Lade Inhalt...

Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen

The Heart of Man. Its Genius for Good and Evil

©2014 109 Seiten

Zusammenfassung

In „Die Seele des Menschen“ entwickelt Erich Fromm erstmals sein Verständnis der Biophilie – der Liebe zum Lebendigen als Gegenkraft zum Angezogensein vom Leblosen und Destruktiven (Nekrophilie), dem Narzissmus und einer inzesthaften Fixierung an mütterliche Figuren. Mit Recht kann deshalb dieses Buch als Erweiterung seines bekanntesten Werks „Die Kunst des Liebens“ gesehen werden.
Erich Fromm trieb beim Verfassen dieses Buches die Sorge, dass die Menschen durch die industrialisierte Welt in ein Leben voller Gleichgültigkeit, Angst und Hass abgleiten. „Es erhebt sich die Frage, ob wir uns auf eine neue Barbarei zubewegen – oder ob eine Renaissance unserer humanistischen Tradition möglich ist.“ (Erich Fromm)
Die Biophilie und die Überwindung des Narzissmus sieht Fromm in diesem Buch als die wichtigsten Kräfte für ein „Wachstumssyndrom“ an, das der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und einem destruktiven Verfall entgegenwirken kann.
Aus dem Inhalt:
• Der Mensch – Wolf oder Schaf?
• Verschiedene Formen der Gewalttätigkeit
• Die Liebe zum Toten und die Liebe zum Lebendigen
• Individueller und gesellschaftlicher Narzissmus
• Inzestuöse Bindungen
• Freiheit, Determinismus, Alternativismus

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Dieses Buch greift Gedankengänge auf, die ich bereits in einigen meiner früheren Bücher behandelt habe, und versucht sie weiterzuentwickeln. Das Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a) befasst sich mit dem Problem der Freiheit im Zusammenhang mit dem Sadismus, dem Masochismus und der Destruktivität; inzwischen haben mich klinische Erfahrungen und theoretische Überlegungen zu einem, wie ich meine, tieferen Verständnis der Freiheit wie auch der verschiedenen Arten von Aggression und Destruktivität geführt. Ich vermag jetzt zwischen verschiedenen Formen der Aggression zu unterscheiden, die direkt oder indirekt im Dienst des Lebens stehen, und der bösartigen Form der Destruktivität, der Nekrophilie, bei welcher es sich um eine echte Liebe zu Totem handelt, die das Gegenteil der Biophilie ist, der Liebe zum Leben und zu Lebendigem.[1] In Psychoanalyse und Ethik (1947a) habe ich das Problem der ethischen Normen erörtert, die auf unserer Kenntnis der menschlichen Natur und nicht auf Offenbarung oder auf Gesetzen und Konventionen beruhen, die vom Menschen geschaffen wurden. Im vorliegenden Buch verfolge ich dieses Problem weiter und beschäftige mich speziell mit dem Wesen des Bösen und mit der Wahl zwischen Gut und Böse. Schließlich ist das Buch in gewissem Sinn auch ein Gegenstück zu Die Kunst des Liebens (1956a). Während dort die Liebesfähigkeit des Menschen das Hauptthema war, ist es hier seine Fähigkeit zu zerstören, sein Narzissmus und seine inzestuöse Fixierung. Obgleich die Erörterung der Nicht-Liebe den größten Teil dieses Buches einnimmt, habe ich doch auch das Problem der Liebe in einem neuen, umfassenderen Sinn – nämlich im Sinn der Liebe zum Leben – wieder aufgegriffen. Ich versuche zu zeigen, dass die Liebe zum Lebendigen mit der Unabhängigkeit und der Überwindung des Narzissmus ein „Wachstumssyndrom“ bildet, im Gegensatz zu dem aus der Liebe zum Toten, der inzestuösen Symbiose und dem bösartigen Narzissmus gebildeten „Verfallssyndrom“.

Aber nicht nur meine klinischen Erfahrungen, sondern auch die gesellschaftliche und politische Entwicklung der letzten Jahre hat mich zur Untersuchung dieses Verfallssyndroms veranlasst. Immer drängender wird die Frage, weshalb trotz allen guten Willens und obwohl wir uns der Folgen eines Atomkriegs bewusst sind, die Versuche [II-162] ihn abzuwenden so schwach sind im Vergleich zur Größe der Gefahr und Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Gehen doch atomares Wettrüsten und kalter Krieg unvermindert weiter. Diese Sorge hat mich veranlasst, das Phänomen der Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber in einer immer stärker mechanisierten Industriewelt zu untersuchen. In dieser Welt wird der Mensch zu einem Ding, was dazu führt, dass er dem Leben mit Angst und Gleichgültigkeit, wenn nicht gar mit Hass gegenübersteht. Überdies sehen wir uns durch die heutige Neigung zur Gewalttätigkeit, wie sie zum Beispiel in der Jugendkriminalität und in den politischen Morden zum Ausdruck kommt, vor die Aufgabe gestellt, als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Änderung nach einer Erklärung zu suchen. Es erhebt sich die Frage, ob wir uns auf eine neue Barbarei zu bewegen – selbst wenn es nicht zu einem Atomkrieg kommen sollte – oder ob eine Renaissance unserer humanistischen Tradition möglich ist.

Neben der Behandlung dieser Probleme möchte ich in diesem Buch das Verhältnis meiner psychoanalytischen Vorstellungen zu Freuds Theorien klarstellen. Ich war nie einverstanden, wenn man mich einer neuen „Schule“ der Psychoanalyse zuordnete, mag man sie nun als „kulturelle Schule“ oder als „Neo-Freudianismus“ bezeichnen. Ich bin der Überzeugung, dass viele dieser neuen Schulen zwar wertvolle Einsichten entwickelt, aber auch viele der wichtigsten Entdeckungen Freuds dabei wieder verdeckt haben. Ganz gewiss bin ich kein „orthodoxer Freudianer“. Tatsächlich ist ja eine jede Theorie, die sich innerhalb von sechzig Jahren nicht ändert, aus eben diesem Grund nicht mehr die ursprüngliche Theorie des Meisters; sie ist eine versteinerte Wiederholung, und als Wiederholung ist sie dann in Wirklichkeit eine Entstellung.[2]

Freud hat seine grundlegenden Entdeckungen in einem ganz bestimmten philosophischen Bezugssystem konzipiert, nämlich dem des mechanistischen Materialismus, zu dem sich die meisten Naturwissenschaftler zu Beginn unseres Jahrhunderts bekannten. Meiner Meinung nach erfordert die Weiterentwicklung von Freuds Gedanken ein anderes philosophisches Bezugssystem, nämlich das des dialektischen Humanismus. Ich versuche, in diesem Buch zu zeigen, dass Freuds weltanschauliche Prämissen seiner größten Entdeckungen, Ödipuskomplex, Narzissmus und Todestrieb im Wege standen und dass diese Entdeckungen, wenn man sie davon befreit und in einen neuen Bezugsrahmen herüber nimmt, überzeugender und bedeutungsvoller werden.[3] [II-163]

Ich glaube, dass das Bezugssystem des Humanismus mit seiner paradoxen Mischung aus schonungsloser Kritik, kompromisslosem Realismus und rationalem Glauben eine fruchtbare Weiterentwicklung des Werks ermöglichen wird, zu dem Freud die Fundamente gelegt hat.

Noch eine weitere Bemerkung: Ich habe in diesem Buch großenteils auf die klinische Dokumentation verzichtet, wenngleich die dargelegten Gedanken sämtlich auf meiner klinischen Arbeit als Psychoanalytiker (und bis zu einem gewissen Grad auch auf meiner Beschäftigung mit gesellschaftlichen Prozessen) beruhen. Diese klinische Dokumentation möchte ich einem größeren Werk vorbehalten, das sich mit der Theorie und Therapie der humanistischen Psychoanalyse beschäftigen wird.[4]

Zum Schluss möchte ich mich noch bei Paul Edwards für seine kritischen Anregungen zu dem Kapitel über Freiheit, Determinismus und Alternativismus bedanken.

Erich Fromm

1 Der Mensch – Wolf oder Schaf?

Viele sind der Ansicht, die Menschen seien Schafe; viele andere halten sie für reißende Wölfe. Beide Seiten können für ihren Standpunkt gute Argumente vorbringen. Wer die Menschen für Schafe hält, braucht nur darauf hinzuweisen, dass sie sich leicht dazu bringen lassen, die Befehle anderer auszuführen, und dies selbst dann, wenn es für sie selbst schädlich ist; dass sie ihren Führern immer wieder in den Krieg folgen, der ihnen nichts einbringt als Zerstörung; dass sie jedem Unsinn Glauben schenken, wenn er nur mit dem gehörigen Nachdruck vorgebracht und von Inhabern der Macht bekräftigt wird – von den schroffen Drohungen der Priester und Könige bis zu den sanften Stimmen der mehr oder weniger geheimen Verführer. Es scheint, dass die meisten Menschen so leicht beeinflussbar sind wie halbwache Kinder und dass sie bereit sind, sich jedem willenlos auszuliefern, der mit drohender oder einschmeichelnder Stimme eindringlich genug auf sie einredet. Ein Mensch mit einer Überzeugung, die so stark ist, dass er dem Widerstand der Menge trotzt, ist die Ausnahme und nicht die Regel und wird oft noch von späteren Jahrhunderten bewundert, von den eigenen Zeitgenossen aber meist verlacht.

Auf eben dieser Annahme, dass die Menschen Schafe seien, haben die Großinquisitoren und Diktatoren ihre Machtsysteme aufgebaut. Und eben diese Überzeugung, dass die Menschen Schafe seien und daher Führer brauchten, die für sie die Entscheidungen treffen, hat den Führern oft die ehrliche Überzeugung verliehen, dass sie geradezu eine moralische – wenn auch gelegentlich tragische – Pflicht erfüllten, wenn sie den Menschen gaben, was sie wollten: wenn sie die Führung übernahmen und ihnen die Last der Verantwortung und der Freiheit abnahmen.

Wenn aber die meisten Menschen Schafe sind, wie kommt es dann, dass sie ein so völlig anderes Leben führen als Schafe? Die Geschichte der Menschheit ist mit Blut geschrieben; es ist eine Geschichte nie abreißender Gewalttaten, denn fast immer hat man sich die anderen mit Gewalt gefügig gemacht. Hat Talaat Pascha Millionen von Armeniern allein umgebracht? Hat Hitler Millionen von Juden allein umgebracht? Hat Stalin Millionen seiner politischen Gegner allein umgebracht? Nein. Diese Männer standen nicht allein; sie verfügten über Tausende, die für sie töteten, für sie folterten und die es nicht nur willig, sondern sogar mit Vergnügen taten. Stoßen wir [II-165] nicht überall auf die Unmenschlichkeit des Menschen – bei seiner erbarmungslosen Kriegsführung, bei Mord und Vergewaltigung, bei der rücksichtslosen Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren? Und wie oft begegnen die Seufzer der gemarterten und leidenden Kreatur tauben Ohren und verhärteten Herzen! Aus all dem zog ein Denker wie Hobbes den Schluss: homo homini lupus – der Mensch ist seinem Mitmenschen ein Wolf. Heute folgern viele von uns daraus, dass der Mensch von Natur bösartig und destruktiv sei, dass er ein Mörder sei, den nur die Angst vor noch stärkeren Mördern von seiner Lieblingsbeschäftigung abhalte.

