein Ziel, an eine Idee oder an eine Macht, die den Menschen transzendiert, wie zum Beispiel Gott, ist der Ausdruck dieses Bedürfnisses nach Ganzheitlichkeit im Lebensvollzug (...).[13]

Da das Bedürfnis nach einem System der Orientierung und Hingabe[14] einen wesentlichen Bestandteil des menschlichen Daseins ausmacht, ist die Intensität dieses Bedürfnisses zu verstehen. Tatsächlich gibt es keine stärkere Energiequelle im Menschen. Der Mensch kann nicht frei entscheiden, ob er „Ideale“ haben will oder nicht, aber er hat die freie Wahl zwischen verschiedenen Arten von Idealen, zwischen der Möglichkeit, Macht und Destruktion zu verehren oder sich Vernunft und Liebe hinzugeben. Alle Menschen sind „Idealisten“ und suchen etwas, das über die Befriedigung des rein Körperlichen hinausgeht. Sie unterscheiden sich nur in den Idealen, an die sie glauben. Sowohl die höchsten wie auch die ganz teuflischen Manifestationen des menschlichen Geistes sind nicht Ausdruck des Fleisches, sondern des Geistes, das heißt, dieses Idealismus. Gefährlich und irreführend ist deshalb die relativistische Auffassung, das bloße Vorhandensein eines Ideals oder eines religiösen Gefühls sei an sich schon wertvoll. Wir müssen alle Ideale, einschließlich derjenigen, die in weltlichen Ideologien in Erscheinung treten, als Ausdruck desselben menschlichen Bedürfnisses betrachten und sie danach beurteilen, wieviel Wahrheit sie enthalten, in welchem Maße sie der Entfaltung menschlicher Kräfte dienen und bis zu welchem Grade sie dem menschlichen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Harmonie in seiner Welt tatsächlich entgegenkommen. (E. Fromm, 1947a, GA II., S. 30 f., 34 und 36.)

Was ich über den Idealismus des Menschen gesagt habe, trifft auch für sein religiöses Bedürfnis zu. Es gibt keinen Menschen, der nicht ein religiöses Bedürfnis hätte, ein Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe. Aber diese Feststellung sagt uns noch nichts über den besonderen Zusammenhang, in dem dieses religiöse Bedürfnis sich kundtut. Der Mensch kann Tiere, Bäume, Idole aus Gold oder Stein, einen unsichtbaren Gott, einen heiligen Menschen oder teuflische Führer anbeten; er kann seine Vorfahren, seine Nation, seine Klasse oder Partei, das Geld oder den Erfolg vergöttern; seine Religion kann der Entwicklung von Destruktivität oder von Liebe, von Beherrschung oder von Brüderlichkeit förderlich sein; sie kann die Kraft seiner Vernunft stärken oder lähmen. Der Mensch mag sein Orientierungssystem als ein religiöses ansehen, das sich von demjenigen im weltlichen Bereich unterscheidet, oder er mag glauben, er habe keine Religion, und seine Hingabe an gewisse, angeblich säkulare Ziele wie Macht, Geld oder Erfolg, für nichts weiter halten als eine Angelegenheit von etwas Nützlichem und Praktischem. Die Frage lautet nicht: ob Religion oder ob nicht?, sondern: welche Art von Religion? [VI-244] Fördert sie die Entwicklung des Menschen, die Entfaltung der spezifisch menschlichen Kräfte, oder lähmt sie die Kräfte?

Eigentümlicherweise stimmen die Interessen des hingegebenen Religionsanhängers und des Psychologen in dieser Hinsicht überein. Dem Theologen ist viel an den spezifischen Lehren einer Religion gelegen, an der seinen wie an anderen, denn worauf es ihm ankommt, ist die Wahrheit seines Glaubens gegenüber den anderen. Ebenso ist dem Psychologen viel an den spezifischen Inhalten einer Religion gelegen, denn ihm kommt es darauf an, welche menschliche Haltung eine Religion ausdrückt und welche Wirkung sie auf den Menschen hat, ob sie für die Entwicklung seiner Kräfte gut oder schlecht ist. Er interessiert sich nicht nur für den Aufweis der psychologischen Wurzeln der verschiedenen Religionen, sondern auch für ihren Wert.