Und doch wirken die von beiden Seiten vorgebrachten Argumente nicht überzeugend. Wir mögen zwar persönlich einigen potentiellen oder notorischen Mördern und Sadisten begegnet sein, die es an Skrupellosigkeit mit Stalin und Hitler aufnehmen konnten, aber es waren doch Ausnahmen und nicht die Regel. Sollen wir tatsächlich annehmen, dass wir selbst und die meisten Durchschnittsmenschen Wölfe im Schafspelz sind, und dass unsere „wahre Natur“ zum Vorschein kommen wird, sobald wir die Hemmungen ablegen, die uns bisher gehindert haben, uns wie wilde Tiere zu verhalten? Man kann das zwar schwer widerlegen, aber ganz überzeugend ist es auch nicht. Im täglichen Leben gibt es häufig Gelegenheiten zur Grausamkeit und zum Sadismus, die man wahrnehmen könnte, ohne dass man Angst vor Vergeltung haben müsste; trotzdem lassen sich viele nicht darauf ein; ganz im Gegenteil reagieren sie mit Abscheu, wenn sie auf Grausamkeit und Sadismus stoßen.

Gibt es dann vielleicht eine andere, bessere Erklärung für diesen merkwürdigen Widerspruch? Lautet vielleicht die einfache Antwort, dass eine Minderheit von Wölfen Seite an Seite mit einer Mehrheit von Schafen lebt? Die Wölfe wollen töten; die Schafe wollen tun, was man ihnen befiehlt. So bringen die Wölfe die Schafe dazu zu töten, zu morden und zu erwürgen, und die Schafe tun es, nicht etwa weil es ihnen Freude macht, sondern weil sie folgen wollen; und darüber hinaus müssen die Mörder noch Geschichten erfinden, die von ihrer gerechten Sache, von der Verteidigung der bedrohten Freiheit, von der Rache für mit dem Bajonett erstochene Kinder, von vergewaltigten Frauen und von verletzter Ehre handeln, um die Mehrheit der Schafe dazu zu bringen; sich wie Wölfe zu verhalten. Diese Antwort klingt plausibel, doch lässt sie immer noch viele Zweifel bestehen. Besagt sie nicht, dass es sozusagen zwei menschliche Rassen gibt – die der Wölfe und die der Schafe? Außerdem stellt sich die Frage, woher es kommt, dass sich die Schafe so leicht dazu verführen lassen, sich wie Wölfe aufzuführen, wenn es nicht in ihrer Natur liegt, selbst dann, wenn man ihnen die Gewalttätigkeit als heilige Pflicht hinstellt. Vielleicht ist das, was wir über die Wölfe und Schafe gesagt haben, doch nicht haltbar? Vielleicht trifft es doch zu, dass die wesentliche Eigenschaft im Menschen das Wölfische ist, und dass die meisten das nur nicht so offen zeigen? Oder handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Alternative? Ist der Mensch vielleicht sowohl Wolf als auch Schaf – oder ist er weder Wolf noch Schaf?

Die Antwort auf diese Fragen ist heute von ausschlaggebender Bedeutung, wo die Nationen zur Vernichtung ihrer „Feinde“ den Einsatz gefährlichster Zerstörungswaffen erwägen und sich offenbar nicht einmal durch die Möglichkeit abschrecken lassen, dass sie bei der Massenvernichtung selbst mit untergehen könnten. Wenn wir [II-166] überzeugt sind, dass der Mensch von Natur aus zur Zerstörung neigt, dass das Bedürfnis, Gewalt anzuwenden, tief in seinem Wesen verwurzelt ist, dann wird unser Widerstand gegen die ständig zunehmende Brutalisierung immer schwächer werden. Warum sollte man sich den Wölfen widersetzen, wenn wir alle Wölfe sind, die einen mehr und die anderen weniger?

Die Frage, ob der Mensch Wolf oder Schaf ist, ist nur die zugespitzte Formulierung einer Frage, die in einem weiteren und allgemeineren Sinn zu den grundlegenden Problemen des theologischen und philosophischen Denkens in der westlichen Welt gehört: Ist der Mensch seinem Wesen nach böse und verderbt, oder ist er seinem Wesen nach gut und fähig, sich zu vervollkommnen? Das Alte Testament steht nicht auf dem Standpunkt, dass der Mensch grundsätzlich verderbt ist. Adams und Evas Ungehorsam gegen Gott wird nicht als Sünde bezeichnet; wir finden nirgends einen Hinweis darauf, dass dieser Ungehorsam den Menschen verderbt gemacht habe. Im Gegenteil ist dieser Ungehorsam die Vorbedingung dafür, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst wurde und dass er fähig ist, sich für etwas zu entscheiden, sodass dieser erste Akt des Ungehorsams letzten Endes der erste Schritt des Menschen auf dem Weg zur Freiheit ist. Es scheint so, als wäre dieser Ungehorsam sogar in Gottes Plan beschlossen gewesen; denn nach Auffassung der Propheten ist der Mensch gerade dadurch, dass er aus dem Paradies vertrieben wurde, in die Lage versetzt worden, seine Geschichte selbst zu gestalten, seine menschlichen Kräfte zu entwickeln und als voll entwickeltes Individuum mit seinem Mitmenschen und der Natur zu einer neuen Harmonie zu gelangen, die an die Stelle der früheren Harmonie tritt, als der Mensch noch kein Individuum war. Ganz sicher geht der messianische Gedanke der Propheten davon aus, dass der Mensch nicht grundsätzlich verderbt ist und ohne einen besonderen Gnadenakt Gottes errettet werden kann.

Freilich ist damit nicht gesagt, dass seine Anlage zum Guten auch unbedingt den Sieg davontragen wird. Wenn der Mensch Böses tut, wird er selbst auch böser. So „verhärtet“ sich das Herz des Pharao, weil er immer weiter Böses tut; es verhärtet sich so sehr, dass schließlich ein Punkt erreicht ist, an dem für ihn keine Umkehr und keine Buße mehr möglich ist. Das Alte Testament enthält mindestens ebenso viele Beispiele von Übeltätern wie von Gerechten und nimmt nicht einmal so erhabene Gestalten wie König David aus. Nach Auffassung des Alten Testaments besitzt der Mensch beide Fähigkeiten- die zum Guten und die zum Bösen- und er muss zwischen Gut und Böse, Segen und Fluch, Leben und Tod wählen. Gott greift nicht einmal in diese Entscheidung ein; er hilft, indem er seine Boten, die Propheten, schickt, um die Menschen zu lehren, wie sie das Gute verwirklichen und das Böse erkennen können, und um zu warnen und zu protestieren.[5] Aber nachdem dies geschehen ist, bleibt der Mensch mit seinen „beiden Trieben“ sich selbst überlassen, dem Trieb zum Guten und dem zum Bösen, und er allein muss sich entscheiden.

Die christliche Entwicklung verlief anders. Im Verlauf der Entwicklung der christlichen Kirche entstand die Auffassung, dass Adams Ungehorsam Sünde war, und zwar eine so schwere Sünde, dass durch sie seine Natur und gleichzeitig die aller seiner Nachkommen verdorben wurde, sodass der Mensch sich aus eigener Anstrengung nun nicht mehr aus dieser Verderbtheit befreien kann. Nur ein Gnadenakt Gottes, [II-167] das Erscheinen Christi, der für die Menschen starb, kann die Verderbtheit des Menschen tilgen und die, welche sich zu Christus bekennen, erlösen.[6]

Allerdings blieb das Dogma von der Erbsünde in der Kirche keineswegs unwidersprochen. Pelagius griff es an, drang aber nicht durch. In der Renaissance bemühten sich die Humanisten innerhalb der Kirche es abzuschwächen, wenngleich sie es nicht direkt bekämpfen oder widerlegen konnten, wie es zahlreiche Ketzer taten. Luther war allerdings noch radikaler in seiner Überzeugung von der angeborenen Schlechtigkeit und Verderbtheit des Menschen, während Denker der Renaissance und später der Aufklärung einen drastischen Schritt in entgegengesetzter Richtung wagten. Letztere behaupteten, alles Böse im Menschen sei nur die Folge äußerer Umstände, und der Mensch habe daher in Wirklichkeit gar nicht die Möglichkeit der Wahl. Sie meinten, man brauche nur die Umstände zu ändern, aus denen das Böse erwächst, und das ursprüngliche Gute im Menschen werde fast automatisch zum Vorschein kommen. Diese Auffassung hat auch das Denken von Marx und seinen Nachfolgern beeinflusst. Der Glaube, dass der Mensch im Grunde gut sei, entsprang einem neuen Selbstvertrauen, das sich der Mensch durch die ungeheuren wirtschaftlichen und politischen Fortschritte seit der Renaissance erworben hatte. Umgekehrt hat der moralische Bankrott des Westens, der mit dem Ersten Weltkrieg begann und über Hitler und Stalin, über Coventry und Hiroshima zur gegenwärtigen Vorbereitung der universalen Vernichtung führte, bewirkt, dass die Neigung des Menschen zum Bösen wieder stärker betont wurde. Dies war an sich eine gesunde Gegenreaktion gegen die Unterschätzung des angeborenen Potenzials des Menschen zum Bösen; es diente aber nur allzu oft dazu, all die lächerlich zu machen, die noch nicht ihren Glauben an den Menschen verloren hatten, indem man ihre Auffassung missverstand und gelegentlich sogar absichtlich verzerrte.

Auch mir hat man unberechtigterweise oft vorgeworfen, ich unterschätze das Potenzial des Menschen zum Bösen. Ich möchte betonen, dass mir ein solch sentimentaler Optimismus fernliegt. Wer eine lange klinische Erfahrung als Psychoanalytiker besitzt, dürfte kaum geneigt sein, die destruktiven Kräfte im Menschen zu unterschätzen. Er sieht diese Kräfte bei schwerkranken Patienten am Werk und erlebt hier, wie ungeheuer schwierig es ist, ihnen Einhalt zu gebieten oder ihre Energie in konstruktive Bahnen zu lenken. Auch dürfte es allen, die den explosiven Ausbruch des Bösen und der Zerstörungswut seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs miterlebt haben, genauso schwerfallen, die Macht und Intensität der menschlichen Destruktivität zu übersehen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass das Gefühl der Ohnmacht, das den Menschen – den Intellektuellen wie den Durchschnittsmenschen – heute immer stärker ergreift, dazu führen könnte, dass er sich eine neue Version von der Verderbtheit und Erbsünde zu eigen macht und sie zur Rationalisierung der defätistischen Ansicht benutzt, dass der Krieg als Folge der Destruktivität der menschlichen Natur unvermeidbar sei. Eine derartige Ansicht, die sich gelegentlich mit ihrem exquisiten Realismus brüstet, ist aus zwei Gründen unrealistisch. Erstens besagt die Intensität destruktiver Strebungen keineswegs, dass sie unüberwindlich oder auch nur dominant seien. Der zweite Irrtum liegt in der Prämisse, dass Kriege in erster Linie das Ergebnis psychologischer Kräfte seien. Es erübrigt sich, auf diesen Trugschluss des [II-168] „Psychologismus“ bei der Erklärung gesellschaftlicher und politischer Probleme näher einzugehen. Kriege entstehen durch die Entscheidung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Führer, um auf diese Weise Land, Bodenschätze und Handelsvorteile zu gewinnen, um sich gegen eine wirkliche oder angebliche Bedrohung der Sicherheit ihres Landes durch eine andere Macht zu verteidigen, oder auch um ihr persönliches Prestige zu erhöhen und Ruhm für sich zu ernten. Diese Männer unterscheiden sich nicht vom Durchschnittsmenschen: Sie sind egoistisch und kaum bereit, zugunsten anderer auf einen persönlichen Vorteil zu verzichten, aber sie sind weder grausam noch bösartig. Wenn solche Menschen – die im normalen Leben wahrscheinlich mehr Gutes als Böses bewirken würden – in Machtstellungen kommen, in denen sie über Millionen befehlen und über die schlimmsten Vernichtungswaffen verfügen, so können sie ungeheuren Schaden anrichten. Im bürgerlichen Leben hätten sie vielleicht einen Konkurrenten zugrunde gerichtet; in unserer Welt mächtiger und souveräner Staaten (dabei bedeutet „souverän“: keinem moralischen Gesetz unterworfen, das die Handlungsfreiheit des souveränen Staates einschränken könnte) können sie die ganze menschliche Rasse ausrotten. Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht ist die Hauptgefahr für die Menschheit – nicht der Unhold oder der Sadist. Aber genauso wie man Waffen braucht, um einen Krieg zu führen, so braucht man auch die Leidenschaften des Hasses, der Empörung, der Destruktivität und Angst, wenn man Millionen dazu bringen will, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und zu Mördern zu werden. Diese Leidenschaften sind die notwendigen Vorbedingungen für das Führen von Kriegen; sie sind nicht deren Ursache, genauso wenig wie Kanonen und Bomben als solche schon die Ursache von Kriegen sind. Viele meinen, ein Atomkrieg unterscheide sich in dieser Hinsicht von einem traditionellen Krieg. Jemand, der nur auf einen Knopf drückt und auf diese Weise Atombomben auslöst, von denen jede Hunderttausende töten kann, wird dabei kaum dasselbe Erlebnis des Tötens haben wie früher ein Soldat, der sein Bajonett oder ein Maschinengewehr dazu benutzte. Aber selbst wenn das Abfeuern einer Atomrakete im Bewusstsein des Betreffenden nur als gehorsame Ausführung eines Befehls erlebt wird, so bleibt doch die Frage, ob nicht in tieferen Schichten der Persönlichkeit doch destruktive Impulse oder wenigstens eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben vorhanden sein müssen, damit eine solche Handlung überhaupt möglich wird.

Ich werde drei Phänomene herausgreifen, die meiner Meinung nach der bösartigsten und gefährlichsten Form menschlicher Orientierung zugrunde liegen: die Liebe zum Toten, den bösartigen Narzissmus und die symbiotisch-inzestuöse Fixierung. Zusammengenommen bilden diese drei Orientierungen das „Verfallssyndrom“, welches den Menschen dazu treibt, um der Zerstörung willen zu zerstören und um des Hasses willen zu hassen. Ich werde aber auch das „Wachstumssyndrom“ behandeln, das aus der Liebe zum Lebendigen (im Gegensatz zur Liebe zum Toten), aus der Liebe zum Menschen (im Gegensatz zum Narzissmus) und aus der Unabhängigkeit (im Gegensatz zur symbiotisch-inzestuösen Fixierung) besteht. Nur bei wenigen Menschen ist eines dieser beiden Syndrome voll entwickelt. Aber es gibt keinen Zweifel darüber, dass jeder Mensch in der einen oder anderen von ihm gewählten Richtung voranschreitet: in Richtung auf das Lebendige oder auf das Tote, zum Guten hin oder zum Bösen.

2 Verschiedene Formen der Gewalttätigkeit[7]

Wenn sich dieses Buch auch hauptsächlich mit den bösartigen Formen der Destruktivität befasst, möchte ich doch zunächst einige andere Formen der Gewalttätigkeit behandeln. Ich habe nicht etwa vor, sie erschöpfend zu erörtern, ich glaube jedoch, dass die Beschäftigung mit weniger pathologischen Manifestationen der Gewalttätigkeit zu einem besseren Verständnis der schwer pathologischen und bösartigen Formen der Destruktivität verhelfen kann. Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Typen der Gewalttätigkeit basiert auf dem Unterschied zwischen ihren jeweiligen unbewussten Motivationen, denn nur wenn wir die unbewusste Dynamik des Verhaltens verstehen, können wir auch das Verhalten selbst, seine Wurzeln, seinen Verlauf und die Energie, mit der es geladen ist, begreifen.[8]

Die normalste und am wenigsten pathologische Form ist die spielerische Gewalttätigkeit. Wir finden sie dort, wo man sich ihrer bedient, um Geschicklichkeit vor Augen zu führen und nicht um Zerstörung anzurichten, dort wo sie nicht von Hass oder Destruktivität motiviert ist. Für diese spielerische Gewalttätigkeit lassen sich Beispiele vieler Art anführen, von den Kriegsspielen primitiver Stämme bis zur Kunst des Schwertkampfes im Zen-Buddhismus: Bei all diesen Kampfspielen geht es nicht darum, den Gegner zu töten; selbst wenn dieser dabei zu Tode kommt, so ist es sozusagen sein Fehler, weil er „an der falschen Stelle gestanden hat“. Natürlich beziehen wir uns nur auf den idealen Typ solcher Spiele, wenn wir behaupten, dass bei der spielerischen Gewalttätigkeit ein Zerstörungswille nicht vorhanden sei. In Wirklichkeit dürfte man häufig unbewusste Aggression und Destruktivität hinter den explizit festgelegten Spielregeln finden. Aber selbst dann ist die Hauptmotivation, dass man seine Geschicklichkeit zeigt, und nicht, dass man etwas zerstören will.

Von weit größerer praktischer Bedeutung als die spielerische Gewalttätigkeit ist die reaktive Gewalttätigkeit. Darunter verstehe ich die Gewalttätigkeit, die bei der [II-170] Verteidigung des Lebens, der Freiheit, der Würde oder auch des eigenen oder fremden Eigentums in Erscheinung tritt. Sie wurzelt in der Angst und ist aus eben diesem Grund vermutlich die häufigste Form der Gewalttätigkeit; diese Angst kann real oder eingebildet, bewusst oder unbewusst sein. Dieser Typ der Gewalttätigkeit steht im Dienste des Lebens und nicht des Todes; sein Ziel ist Erhaltung und nicht Zerstörung. Er entspringt nicht ausschließlich irrationalen Leidenschaften, sondern bis zu einem gewissen Grad vernünftiger Berechnung, weshalb dabei Zweck und Mittel auch einigermaßen zueinander im Verhältnis stehen. Man hat eingewandt, von einer höheren geistigen Warte aus gesehen sei das Töten – selbst zum Zweck der Selbstverteidigung – niemals moralisch gerechtfertigt. Aber die meisten, die diese Überzeugung vertreten, räumen ein, dass die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung des Lebens ihrem Wesen nach doch etwas anderes ist als die Gewalttätigkeit, die der Zerstörung um ihrer selbst willen dient.

Sehr oft beruht das Gefühl bedroht zu sein und die daraus resultierende reaktive Gewalttätigkeit nicht auf realen Gegebenheiten, sondern auf einer Manipulation des Denkens; politische und religiöse Führer reden ihren Anhängern ein, sie seien von einem Feind bedroht, und erregen auf diese Weise die subjektive Reaktion reaktiver Feindseligkeit. Daher ist auch die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechtfertigten Kriegen, die von kapitalistischen und kommunistischen Regierungen genauso vertreten wird wie von der römisch-katholischen Kirche, höchst fragwürdig, da gewöhnlich jede Partei es fertigbringt, ihre Position als Verteidigung gegen einen Angriff hinzustellen.[9] Es hat kaum einen Angriffskrieg gegeben, den man nicht als Verteidigungskrieg hinstellen konnte. Die Frage, wer mit Recht von sich sagen konnte, dass er sich verteidigte, wird gewöhnlich von den Siegern entschieden und manchmal erst viel später von objektiveren Historikern. Die Tendenz, jeden Krieg als Verteidigungskrieg hinzustellen, zeigt zweierlei: Erstens lässt sich die Mehrheit der Menschen, wenigstens in den meisten zivilisierten Ländern, nicht dazu bewegen zu töten und zu sterben, wenn man sie nicht vorher davon überzeugt hat, dass sie es tun, um ihr Leben und ihre Freiheit zu verteidigen; zweitens zeigt es, dass es nicht schwer ist, Millionen von Menschen einzureden, sie seien in Gefahr angegriffen zu werden und müssten sich daher verteidigen. Diese Beeinflussbarkeit beruht in erster Linie auf einem Mangel an unabhängigem Denken und Fühlen und auf der emotionalen Abhängigkeit der allermeisten Menschen von ihren politischen Führern. Falls diese Abhängigkeit vorhanden ist, wird so gut wie alles, was mit Nachdruck und Überzeugungskraft vorgebracht wird, für bare Münze genommen. Die psychologischen Folgen sind natürlich die gleichen, ob es sich um eine angebliche oder um eine wirkliche Bedrohung handelt. Die Menschen fühlen sich bedroht und sind bereit, zu ihrer Verteidigung zu töten und zu zerstören. Den gleichen Mechanismus finden wir beim paranoiden Verfolgungswahn, nur handelt es sich da nicht um eine Gruppe, sondern [II-171] um einen einzelnen. Aber in beiden Fällen fühlt sich der Betreffende subjektiv bedroht und reagiert aggressiv. Ein anderer Typ der reaktiven Gewalttätigkeit ist jene, die durch Frustration erzeugt wird. Aggressives Verhalten findet sich bei Tieren, Kindern und Erwachsenen, wenn bei ihnen ein Wunsch oder ein Bedürfnis unbefriedigt bleibt (vgl. J. Dollard et al., 1939). Ein solches aggressives Verhalten stellt einen, wenn auch oft vergeblichen, Versuch dar, sich das, was einem vorenthalten wird, mit Gewalt zu verschaffen. Es handelt sich dabei zweifellos um eine Aggression im Dienst des Lebens und nicht um der Zerstörung willen. Da die Frustration von Bedürfnissen und Wünschen bis zum heutigen Tag in den meisten Gesellschaften eine allgemeine Erscheinung war und ist, besteht kein Grund, sich darüber zu wundern, dass Gewalttätigkeit und Aggression ständig entstehen und sich äußern.