Die These, das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe sei in den Bedingungen der menschlichen Existenz begründet, scheint weitgehend bestätigt durch die Tatsache, dass Religion eine universale geschichtliche Erscheinung ist. Diese Bemerkung ist von Theologen, Psychologen und Anthropologen gemacht und ausgearbeitet worden, sodass es für mich nicht nötig ist, mich darüber zu verbreiten. Ich möchte einzig betonen, dass die Anhänger der traditionellen Religion sich diesbezüglich häufig auf eine trügerische Argumentation eingelassen haben. Zwar beginnen sie mit einer so großzügigen Definition der Religion, dass darunter jedes Phänomen religiöser Art verstanden werden kann. Aber ihre Auffassung bleibt mit der der monotheistischen Religionsform verbunden; so kommen sie dazu, alle nicht-monotheistischen Religionen als Vorläufer oder Abweichungen von der „wahren“ Religion anzusehen, und enden damit, dass sie zu beweisen suchen, der Glaube an Gott im Sinne der westlichen Religionsüberlieferung sei dem Menschen eingeboren.

Der Psychoanalytiker, dessen „Laboratorium“ der Patient ist und der ein teilnehmender Beobachter des Denkens und Fühlens anderer Menschen ist, vermag noch einen weiteren Erweis dafür beizubringen, dass irgendein Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe zum Menschen gehört. Beim Studium von Neurosen entdeckt er, dass er Religion erforscht. Es war Freud, der die Verbindung zwischen Neurose und Religion erkannte; während er jedoch Religion als kollektive Kindheitsneurose der Menschheit interpretierte, kann man es auch umgekehrt auslegen. Wir können in der Neurose eine private Form der Religion sehen, genauer gesagt, eine Rückkehr zu primitiven Religionsformen im Konflikt mit offiziell anerkannten Grundformen religiösen Denkens.

Man kann eine Neurose unter zwei Gesichtspunkten betrachten. Man kann das Augenmerk auf die neurotischen Erscheinungen selber richten, auf die Symptome und andere besondere Lebensschwierigkeiten, welche die Neurose erzeugt. Die andere Betrachtungsweise beschäftigt sich nicht mit dem sozusagen Positiven, nämlich mit der Neurose, sondern mit dem Negativen, der Unfähigkeit des Neurotikers, die wichtigsten Ziele menschlicher Existenz zu erreichen: Unabhängigkeit und die Fähigkeit, produktiv zu handeln, zu lieben und zu denken. Wem es nicht gelungen ist, zur Reife und Ganzheit zu gelangen, der verfällt einer Neurose irgendwelcher Art. Er vermag nicht einfach „dahinzuleben“, unbelastet von diesem Misslingen, und zufrieden [VI-245] damit, zu essen und zu trinken, zu schlafen, den Sexualtrieb zu befriedigen und seine Arbeit zu tun. Wäre dem so, dann hätten wir den Beweis, dass die religiöse Haltung zwar vielleicht wünschenswert, jedoch kein der menschlichen Natur tief innewohnender Zug wäre. Aber die Erforschung des Menschen zeigt, dass es sich nicht so verhält. Wenn es einem Menschen nicht geglückt ist, seine Energien in der Richtung auf sein „höheres Selbst“ zu entfalten, dann lenkt er sie auf niedrigere Ziele. Wenn er keine Vorstellung von der Welt und seiner Stellung in ihr hat, die der Wahrheit annähernd entspricht, schafft er sich ein Trugbild und klammert sich daran mit der gleichen Zähigkeit, mit der ein Religionsanhänger an seinen Dogmen hängt. Es ist wahr: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“ (Mt 4,4). Er hat einzig die Wahl zwischen besseren oder schlechteren, höheren oder niedrigeren, wohltuenden oder zerstörerischen Formen von Religion oder Weltanschauung.

Welches ist die religiöse Situation in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft? Sie ähnelt auf seltsame Art dem Bilde, das der Anthropologe beim Studium der Religion der nordamerikanischen Indianer gewinnt. Sie sind zur christlichen Religion bekehrt, aber ihre alten vorchristlichen Religionsvorstellungen wurden damit keineswegs aufgegeben. Das Christentum ist ein Firnis, der über ihre alte Religion gelegt wurde und sich mit dieser vielfach verschmolzen hat. In unserer eigenen Kultur bilden die monotheistische Religion und ebenso atheistische und agnostische Philosophien einen dünnen Firnis über die Religionen, die in mancher Beziehung weit „primitiver“ sind als die indianischen, und die als reiner Götzendienst mit den wesentlichen monotheistischen Lehren sogar noch weniger vereinbar sind. Als kollektive und mächtige Form modernen Götzendienstes finden wir die Anbetung der Macht, des Erfolgs und der Autorität des Marktes. Aber neben diesen kollektiven Formen sehen wir noch etwas anderes. Wenn wir die Oberfläche des modernen Menschen ankratzen, entdecken wir eine große Zahl individualisierter primitiver Religionsformen. Viele davon werden als Neurosen bezeichnet; doch können wir ihnen ebenso gut die betreffenden religiösen Namen geben: Ahnenkult, Totemismus, Ritualismus, Reinlichkeitskult und so fort.