Mit der aus Frustration resultierenden Aggression verwandt ist die aus Neid und Eifersucht entstehende Feindseligkeit. Sowohl Eifersucht als auch Neid sind eine spezielle Art der Frustration. Sie gehen darauf zurück, dass B etwas besitzt, was A gern haben möchte, oder dass B von einer Person geliebt wird, deren Liebe A begehrt. In A erwacht dann Hass und Feindseligkeit gegen B, der das bekommt, was A haben möchte und nicht haben kann. Neid und Eifersucht sind Frustrationen, die dadurch noch verschärft werden, dass A nicht nur das, was er sich wünscht, nicht bekommt, sondern auch, dass jemand anderes statt seiner in den Genuss kommt. Die Geschichte von dem ohne eigene Schuld ungeliebten Kain, der seinen bevorzugten Bruder erschlägt, und die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern sind klassische Beispiele für Eifersucht und Neid. Das psychoanalytische Schrifttum enthält eine Fülle von klinischen Daten über diese Phänomene.

Ein weiterer Typ, der zwar mit der reaktiven Gewalttätigkeit verwandt, aber dem Pathologischen bereits um einen Schritt näher ist, ist die rachsüchtige Gewalttätigkeit. Bei der reaktiven Gewalttätigkeit geht es darum, eine drohende Schädigung zu verhüten, weshalb diese Art der biologischen Funktion des Überlebens dient. Bei der rachsüchtigen Gewalttätigkeit dagegen ist die Schädigung bereits geschehen, sodass die Gewaltanwendung nicht mehr die Funktion der Verteidigung besitzt. Sie hat die irrationale Funktion, auf magische Art das, was in der Realität geschehen ist, wieder ungeschehen zu machen. Wir finden die rachsüchtige Gewalttätigkeit sowohl bei Einzelpersonen wie auch bei primitiven und zivilisierten Gruppen. Analysieren wir den irrationalen Charakter dieses Typs von Gewalttätigkeit, so können wir noch einen Schritt weitergehen. Das Rachemotiv steht im umgekehrten Verhältnis zur Stärke und Produktivität einer Gruppe oder eines Individuums. Der Schwächling und der Krüppel besitzt keine andere Möglichkeit, seine zerstörte Selbstachtung wiederherzustellen, als nach der lex talionis („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) Rache zu nehmen. Dagegen hat der produktiv lebende Mensch dieses Bedürfnis nicht oder nur kaum. Selbst wenn er verletzt, beleidigt oder verwundet wurde, vergisst er eben durch die Produktivität seines Lebens das, was ihm in der Vergangenheit angetan wurde. Seine Fähigkeit, etwas zu schaffen, erweist sich als stärker als sein Verlangen nach Rache. Die Richtigkeit dieser Analyse lässt sich beim Einzelnen wie auch auf gesellschaftlicher Ebene leicht mit empirischen Daten belegen. Aus dem psychoanalytischen Material geht hervor, dass der reife, produktive Mensch weniger von der [II-172] Rachsucht motiviert ist als der Neurotiker, dem es schwerfällt, ein ausgefülltes, unabhängiges Leben zu führen, und der oft dazu neigt, seine gesamte Existenz um seiner Rache willen aufs Spiel zu setzen. Bei schweren psychischen Erkrankungen wird die Rache zum beherrschenden Lebenszweck, da ohne diese Rache nicht nur die Selbstachtung, sondern auch das Selbstgefühl und das Identitätserleben zusammenzubrechen drohen. Ebenso ist festzustellen, dass in den rückständigen Gruppen (im ökonomischen oder kulturellen und emotionalen Bereich) das Rachegefühl (zum Beispiel für eine nationale Niederlage) am stärksten zu sein scheint. So ist das Kleinbürgertum, dem es bei den Industrievölkern am schlechtesten geht, in vielen Ländern der Hauptherd der Rachegefühle, wie es ja auch der Hauptherd der rassistischen und nationalistischen Gefühle ist. Mit einem „projektiven Fragebogen“[10] könnte man leicht eine Korrelation zwischen der Intensität der Rachegefühle und der wirtschaftlichen und kulturellen Verarmung feststellen. Schwieriger dürfte es sein, die Rache bei primitiven Gesellschaften richtig zu verstehen. Bei vielen primitiven Gesellschaften finden wir intensive, ja sogar institutionalisierte Rachegefühle und -modelle, und die gesamte Gruppe fühlt sich zur Rache verpflichtet, wenn einem ihrer Mitglieder ein Schaden zugefügt worden ist. Hier dürften zwei Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. Der erste entspricht ziemlich genau dem oben erwähnten: Es ist die Atmosphäre psychischer Armut, die in der primitiven Gruppe herrscht, welche die Rache zu einem unentbehrlichen Mittel macht, den Verlust wieder auszugleichen. Der zweite Faktor ist der Narzissmus, eine Erscheinung, auf die ich im vierten Kapitel ausführlich zu sprechen komme. Hier möchte ich mich auf die Feststellung beschränken, dass in der primitiven Gruppe ein so intensiver Narzissmus herrscht, dass jede Herabsetzung ihres Selbstbildes sich so verheerend auswirkt, dass unausweichlich eine starke Feindseligkeit entsteht.

Eng verwandt mit der Gewalttätigkeit aus Rache ist eine weitere Art der Destruktivität, welche auf die Erschütterung eines Glaubens zurückzuführen ist, zu der es oft im Leben eines Kindes kommt. Was ist hier unter „Erschütterung eines Glaubens“ zu verstehen?

Das Kind beginnt sein Leben im Glauben an Güte, Liebe und Gerechtigkeit. Der Säugling vertraut der mütterlichen Brust; er vertraut darauf, dass die Mutter bereit ist, ihn zuzudecken, wenn er friert, und ihn zu pflegen, wenn er krank ist. Dieses Vertrauen des Kindes kann sich auf den Vater, die Mutter, den Großvater oder die Großmutter oder auf irgendeine andere Person beziehen, die ihm nahesteht; es kann sich auch als Glaube an Gott äußern. Bei vielen Menschen wird dieser Glaube schon in früher Kindheit erschüttert. Das Kind hört mit an, wie der Vater in einer wichtigen Angelegenheit Iügt; es erlebt dessen feige Angst vor der Mutter, wobei es dem Vater nichts ausmacht, das Kind im Stich zu lassen, um sie zu beruhigen; es beobachtet die Eltern beim Geschlechtsakt, wobei ihm vielleicht der Vater wie ein brutales Tier [II-173] vorkommt; es ist unglücklich oder verängstigt und weder der Vater noch die Mutter, die doch angeblich um sein Wohlergehen so besorgt sind, bemerkt dies, sie hören ihm nicht einmal zu, wenn es darüber spricht. Immer und immer wieder wird dieser ursprüngliche Glaube an die Liebe, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit der Eltern erschüttert. Bei religiös erzogenen Kindern bezieht sich dieser Verlust des Glaubens auch gelegentlich auf Gott direkt. Ein Kind erlebt den Tod eines Vögelchens, das es liebt, eines Freundes oder eines Schwesterchens, und sein Glaube an Gottes Güte und Gerechtigkeit erleidet einen schweren Schlag. Aber es kommt dabei kaum darauf an, ob es sich um den Glauben an einen Menschen oder an Gott handelt, der da erschüttert wird. Stets zerbricht dabei der Glaube an das Leben, an die Möglichkeit, dem Leben zu vertrauen, Zutrauen zu ihm haben zu können. Natürlich macht jedes Kind eine Reihe von Enttäuschungen durch; entscheidend ist jedoch die Bitterkeit und Schwere einer speziellen Enttäuschung. Oft kommt es bereits im frühen Kindesalter zu diesem ersten, entscheidenden Erlebnis, das den Glauben zerstört: schon im Alter von vier, fünf oder sechs Jahren oder sogar schon viel früher, in einem Alter, an das man sich später kaum noch erinnert. Oft auch erfolgt die endgültige Zerstörung des Glaubens erst in einem viel späteren Alter, wenn man von einem Freund, vom Liebespartner, vom Lehrer oder von einem religiösen oder politischen Führer hintergangen wird, dem man vertraute. Nur selten handelt es sich dabei um ein einzelnes Vorkommnis, meist sind es vielmehr eine Reihe kleiner Erlebnisse, die zusammengenommen den Glauben eines Menschen zerstören. Die Reaktion auf solche Erlebnisse ist unterschiedlich. Der eine reagiert vielleicht so, dass er seine Abhängigkeit von dem Betreffenden, der ihn enttäuscht hat, verliert und selbst unabhängiger und hierdurch fähig wird, sich neue Freunde, Lehrer oder geliebte Menschen zu suchen, denen er vertraut und an die er glaubt. Dies ist die wünschenswerteste Reaktion auf frühe Enttäuschungen. In vielen anderen Fällen führen diese aber dazu, dass der Betreffende skeptisch bleibt, dass er auf ein Wunder hofft, das ihm seinen Glauben zurückgibt, dass er die Menschen testet und dass er, falls er auch von diesen enttäuscht wird, wieder andere testet oder sich einer machtvollen Autorität (der Kirche oder einer politischen Partei oder einem Führer) in die Arme wirft, um seinen Glauben zurückzugewinnen. Oft überwindet er seine Verzweiflung darüber, den Glauben an das Leben verloren zu haben, auch damit, dass er krampfhaft weltlichen Zielen – dem Geld, der Macht oder dem Prestige – nachjagt.

Im Kontext der Gewalttätigkeit ist noch eine weitere wichtige Reaktion zu erwähnen. Ein tief enttäuschter Mensch, der sich hintergangen fühlt, kann ebenfalls anfangen, das Leben zu hassen. Wenn man sich auf nichts und niemand mehr verlassen kann, wenn sich der Glaube eines Menschen an das Gute und die Gerechtigkeit als törichte Illusion erwiesen hat, wenn der Teufel und nicht Gott regiert, dann wird das Leben in der Tat hassenswert, und der Schmerz weiterer Enttäuschungen lässt sich nicht mehr ertragen. Man möchte dann geradezu beweisen, dass das Leben böse ist, dass die „Menschen böse sind, dass man selber böse ist. Enttäuschter Glaube und enttäuschte Liebe zum Leben machen den Menschen zum Zyniker und Zerstörer. Es handelt sich dann um die Destruktivität der Verzweiflung; die Enttäuschung über das Leben führt zum Lebenshass. [II-174]

In meiner klinischen Tätigkeit bin ich solchen tiefgehenden Erlebnissen des Glaubensverlustes häufig begegnet; sie bilden oft das signifikanteste Leitmotiv im Leben eines Menschen. Das gleiche gilt auch im gesellschaftlichen Leben, wenn sich Führer, denen man vertraute, als schlecht oder unfähig erweisen. Wer nicht mit verstärkter Unabhängigkeit darauf reagiert, verfällt oft in Zynismus oder Destruktivität.