Gibt es wirklich noch so etwas wie Ahnenkult? Gewiss, er ist eine der am meisten verbreiteten primitiven Kultformen innerhalb unserer Gesellschaft, und es verändert das Bild durchaus nicht, wenn wir ihn, wie es der Psychiater tut, eine neurotische Vater- oder Mutterbindung nennen. Wir wollen einen solchen Fall des Ahnenkults miteinander betrachten. Eine schöne, hochbegabte Frau, eine Malerin, war so stark an ihren Vater gebunden, dass sie jedem näheren Kontakt mit Männern auswich. Ihre gesamte Freizeit verbrachte sie mit ihrem Vater, einem angenehmen, aber ziemlich langweiligen Mann, der früh verwitwet war. Außer für ihre Malerei interessierte sie sich für nichts als ihren Vater. Die Art, wie sie ihn anderen gegenüber darstellte, wich grotesk von der Wirklichkeit ab. Nach seinem Tode beging sie Selbstmord und hinterließ ein Testament mit der einzigen Verfügung, sie wolle an seiner Seite beerdigt werden.

In einem anderen Fall führte ein sehr intelligenter und begabter Mann, von jedermann geachtet, ein geheimes Leben, das völlig der Verehrung seines Vaters gewidmet war, der, milde gesagt, ein hartnäckiger Draufgänger war, der sich einzig für den Erwerb von Geld und gesellschaftlichem Prestige interessierte. Die Vorstellung des [VI-246] Sohnes von seinem Vater war jedoch die des weisesten, liebevollsten und zärtlichsten Vaters, von Gott beauftragt, dem Sohn den richtigen Weg zu zeigen. Jedes Tun und jeder Gedanke des letzteren war darauf ausgerichtet, ob es dem Vater gefallen würde oder nicht, und da dieser im wirklichen Leben gewöhnlich nicht mit ihm einverstanden war, fühlte der Patient sich meistens „in Ungnade“ und strebte leidenschaftlich danach, die Billigung des Vaters wiederzugewinnen, sogar noch Jahre nach dessen Tode.

Der Psychoanalytiker versucht, die Ursachen solcher pathologischer Bindungen herauszufinden, und hofft, den Patienten von einer solchen verkrüppelten Vaterverehrung befreien zu helfen. Hier aber interessieren uns nicht die Ursachen und nicht der Heilungsprozess, sondern das Phänomen an sich. Wir beobachten, wie die Abhängigkeit von einem Vater dessen Tod mit unverminderter Stärke um Jahre überdauert, das Urteil des Patienten trübt, ihn unfähig zum Lieben macht und ihn wie ein Kind in beständiger Unsicherheit und Furcht leben lässt. Dieser Aufbau des persönlichen Lebens um einen Vorfahren, die Verausgabung beinahe aller Energie auf dessen Verehrung unterscheidet sich nicht von religiösem Ahnenkult. Er liefert einen Bezugsrahmen und ein Einheit schaffendes Prinzip für die Hingabe. Auch hier gilt, dass der Patient nicht einfach geheilt wird, indem man ihm die Unvernunft seines Verhaltens nachweist und auf den Schaden, den er sich selbst zufügt, hinweist. Oft weiß er dies intellektuell, sozusagen mit einem Teil seines Selbst, aber gefühlsmäßig ist er seinem Kult völlig hingegeben. Nur wenn sich ein tiefgehender Wandel in seiner gesamten Persönlichkeit vollzieht, wenn er frei wird zum Lieben und Denken, zur Auffindung eines neuen Brennpunktes der Orientierung und der Hingabe, wird er auch frei von der sklavischen Verehrung seines Vaters. Erst wenn er fähig ist, sich einer höheren Form der Religion zuzuwenden, kann er sich selbst von seiner niederen Form befreien.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120302
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Religionsverständnis Charakterorientierung Religionskritik
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Titel: Psychoanalyse und Religion