Während alle diese Formen der Gewalttätigkeit noch irgendwie im Dienst des Lebens stehen – tatsächlich, magisch oder doch wenigstens als Folge einer erlittenen Schädigung oder Enttäuschung im Leben-, ist die kompensatorische Gewalttätigkeit, auf die wir jetzt zu sprechen kommen wollen, schon stärker pathologisch, wenn sie dies auch noch nicht auf so drastische Weise ist wie die Nekrophilie, auf die wir im dritten Kapitel eingehen werden.

Unter kompensatorischer Gewalttätigkeit verstehe ich die Gewalttätigkeit, die einem impotenten Menschen als Ersatz für produktive Tätigkeit dient. Um verständlich zu machen, was ich hier unter „Impotenz“ verstehe, muss ich einige Bemerkungen vorausschicken. Obwohl der Mensch das Objekt von Naturkräften und gesellschaftlichen Kräften ist, die ihn beherrschen, ist er dennoch nicht nur Objekt der jeweiligen Umstände. Er besitzt den Willen, die Fähigkeit und die Freiheit, die Welt zu verwandeln und zu verändern, wenn auch nur innerhalb gewisser Grenzen. Das Entscheidende dabei ist nicht die Stärke seines Willens und das Ausmaß seiner Freiheit (zum Freiheitsproblem siehe unten), sondern die Tatsache, dass der Mensch eine absolute Passivität nicht erträgt. Es treibt ihn dazu, der Welt seinen Stempel aufzudrücken, sie zu verwandeln und zu verändern, und nicht nur selbst verwandelt und verändert zu werden. Dieses menschliche Bedürfnis kommt bereits in den Höhlenzeichnungen der Frühzeit, in der gesamten Kunst, in jeglicher Arbeit wie auch in der Sexualität zum Ausdruck. Alle diese Tätigkeiten entspringen der Fähigkeit des Menschen, seinen Willen auf ein bestimmtes Ziel zu richten und so lange weiterzumachen, bis das Ziel erreicht ist. Die Fähigkeit, seine Kräfte auf diese Art einzusetzen, ist die Potenz. (Die sexuelle Potenz ist nur eine besondere Form derselben Potenz.) Wenn der Mensch aus Schwäche, Angst, Inkompetenz oder dergleichen nicht fähig ist zu handeln, wenn er impotent ist, so leidet er. Dieses Leiden aus Impotenz ist eben darauf zurückzuführen, dass das innere Gleichgewicht gestört ist, dass der Mensch den Zustand völliger Ohnmacht nicht hinnehmen kann ohne zu versuchen, seine Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Kann er das aber, und wie? Eine Möglichkeit ist, sich einer Person oder einer Gruppe, die über Macht verfügt, zu unterwerfen und sich mit ihr zu identifizieren. Durch eine solche symbolische Partizipation am Leben eines anderen gewinnt der Mensch die Illusion selbst zu handeln, während er sich in Wirklichkeit nur denen, die handeln, unterordnet und zu einem Teil von ihnen wird. Die andere Möglichkeit – und diese interessiert uns in unserem Zusammenhang am meisten – ist, dass der Mensch sich seiner Fähigkeit zu zerstören bedient.

Leben schaffen heißt, seinen Status als Geschöpf, das wie ein Würfel aus dem Becher ins Leben hineingeworfen wird, zu transzendieren. Aber Leben zerstören heißt ebenfalls, es zu transzendieren und dem unerträglichen Leiden völliger Passivität zu entrinnen. Leben zu schaffen verlangt gewisse Eigenschaften, die dem impotenten Menschen abgehen. Leben zu zerstören verlangt nur eines: Gewaltanwendung. Der [II-175] Impotente braucht nur einen Revolver, ein Messer oder körperliche Kräfte zu besitzen, und er kann das Leben transzendieren, indem er es in anderen oder in sich selbst zerstört. Auf diese Weise rächt er sich am Leben dafür, dass es sich ihm versagt. Die kompensatorische Gewalttätigkeit ist nichts anderes als die in der Impotenz wurzelnde und sie kompensierende Gewalttätigkeit. Der Mensch, der nichts erschaffen kann, will zerstören. Indem er etwas erschafft und indem er etwas zerstört, transzendiert er seine Rolle als bloßes Geschöpf. Camus verleiht diesem Gedanken prägnanten Ausdruck, wenn er seinen Caligula sagen lässt: „Ich lebe, ich töte, ich übe die hinreißende Macht eines Zerstörers aus, mit der verglichen die Macht eines Schöpfers das reinste Kinderspiel ist.“ Es ist dies die Gewalttätigkeit des Krüppels, die Gewalttätigkeit von Menschen, denen das Leben die Fähigkeit versagt hat, ihren spezifisch menschlichen Kräften positiven Ausdruck zu verleihen. Sie müssen zerstören, eben weil sie Menschen sind, weil Menschsein bedeutet, dass man seine Dinghaftigkeit transzendiert.

Nahe verwandt mit der kompensatorischen Gewalttätigkeit ist der Trieb, ein lebendes Wesen, sei es Tier oder Mensch, völlig und absolut unter seiner Kontrolle zu haben. Dieser Trieb macht das Wesen des Sadismus aus. Wie ich in meinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a) dargelegt habe, ist der Wunsch, anderen Schmerz zuzufügen, nicht das Wesentliche am Sadismus. Alle seine verschiedenen Formen, die wir beobachten können, gehen auf den einen wesentlichen Impuls zurück, einen anderen Menschen völlig in seiner Gewalt zu haben, ihn zu einem hilflosen Objekt des eigenen Willens zu machen, sein Gott zu werden und mit ihm machen zu können, was einem beliebt. Ihn zu demütigen, ihn zu versklaven, das sind Mittel zur Erreichung dieses Ziels, und das radikalste Ziel ist, ihn leiden zu lassen, denn es gibt keine größere Macht über einen Menschen als die, dass man ihn zwingt, Leiden zu erdulden, ohne dass er sich dagegen wehren kann. Die Freude an der völligen Beherrschung eines anderen Menschen (oder einer anderen lebendigen Kreatur) ist das eigentliche Wesen des sadistischen Triebs. Man könnte diesen Gedanken auch so ausdrücken: Es ist das Ziel des Sadismus, einen Menschen in ein Ding, etwas Lebendiges in etwas Unbelebtes zu verwandeln, da das Lebendige durch die völlige und absolute Beherrschung eine wesentliche Eigenschaft des Lebens – die Freiheit – verliert.

Nur wenn man die Intensität und Häufigkeit der destruktiven sadistischen Gewalttätigkeit bei Einzelpersonen und Volksmassen erlebt hat, kann man verstehen, dass die kompensatorische Gewalttätigkeit nichts Oberflächliches und nicht die Folge schlechter Einflüsse, übler Gewohnheiten oder dergleichen ist. Sie ist eine Macht im Menschen, die ebenso intensiv und stark ist wie sein Wille zu leben. Sie ist eben deshalb so stark, weil sie das Aufbegehren des Lebens gegen seine Verkrüppelung ist; der Mensch besitzt ein Potenzial zur zerstörerischen und sadistischen Gewalttätigkeit, weil er ein Mensch und kein Ding ist und weil er versuchen muss, Leben zu zerstören, wenn er es nicht erschaffen kann. Das Kolosseum in Rom, in dem Tausende von impotenten Menschen mit größtem Vergnügen zusahen, wie andere Menschen von wilden Tieren zerrissen wurden oder wie sie sich gegenseitig umbrachten, ist das große Monument des Sadismus.

Aus diesen Erwägungen folgt noch etwas anderes. Die kompensatorische [II-176] Gewalttätigkeit ist das Ergebnis eines ungelebten und verkrüppelten Lebens, und zwar sein notwendiges Ergebnis. Sie lässt sich durch Angst vor Strafe unterdrücken oder durch Schauspiele und Vergnügungen aller Art sogar ablenken. Sie bleibt jedoch als Potenzial in voller Stärke bestehen und wird manifest, sowie die sie unterdrückenden Kräfte nachlassen. Das einzige Heilmittel dagegen ist die Entwicklung des schöpferischen Potenzials im Menschen, die Entwicklungseiner Fähigkeit, produktiven Gebrauch von seinen menschlichen Kräften zu machen. Nur wenn der Mensch aufhört, ein Krüppel zu sein, wird er auch aufhören, ein Sadist zu sein und zu zerstören, und nur Verhältnisse, die so beschaffen sind, dass der Mensch Interesse am Leben gewinnt, können jene Impulse zum Verschwinden bringen, welche die Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag so schmachvoll gemacht haben. Die kompensatorische Gewalttätigkeit steht nicht so, wie es die reaktive Gewalttätigkeit tut, im Dienst des Lebens, sie ist vielmehr der pathologische Ersatz für das Leben; sie ist ein Hinweis auf die Verkrüppelung und Leere des Lebens. Doch demonstriert sie gerade durch ihre Negierung des Lebens das Bedürfnis des Menschen, lebendig und kein Krüppel zu sein.

Auf einen letzten Typ der Gewalttätigkeit müssen wir noch zu sprechen kommen: auf den archaischen Blutdurst. Es handelt sich dabei nicht um die Gewalttätigkeit des psychischen Krüppels, sondern um den Blutdurst des Menschen, der noch völlig seiner Bindung an die Natur verhaftet ist. Er tötet aus Leidenschaft, um auf diese Weise das Leben zu transzendieren, weil er Angst davor hat, voranzuschreiten und ganz Mensch zu werden (eine Wahl, auf die wir noch zu sprechen kommen). Für den Menschen, der dadurch eine Antwort auf das Leben zu finden sucht, dass er zu einem vor-individuellen Zustand seiner Existenz regrediert, indem er zum Tier wird und sich auf diese Weise der Last der Vernunft entledigt, wird das Blut zur Essenz des Lebens. Blutvergießen heißt dann, sich lebendig, stark, einzigartig, allen anderen überlegen fühlen. Das Töten wird zum großen Rausch, zur großen Selbstbestätigung auf der äußersten archaischen Ebene. Umgekehrt ist getötet zu werden, die einzige logische Alternative zum Töten. Das Gleichgewicht des Lebens im archaischen Sinn wird dadurch erreicht, dass man so viele wie möglich tötet und dass man, nachdem man ein Leben lang seinen Blutdurst gestillt hat, selbst bereit ist, getötet zu werden. Töten in diesem Sinn ist seinem Wesen nach etwas anderes als die Liebe zum Toten. Es ist die Bestätigung und Transzendierung des Lebens auf der Ebene der tiefsten Regression. Wir können diesen Blutdurst bei Einzelpersonen beobachten, manchmal in ihren Phantasien oder Träumen, manchmal bei schwerer Geisteskrankheit oder bei einem Mord. Wir können ihn auch bei einer Minderheit in einem Krieg oder einem Bürgerkrieg beobachten, wenn die normalen sozialen Hemmungen wegfallen. Wir beobachten ihn bei archaischen Gesellschaften, wo das Töten (oder Getötetwerden) die das Leben beherrschende Polarität ist. Wir beobachten ihn ferner bei Phänomenen wie den Menschenopfern der Azteken, der Blutrache in Gegenden wie Montenegro[11] oder Korsika. Hierher gehört auch die Rolle, die das Blut im Alten Testament spielt, wenn es Gott zum Opfer gebracht wird. Eine der aufschlussreichsten [II-177] Beschreibungen der Freude am Töten finden wir in Gustave Flauberts Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen (1941). Flaubert schildert darin das Leben eines Mannes, dem bei seiner Geburt prophezeit wurde, dass er ein großer Eroberer und ein großer Heiliger werden würde; er wuchs als normales Kind auf, bis er eines Tages das erregende Erlebnis des Tötens kennen lernte. Bei der Messe hatte er mehrmals eine kleine Maus beobachtet, die aus einem Loch in der Wand heraushuschte. Er ärgerte sich darüber und beschloss, sie sich vom Halse zu schaffen. „So machte er die Tür zu, streute ein paar Kuchenkrümel auf die Altarstufen und stellte sich mit einem Stock in der Hand vor das Mauseloch. Er musste lange warten, bis endlich erst ein rosa Schnäuzchen und dann die ganze Maus zum Vorschein kam. Er versetzte ihr einen leichten Schlag und stand bestürzt vor dem kleinen Körper, der sich nicht mehr bewegte. Ein Tropfen Blut färbte den Steinboden. Hastig wischte er ihn mit dem Ärmel weg, warf die Maus ins Freie und erzählte niemand davon.“ Als er später einen Vogel erwürgte, „verursachten ihm die Todeszuckungen des Vogels heftiges Herzklopfen, und sie erfüllten ihn mit einer wilden, stürmischen Lust“. Nachdem er das Hochgefühl des Blutvergießens erlebt hatte, war er geradezu versessen darauf, Tiere zu töten. Kein Tier war so stark und behende, dass es seinem Mordgelüst hätte entgehen können. Das Blutvergießen wurde ihm zur höchsten Selbstbestätigung, zum einzigen Weg, alles Lebendige zu transzendieren. Jahrelang war das Töten von Tieren seine einzige berauschende Leidenschaft. Er kam mitten in der Nacht heim, „bedeckt von Blut und Schmutz und nach wilden Tieren riechend. Er wurde wie sie. „ Fast wäre es ihm gelungen, sich in ein Tier zu verwandeln, aber da er ein Mensch war, gelang es ihm nicht ganz. Eine Stimme verkündete ihm, er werde eines Tages seinen Vater und seine Mutter töten. Erschrocken floh er aus dem elterlichen Schloss, hörte auf, Tiere zu töten und wurde stattdessen ein gefürchteter und berühmter Heerführer. Als Preis für einen besonders großen Sieg erhielt er die Hand der ungewöhnlich schönen und liebenswürdigen Tochter des Kaisers. Er gab das Kriegshandwerk auf, bewohnte mit ihr einen herrlichen Palast, und sie hätten ein Leben voller Glückseligkeit führen können, doch fühlte er sich gelangweilt und voller Unlust. Eines Tages fing er wieder zu jagen an, aber eine geheimnisvolle Macht lenkte seine Pfeile ab. „Da erschienen ihm alle Tiere, die er einmal verfolgt hatte, und bildeten einen engen Kreis um ihn. Die einen saßen auf ihren Hinterläufen, andere standen aufrecht. Julian in ihrer Mitte war starr vor Entsetzen und keiner Bewegung fähig.“ Er beschloss, zu seiner Frau in seinen Palast zurückzukehren. Inzwischen waren auch seine alten Eltern dort eingetroffen, und seine Frau hatte ihnen ihr Bett überlassen. Er aber glaubte, darin seine Frau mit einem Liebhaber zu sehen und tötete seine beiden Eltern. Als er so an dem tiefsten Punkt der Regression angekommen war, ereignete sich bei ihm die große Umkehr. Er wurde nun tatsächlich ein Heiliger, der sein Leben den Armen und Kranken weihte. Schließlich wärmte er einen Aussätzigen mit seinem eigenen Körper. Dann stieg er „Angesicht zu Angesicht mit unserem Herrn Jesus, der ihn in den Himmel trug, in die blaue Unendlichkeit empor“ (G. Flaubert, 1941).

Flaubert schildert in dieser Geschichte das Wesen des Blutdurstes. Es handelt sich dabei um den Lebensrausch in seiner äußersten archaischen Form; daher kann ein Mensch, nachdem er auf dieser archaischsten Ebene der Bezogenheit zum Leben [II-178] angelangt ist, zum höchsten Entwicklungsniveau, nämlich dem der Bejahung des Lebens durch seine eigene Menschlichkeit, zurückkehren. Dabei sollte man sich darüber klar sein, dass dieser Trieb zu töten – wie bereits erwähnt – nicht das gleiche ist wie die Liebe zum Toten, wie wir sie im dritten Kapitel beschreiben werden. Das Blut wird hier als Lebensessenz erfahren. Das Blut eines anderen vergießen heißt daher, die Mutter Erde mit dem befruchten, was sie braucht, um fruchtbar zu sein. (Man vergleiche den Glauben der Azteken, welche das Blutvergießen als Vorbedingung für den Fortbestand des Kosmos ansahen, oder auch die Geschichte von Kain und Abel.) Selbst wenn das eigene Blut vergossen wird, befruchtet man damit die Erde und wird eins mit ihr.

Offenbar ist auf diesem Regressionsniveau das Blut gleichbedeutend mit dem männlichen Samen, und die Erde ist gleichbedeutend mit der Frau und Mutter. Same und Ei sind Ausdruck der männlich-weiblichen Polarität, einer Polarität, die erst dann von zentraler Bedeutung wird, wenn der Mann anfängt, ganz der Erde zu entwachsen, bis er den Punkt erreicht, an dem die Frau zum Objekt seines Begehrens und seiner Liebe wird.[12] Das Blutvergießen führt zum Tod; der Samenerguss führt zur Geburt. Aber das Ziel von beidem ist die Bejahung des Lebens, wenn auch auf einem kaum höheren Niveau als dem der tierischen Existenz. Der Tötende kann zum Liebenden werden, wenn er ganz geboren wird, wenn er seine Bindung an die Erde abwirft und seinen Narzissmus überwindet. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass – falls er dazu nicht fähig ist – sein Narzissmus und seine archaische Fixierung ihn in einer Lebensform gefangen halten, die dem Tod so nahe verwandt ist, dass man den Blutdürstigen nur schwer von dem Liebhaber des Toten unterscheiden kann.

3 Die Liebe zum Toten und die Liebe zum Lebendigen

Im vorigen Kapitel haben wir die Formen der Gewalttätigkeit und Aggression behandelt, die man noch als mehr oder weniger gutartig bezeichnen kann, insofern sie direkt oder indirekt dem Leben dienen (oder zu dienen scheinen). In diesem Kapitel wie auch in den folgenden werden wir uns mit Tendenzen befassen, die gegen das Leben gerichtet sind, die den Kern schwerer psychischer Krankheiten bilden und die man als das Wesen des wahrhaft Bösen bezeichnen kann. Wir werden dabei auf drei unterschiedliche Arten der Orientierung zu sprechen kommen: auf die Nekrophilie (im Gegensatz zur Biophilie), auf den Narzissmus und auf die symbiotische Fixierung an die Mutter.

Ich werde zeigen, dass es bei diesen drei Tendenzen jeweils auch gutartige Formen gibt, die sogar so wenig ausgeprägt sein können, dass man sie durchaus nicht als pathologisch ansehen muss. Wir werden jedoch das Hauptgewicht auf die bösartigen Formen dieser drei Orientierungen legen, die in ihrer schwersten Ausprägung konvergieren und schließlich das „Verfallssyndrom“ bilden, das die Quintessenz alles Bösen ist; es ist gleichzeitig der schwerste pathologische Befund und die Wurzel der bösartigsten Destruktivität und Unmenschlichkeit.

Ich weiß keine bessere Einführung in das Wesen der Nekrophilie[13] als die Worte, die der spanische Philosoph Unamuno im Jahre 1936 anlässlich einer Ansprache von General Millán Astray in der Universität von Salamanca gesprochen hat, deren Rektor Unamuno zu Beginn des Spanischen Bürgerkrieges war. Das Lieblingsmotto des Generals war „ Viva la muerte!“ (Es lebe der Tod), und einer seiner Anhänger rief es aus dem hinteren Teil des Saales. Als der General seine Ansprache beendet hatte, stand Unamuno auf und sagte: „Gerade eben habe ich einen nekrophilen und sinnlosen Ruf gehört: ‘Es lebe der Tod!’. Und ich, der ich mein Leben damit verbracht habe, Paradoxe zu formulieren, die den verständnislosen Zorn anderer erregt haben, ich muss Ihnen als Fachmann sagen, dass mich dieses ausländische Paradoxon abstößt. General Millán Astray ist ein Krüppel. Ich möchte das ohne jeden abschätzigen Unterton sagen. Er ist ein Kriegsversehrter. Das war auch Cervantes. Leider gibt es gerade jetzt in Spanien viele Krüppel. Und bald wird es noch mehr geben, wenn uns Gott nicht zu Hilfe kommt. Es schmerzt mich, denken zu müssen, dass General Millán [II-180] Astray uns die Psychologie der Massen diktieren könnte. Ein Krüppel, dem die geistige Größe eines Cervantes fehlt, sucht sich gewöhnlich dadurch eine fragwürdige Erleichterung, dass er alles rings um sich her verstümmelt.“ Da konnte sich Millán Astray nicht länger zurückhalten und rief: „Abajo la inteligencia!“ („Nieder mit der Intelligenz!“), „Es lebe der Tod!“ Und die Falangisten applaudierten begeistert. Aber Unamuno fuhr fort: „Es ist dies der Tempel des Intellekts. Und ich bin sein Hohepriester. Sie sind es, die diesen heiligen Bezirk entweihen. Sie werden siegen, denn Sie verfügen über mehr als genug brutale Macht! Aber Sie werden niemanden zu Ihrer Ansicht bekehren. Denn um jemand zu seiner Ansicht zu bekehren, muss man ihn überzeugen, und um zu überzeugen, brauchten Sie etwas, was Ihnen fehlt, nämlich Vernunft und das Recht im Kampf. Ich halte es für zwecklos, Sie zu ermahnen, an Spanien zu denken. Mehr habe ich nicht zu sagen“ (zit. nach H. Thomas, 1961, S. 354 f.).

Mit seinem Hinweis auf den nekrophilen Charakter des Rufs „Es lebe der Tod!“ rührte Unamuno an den Kern des Problems des Bösen. Es gibt psychologisch und moralisch keinen schärferen Gegensatz als den zwischen den Menschen, die das Tote, und denen, die das Lebendige lieben, zwischen den Nekrophilen und den Biophilen. Damit soll nicht gesagt sein, dass jemand unbedingt ganz nekrophil oder ganz biophil sein müsste. Es gibt Menschen, die ganz dem Toten zugewandt sind; bei ihnen handelt es sich um Geisteskranke. Es gibt andere, die sich ganz dem Lebendigen hingeben; bei ihnen haben wir den Eindruck, dass sie das höchste Ziel erreicht haben, das dem Menschen erreichbar ist. Bei vielen finden sich sowohl biophile als auch nekrophile Tendenzen in unterschiedlicher Mischung. Hier jedoch – wie bei den meisten Phänomenen des Lebens – kommt es darauf an, welche Tendenz überwiegt, sodass das Verhalten des Betreffenden durch sie bestimmt wird, und es geht nicht darum, ob die eine der beiden Einstellungen ganz fehlt oder ausschließlich vorhanden ist.

Wörtlich übersetzt bedeutet „Nekrophilie“ „Liebe zum Toten“ (so wie „Biophilie“ „Liebe zum Lebendigen“ oder „Liebe zum Leben“ bedeutet). Der Begriff bezeichnet gewöhnlich eine sexuelle Perversion, nämlich den Wunsch, den toten Körper (einer Frau) zum Geschlechtsverkehr zu besitzen, oder den krankhaften Wunsch, sich in der Nähe eines Leichnams aufzuhalten. (Vgl. R. Krafft-Ebing, 1924; M. Hirschfeld, 1944.) Aber – wie dies oft der Fall ist – vermittelt auch eine solche sexuelle Perversion nur ein unverhüllteres und deutlicheres Bild von einer Orientierung, wie man sie ohne sexuelle Beimischung bei vielen Menschen findet. Unamuno hatte dies klar erkannt, als er die Ansprache des Generals als „nekrophil“ bezeichnete. Er wollte damit nicht sagen, dass der General an einer sexuellen Perversion leide, sondern dass er das Leben hasse und das Tote liebe.

Seltsamerweise ist die Nekrophilie als allgemeine Orientierung in der psychoanalytischen Literatur bisher noch nie beschrieben worden, wenngleich sie mit Freuds analsadistischem Charakter wie auch mit seinem Todestrieb verwandt ist. Ich werde an späterer Stelle noch auf diese Zusammenhänge eingehen und möchte jetzt zunächst eine Beschreibung der nekrophilen Persönlichkeit geben.

Ein Mensch mit nekrophiler Orientierung fühlt sich von allem Nicht-Lebendigen, von allem Toten angezogen und fasziniert: von Leichen, Verwesung, Kot und Schmutz. [II-181] Nekrophil sind solche Menschen, die gern über Krankheiten, Begräbnisse und den Tod reden. Wenn sie über den Tod und das Tote reden können, werden sie erst richtig lebendig. Ein deutliches Beispiel für den reinen nekrophilen Typ ist Hitler.[14] Er war fasziniert von Zerstörungen, und er fand Gefallen am Geruch von Totem. Während man in den Jahren seines Erfolges den Eindruck haben konnte, dass er nur die zu vernichten suchte, die er für seine Feinde hielt, zeigten die Tage der Götterdämmerung am Ende, dass er die tiefste Befriedigung beim Anblick totaler und absoluter Zerstörung empfand: bei der Vernichtung des deutschen Volkes, der Menschen seiner Umgebung und seiner selbst. Der Bericht eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg ist zwar nicht bezeugt, passt aber gut ins Bild: Er sah Hitler in einem tranceähnlichen Zustand einen verwesenden Leichnam anstarren, ein Anblick, von dem er sich nicht losreißen konnte.

Nekrophile Menschen leben in der Vergangenheit und nie in der Zukunft. Ihre Gefühle sind im wesentlichen sentimental, das heißt sie hängen an Gefühlen, die sie gestern empfanden – oder empfunden zu haben glauben. Sie sind kalt, auf Distanz bedacht und bekennen sich zu „Gesetz und Ordnung“. Ihre Werte sind genau das Gegenteil von denen, die wir mit dem normalen Leben in Verbindung bringen: nicht das Lebendige, sondern das Tote erregt und befriedigt sie.

Charakteristisch für den nekrophilen Menschen ist seine Einstellung zur Gewalt. Gewalt ist die Fähigkeit, einen Menschen in einen Leichnam zu verwandeln, um sich der Definition von Simone Weil zu bedienen. Genau so wie die Sexualität Leben erzeugen kann, kann die Gewalt es zerstören. Alle Gewalt beruht letzten Endes auf der Macht zu töten. Ich möchte vielleicht einen Menschen nicht gerade töten, sondern ihn nur seiner Freiheit berauben; ich möchte ihn vielleicht nur demütigen oder ihm seinen Besitz wegnehmen – aber was ich auch immer in dieser Richtung tue, hinter all diesen Aktionen steht meine Fähigkeit und meine Bereitschaft zu töten. Wer das Tote liebt, liebt unausweichlich auch die Gewalt. Für einen solchen Menschen ist die größte menschliche Leistung nicht die Erzeugung, sondern die Zerstörung von Leben. Die Gewaltanwendung ist keine ihm von den Umständen aufgezwungene, vorübergehende Handlung – sie ist seine Art zu leben.

Dies ist der Grund, weshalb der nekrophile Mensch in die Gewalt geradezu verliebt ist. So wie für den, der das Leben liebt, die grundlegende Polarität im Menschen die von Mann und Frau ist, existiert für den Nekrophilen eine völlig andere Polarität: die zwischen denen, welche Macht haben zu töten, und denen, welchen diese Macht nicht gegeben ist. Fair ihn gibt es nur zwei „Geschlechter“: die Mächtigen und die Machtlosen, die Töter und die Getöteten. Er ist verliebt in die Tötenden und verachtet die, welche getötet werden. Nicht selten ist dieses „Verliebtsein in die Tötenden“ wörtlich zu verstehen: Sie sind Gegenstand seiner sexuellen Begierden und Phantasien, wenn auch weniger drastisch als bei der oben erwähnten Perversion oder bei der Nekrophagie (dem Verlangen, einen Leichnam zu essen), einem Verlangen, das man nichtselten in den Träumen nekrophiler Personen antrifft. Ich kenne Träume Nekrophiler, in denen diese Geschlechtsverkehr mit einer alten Frau oder einem alten Mann hatten, von denen sie sich in keiner Weise körperlich angezogen fühlten, die sie aber wegen ihrer Macht und Destruktivität fürchteten und bewunderten. [II-182]

Der Einfluss von Menschen wie Hitler und Stalin beruht eben auf deren uneingeschränkter Fähigkeit und Bereitschaft zu töten. Aus diesem Grund wurden sie von den nekrophilen Menschen geliebt. Unter den übrigen hatten viele Angst vor ihnen und zogen es vor, sie zu bewundern, weil sie sich diese Angst nicht eingestehen wollten. Viele andere spürten das Nekrophile in diesen Führern nicht und sahen in ihnen Aufbauende, Erlöser und gute Väter. Hätten diese nekrophilen Führer nicht den falschen Eindruck erweckt, aufbauende Beschützer zu sein, so hätte die Zahl derer, die sich zu ihnen hingezogen fühlten, kaum ausgereicht, ihnen an die Macht zu helfen, und die Zahl derer, die sich von ihnen abgestoßen fühlten, hätte sicher schnell ihren Sturz herbeigeführt.

Während das Leben durch strukturiertes, funktionales Wachstum gekennzeichnet ist, liebt der nekrophile Mensch alles, was nicht wächst, alles, was mechanisch ist. Der nekrophile Mensch wird von dem Verlangen getrieben, Organisches in Anorganisches umzuwandeln, das Leben so mechanisch aufzufassen, als ob alle lebendigen Menschen nichts anderes seien als Dinge. Alle Lebensprozesse, alle Gefühle und Gedanken wandelt er in Dinge um. Für ihn zählt nur die Erinnerung und nicht das lebendige Erleben, es zählt das Haben und nicht das Sein. Der Nekrophile kann zu einem Objekt – einer Blume oder einem Menschen – nur dann in Beziehung treten, wenn er sie besitzt; daher bedeutet ihm eine Bedrohung seines Besitzes eine Bedrohung seiner selbst; verliert er den Besitz, so verliert er den Kontakt mit der Welt. Daher seine paradoxe Reaktion, dass er lieber das Leben als seinen Besitz verlieren würde, obwohl er ja mit dem Verlust seines Lebens aufhört, als Besitzender zu existieren. Er möchte über die anderen herrschen und tötet dabei das Leben. Eine tiefe Angst vor dem Leben erfüllt ihn, weil das Leben seinem Wesen nach ungeordnet und unkontrollierbar ist. Typisch für diese Einstellung ist die Frau, die in der Geschichte vom Salomonischen Urteil zu Unrecht behauptet, die Mutter des Kindes zu sein. Sie will lieber ein in zwei Teile geteiltes totes Kind haben, als ein lebendiges verlieren. Für nekrophile Menschen bedeutet Gerechtigkeit korrekte Teilung, und sie sind bereit, für das, was sie. „Gerechtigkeit“ nennen, zu töten oder zu sterben. „Gesetz und Ordnung“ sind ihre Idole, und alles, was Gesetz und Ordnung bedroht, wird als teuflischer Angriff auf ihre höchsten Werte empfunden.

Der nekrophile Mensch fühlt sich von Nacht und Finsternis angezogen. In der Mythologie und Dichtkunst zieht es ihn zu Höhlen hin oder in die Tiefe des Ozeans, oder er wird blind dargestellt. (Die Trolle in Ibsens Peer Gynt sind ein gutes Beispiel hierfür; sie sind blind[15], sie leben in Höhlen und erkennen nur den narzisstischen Wert des „Daheimgebrauten“ oder Selbstgemachten an.) Alles, was dem Leben abgewandt oder gegen das Leben gerichtet ist, zieht den nekrophilen Menschen an. Er möchte in die Dunkelheit des Mutterschoßes und in die Vergangenheit einer anorganischen oder tierischen Existenz zurückkehren. Er ist grundsätzlich an der Vergangenheit und nicht an der Zukunft orientiert, die er hasst und fürchtet. Damit verwandt ist sein heftiges Verlangen nach Gewissheit. Aber das Leben ist niemals etwas Gewisses, es ist [II-183] nie voraussagbar und niemals unter Kontrolle zu bringen; um es kontrollierbar zu machen, muss man es in Totes verwandeln; der Tod ist ja das einzig Gewisse im Leben.

Die nekrophilen Tendenzen zeigen sich gewöhnlich am deutlichsten in den Träumen eines solchen Menschen. Diese befassen sich mit Mord, Blut, Leichen, Schädeln und Kot; manchmal kommen auch in Maschinen verwandelte Menschen darin vor oder solche, die sich wie Maschinen benehmen. Viele Menschen haben gelegentlich auch einmal solch einen Traum, ohne dass das ein Hinweis auf Nekrophilie wäre. Bei nekrophilen Menschen aber kommen derartige Träume[16] häufig vor, und gelegentlich wiederholt sich der gleiche Traum.

Einen hochgradig nekrophilen Menschen kann man oft schon an seiner äußeren Erscheinung und an seinen Gesten erkennen. Er ist kalt, seine Haut wirkt leblos, und oft könnte man aus seinem Gesichtsausdruck schließen, dass er einen schlechten Geruch wahrnähme. (In Hitlers Gesicht war dieser Ausdruck deutlich zu erkennen.) Der Nekrophile ist von einer zwanghaften pedantischen Ordnungsliebe. Eichmann hat der Welt eine solche nekrophile Persönlichkeit vor Augen geführt. Eichmann war von der bürokratischen Ordnung und vom Toten geradezu fasziniert. Seine höchsten Werte waren Gehorsam und das ordentliche Funktionieren der Organisation. Er transportierte Juden, wie er Kohle transportiert hätte. Dass es sich um menschliche Wesen handelte, nahm er kaum wahr. Daher ist die Frage, ob er seine Opfer hasste oder nicht, irrelevant. Beispiele für den nekrophilen Charakter finden sich jedoch keineswegs nur unter den Inquisitoren, unter den Hitlers und Eichmanns. Es gibt Unzählige, die zwar nicht die Gelegenheit und die Macht zum Töten haben, deren Nekrophilie sich aber auf andere und – oberflächlich betrachtet – harmlosere Weise äußert. Ein Beispiel hierfür ist die Mutter, die sich nur für die Krankheiten und das Versagen ihres Kindes interessiert und die sich in finsteren Prognosen für seine Zukunft ergeht; eine Wendung zum Guten macht ihr dagegen keinen Eindruck; die Freude ihres Kindes lässt sie kalt, und dem Neuen, das in ihm wächst, schenkt sie keine Beachtung. Vermutlich beschäftigen sich ihre Träume mit Krankheit, Tod, Leichen und Blut. Sie fügt ihrem Kind keinen offenkundigen Schaden zu, aber sie kann nach und nach seine Lebensfreude, seinen Glauben an ein Wachstum ersticken und wird es schließlich mit ihrer eigenen nekrophilen Orientierung anstecken.

Häufig steht die nekrophile Orientierung mit entgegengesetzten Tendenzen in Konflikt, sodass es zu einem eigentümlichen Ausgleich kommt. Ein hervorragendes Beispiel für diesen Typ des nekrophilen Charakters war C. G. Jung. In der nach seinem Tode veröffentlichten Autobiographie (C. G. Jung, 1963; vgl. meine Rezension: E. Fromm, 1963e, GA IX, S. 125-130) finden sich zahlreiche Beweise dafür. Seine Träume beschäftigten sich meist mit Leichen, Blut und Totschlag. Als typischen Ausdruck für seine nekrophile Orientierung im realen Leben möchte ich folgendes erwähnen: Als Jungs Haus in Bollingen gebaut wurde, fand man die Überreste eines französischen Soldaten, der 150 Jahre vorher ertrunken war, als Napoleon in die Schweiz einrückte. Jung machte eine Fotografie der Leiche und hängte sie an die Wand. Er begrub sie und feuerte drei Schüsse über das Grab als militärischen Salut. Oberflächlich gesehen kann einem das nur etwas merkwürdig, im übrigen aber bedeutungslos vorkommen. Es ist jedoch eine [II-184] jener vielen „unbedeutenden“ Handlungen, in denen die ihnen zugrunde liegende Orientierung deutlicher zum Ausdruck kommt als in vorausgeplanten, wichtigen Aktionen. Freud selbst ist diese Orientierung Jungs am Toten bereits viele Jahre zuvor aufgefallen. Als er mit Jung nach den Vereinigten Staaten unterwegs war, sprach Jung sehr viel über die noch gut erhaltenen Leichen, die man in den Mooren bei Hamburg gefunden hatte. Freud konnte diese Gespräche nicht leiden und sagte zu Jung, er rede soviel von Leichen, weil er ihm (Freud) unbewusst den Tod wünsche. Jung wies dies empört von sich, doch hatte er einige Jahre später, zur Zeit als er sich von Freud trennte, folgenden Traum: Er hatte das Gefühl, dass er (zusammen mit einem schwarzen Eingeborenen) Siegfried töten müsse. Er ging mit seinem Gewehr hinaus, und als Siegfried auf dem Bergrücken auftauchte, erschoss er ihn. Er war dann vor Entsetzen wie gelähmt und voller Angst, sein Verbrechen könnte entdeckt werden. Glücklicherweise aber fiel ein starker Regen und verwischte alle Spuren des Verbrechens. Jung erwachte und hatte das Gefühl, er müsse sich umbringen, wenn er den Traum nicht deuten könne. Nach einigem Nachdenken kam er auf folgende „Deutung“: Siegfried töten hieß soviel wie den Helden in sich selbst töten und auf diese Weise seine eigene Demut zum Ausdruck bringen. Die geringfügige Änderung von Sigmund in Siegfried genügte einem Mann, dessen größte Leistung die Interpretation von Träumen war, um die wirkliche Bedeutung dieses Traumes vor sich selbst zu verbergen. Stellt man sich die Frage, wie eine so intensive Verdrängung möglich war, so lautet die Antwort, dass der Traum eine Manifestation seiner nekrophilen Orientierung war und dass Jung es sich nicht leisten konnte, sich die Bedeutung dieses Traumes klarzumachen, weil er diese gesamte Orientierung intensiv verdrängt hatte. In dieses Bild passt auch, dass Jung von der Vergangenheit und nur selten von der Gegenwart und Zukunft fasziniert war, dass Steine sein Lieblingsmaterial waren und dass er als Kind phantasierte, dass Gott einen großen Haufen Kot auf eine Kirche herunterfallen ließ und sie auf diese Weise zerstörte. Auch in seiner Sympathie für Hitler und in seinen Rassentheorien kommt diese Hinneigung zu Menschen, die das Tote lieben, zum Ausdruck.

Jung war jedoch andererseits ein ungewöhnlich schöpferischer Mensch, und Kreativität ist das genaue Gegenteil der Nekrophilie. Er löste den Konflikt in sich selbst dadurch, dass er destruktive Kräfte in sich durch seinen Wunsch und seine Fähigkeit zu heilen ausglich und dass er sein Interesse für die Vergangenheit, für Tote und für Zerstörung zum Gegenstand brillanter Spekulationen machte.

Ich könnte mit dieser Beschreibung der nekrophilen Orientierung den Anschein erweckt haben, dass alle hier geschilderten Merkmale notwendigerweise bei einem nekrophilen Menschen vorhanden sein müssen. Es stimmt zwar, dass so divergierende Merkmale wie das Verlangen zu töten, die Anbetung der Gewalt, das Sich-Hingezogen-Fühlen zum Toten und zu Schmutz, der Sadismus, der Wunsch, Organisches durch „Ordnung“ in Anorganisches zu verwandeln, zur gleichen Grundeinstellung gehören. Beim Einzelnen jedoch gibt es beträchtliche Unterschiede bezüglich der Stärke der jeweiligen Strebungen. Jedes der hier erwähnten Merkmale kann beim einen mehr und beim anderen weniger ausgeprägt sein, und ebenso beträchtliche Unterschiede bestehen von Mensch zu Mensch in Bezug darauf, in welchem Verhältnis [II-185] seine nekrophilen Züge zu seinen biophilen stehen und wieweit er sich der nekrophilen Tendenzen bewusst ist oder sie rationalisiert. Aber der Begriff des nekrophilen Typs ist keineswegs eine Abstraktion oder eine Zusammenfassung verschiedener disparater Verhaltenstendenzen. Die Nekrophilie stellt eine grundsätzliche Orientierung dar; sie ist genau jene Antwort auf das Leben, die in völligem Gegensatz zum Leben steht; sie ist die morbideste und gefährlichste unter allen Lebensorientierungen, deren der Mensch fähig ist. Sie ist eine echte Perversion: Obwohl man lebendig ist, liebt man nicht das Lebendige, sondern das Tote, nicht das Wachstum, sondern die Destruktion. Wenn der nekrophile Mensch es wagt, sich über seine Gefühle Rechenschaft abzulegen, dann drückt er das Motto seines Lebens mit den Worten aus: „Es lebe der Tod!“

Das Gegenteil der nekrophilen Orientierung ist die biophile, die ihrem Wesen nach Liebe zum Lebendigen ist. Genau wie die Nekrophilie besteht auch die Biophilie nicht aus einem einzigen Wesenszug, sondern sie stellt eine totale Orientierung, eine alles bestimmende Art zu leben dar. Sie manifestiert sich in den körperlichen Prozessen eines Menschen, in seinen Gefühlen, seinen Gedanken und Gesten; die biophile Orientierung drückt sich im ganzen Menschen aus. In ihrer elementarsten Form kommt sie in der Tendenz zu leben zum Ausdruck, wie sie bei jedem lebendigen Organismus zu finden ist. Im Gegensatz zu Freuds Theorie über den „Todestrieb“ schließe ich mich der Ansicht vieler Biologen und Philosophen an, dass es eine einer jeglichen lebendigen Substanz innewohnende Eigenschaft ist, zu leben und sich am Leben zu erhalten. Spinoza drückt das so aus: „Ein jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren“ (Spinoza, 1966, Ethik Teil III, 6. Lehrsatz). Er bezeichnet dieses Streben als „das wirkliche Wesen dieses Dinges selbst“ (a.a.O., 7. Lehrsatz).

Wir beobachten diese Tendenz zu leben bei jeglicher belebten Substanz um uns; beim Gras, das sich durch Steine hindurch seinen Weg zum Licht und Leben sucht; beim Tier, das bis zum letzten kämpft, um dem Tod zu entrinnen; beim Menschen, der fast alles tut, um sich am Leben zu erhalten.

Die Tendenz, das Leben zu erhalten und sich gegen den Tod zu wehren, ist die elementarste Form der biophilen Orientierung und aller lebenden Substanz eigen. Insofern es sich dabei um eine Tendenz handelt, das Leben zu erhalten und sich gegen den Tod zu wehren, stellt sie nur einen Aspekt des Lebenstriebes dar. Der andere Aspekt ist positiver: Die lebende Substanz hat die Tendenz zur Integration und Vereinigung; sie tendiert dazu, sich mit andersartigen und gegensätzlichen Wesenheiten zu vereinigen und einer Struktur gemäß zu wachsen. Vereinigung und integriertes Wachstum sind für alle Lebensprozesse charakteristisch, und dies trifft nicht nur für die Zellen zu, sondern auch für das Fühlen und Denken.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2014
ISBN (ePUB)
9783959120043
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Erich Fromm Mensch Liebe zum Toten Liebe zum Lebendigen Narzissmus Freiheit Determinismus Alternativismus Psychologie Sozialpsychologie Biophilie Gewalt Destruktivität Nekrophilie Nationalismus Humanismus
Zurück

Titel: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen