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Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud

Beyond the Chains of Illusion. My Encounter with Marx and Freud

©2014 118 Seiten

Zusammenfassung

In dieser intellektuellen Autobiographie beschreibt Erich Fromm eingangs, wie durch sein Erleben und die Folgen des Ersten Weltkriegs sein Interesse für jene, oft irrationalen Kräfte geweckt wurde, die unsere Gesellschaft durchdringen. In den Theorien von Sigmund Freud und Karl Marx fand Fromm Antworten, die er in seiner Sozialpsychologie zu einer Synthese verband. Am Ende steht Fromms Credo, sein analytisch-intensives Glaubensbekenntnis zum Humanismus, das noch heute so aktuell ist wie zur Zeit seiner Entstehung.
„Ich glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, aber ich bezweifle, dass der Mensch dieses Ziel erreicht, wenn er nicht bald erwacht.“ (Erich Fromm)
„Jenseits der Illusionen“ nimmt eine Sonderstellung im Werk Erich Fromms ein. Nur hier gibt es einen autobiografischen Teil, und sein Credo am Ende des Buches erlaubt einen unvergleichlich tiefen Einblick in sein Denken und Fühlen. Wer ihn und seine Theorien kennenlernen und verstehen möchte, erfährt hier mehr als in jeder Biografie.
Aus dem Inhalt:
• Einige persönliche Vorbemerkungen
• Der gemeinsame Boden der Theorien von Marx und Freud
• Die Auffassung vom Menschen und seiner Natur
• Die menschliche Evolution
• Die menschliche Motivation
• Das kranke Individuum und die kranke Gesellschaft
• Der Begriff der seelischen Gesundheit
• Individueller Charakter und Gesellschafts-Charakter
• Das gesellschaftliche Unbewusste
• Das weitere Schicksal der Theorien von Marx und Freud
• Verwandte Ideen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben,
ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.

Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt,
nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage,
sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.
Karl Marx

Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben,
er muss endlich hinaus ins „feindliche Leben“.
Man darf das „ die Erziehung zur Realität“ heißen.

Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion.
Eine Illusion aber wäre es zu glauben,
dass wir anderswoher bekommen könnten,
was sie uns nicht geben kann.

Wo Es war, soll Ich werden.
Sigmund Freud

1 Einige persönliche Vorbemerkungen[1]

Die Frage zu beantworten, warum man sich gerade für jene Bereiche des Denkens interessiert, die nun einmal im eigenen Leben wichtig geworden sind, fällt nicht leicht. Vielleicht ist die Neigung zu bestimmten Fragen angeboren, vielleicht ist es der Einfluss bestimmter Lehrer oder gerade aktueller Ideen, vielleicht sind es persönliche Erlebnisse, die in die Richtung der späteren Interessen gewiesen haben: Wer kann schon sagen, welcher dieser Faktoren seinen späteren Lebensweg bestimmt hat. Wollte man ganz genau die jeweilige Bedeutung all dieser Faktoren erkennen, so könnte man nur mit einer ausführlichen Autobiographie den Versuch einer Antwort wagen.

Da dieses Buch nicht als eine historische, sondern nur als eine Art „intellektuelle“ Autobiographie gedacht ist, möchte ich nur einige Erlebnisse aus meiner Jugendzeit herausgreifen, die für mein späteres Interesse an den Theorien von Marx und Freud sowie an dem, was beide verbindet, bedeutsam wurden.

Warum ich ein so großes Interesse für die Frage entwickelte, warum die Menschen sich gerade so und nicht anders verhalten, dafür mag der Hinweis hilfreich sein, dass ich das einzige Kind eines ängstlichen und launischen Vaters und einer zu Depressionen neigenden Mutter bin. Ich begann mich für die merkwürdigen und geheimnisvollen Ursachen menschlicher Reaktionen zu interessieren. Ganz lebhaft entsinne ich mich noch an eine Begebenheit – ich war damals etwa zwölf Jahre alt –, die mein Denken weit mehr beschäftigte als alles, was ich zuvor erlebt hatte, und die jenes Interesse an Freud vorbereitete, das dann zehn Jahre später offenkundig wurde.

Folgendes war geschehen: Ich kannte eine junge Frau, etwa fünfundzwanzigjährig, eine Freundin meiner Familie. Sie war schön und attraktiv, und außerdem war sie Malerin – die erste Malerin, der ich begegnet war. Ich entsinne mich, gehört zu haben, dass sie verlobt gewesen war, aber nach einiger Zeit die Verlobung wieder gelöst hatte; auch erinnere ich mich, dass sie fast stets in Begleitung ihres verwitweten Vaters war. Soweit ich mich erinnern kann, war ihr Vater ein alter, uninteressanter Mann von wenig anziehendem Äußeren. (Das fand ich wenigstens damals, aber vielleicht war mein Urteil auch etwas von Eifersucht getrübt.)

Eines Tages hörte ich die erschütternde Nachricht, dass der Vater gestorben sei und die junge Frau unmittelbar darauf sich das Leben genommen und ein Testament [IX-040] hinterlassen habe, in dem sie erklärte, sie wolle zusammen mit ihrem Vater begraben werden.

Ich hatte damals noch nie etwas von Ödipuskomplex oder von inzestuöser Fixierung zwischen Tochter und Vater gehört. Aber ich war tief betroffen. Ich hatte mich zu der jungen Frau stark hingezogen gefühlt und den wenig anziehenden Vater verabscheut. Und ich hatte zuvor noch niemanden gekannt, der sich das Leben genommen hatte. Der Gedanke durchfuhr mich: „Wie ist so etwas möglich? Wie ist es möglich, dass eine junge, schöne Frau so in ihren Vater verliebt ist, dass sie ein Grab an seiner Seite den Freuden des Lebens und des Malens vorzieht?“

Ich wusste natürlich keine Antwort auf diese Fragen, aber das „Wie ist so etwas möglich?“ blieb haften. Und als ich mit Freuds Theorien bekannt wurde, schienen sie mir die Antwort auf ein rätselhaftes und erschreckendes Erlebnis meiner Jugendzeit geben zu können.

Mein Interesse an den Ideen von Marx hatte einen anderen Ursprung. Ich wuchs in einer religiösen jüdischen Familie auf, und die Schriften des Alten Testaments bewegten und fesselten mich mehr als alles andere, das mir begegnete. Allerdings galt dieses Interesse nicht für alle Schriften des Alten Testaments in gleichem Maße. So langweilte mich die Geschichte von der Eroberung Kanaans durch die Hebräer, ja sie stieß mich ab. Mit den Geschichten über Mordechai oder Ester wusste ich nichts anzufangen, und auch das Hohelied wusste ich – zu dieser Zeit – noch nicht zu schätzen. Doch die Geschichten vom Ungehorsam Adams und Evas, von Abrahams Ringen mit Gott um die Rettung der Bewohner von Sodom und Gomorra, von Jonas Sendung nach Ninive und viele andere Details der Bibel faszinierten mich.[2] Am allermeisten aber bewegten mich die Schriften der Propheten Jesaja, Amos und Hosea, und zwar nicht sosehr wegen ihrer Warnungen und ihrer Prophezeiung des Untergangs, sondern wegen ihrer Verheißung des Jüngsten Tages, wo die Völker „Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen“ schmieden werden (Jes 2,4); wo die Verheißung galt: „Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt sich nicht mehr für den Krieg“ (Jes 2,4); wo alle Völker Freunde werden, „denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,9).

Die Vision eines universalen Friedens und der Gedanke einer Harmonie zwischen allen Völkern rührten mich, als ich etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Der Grund für dieses Interesse an der Idee des Friedens und des Internationalismus dürfte in der Situation zu suchen sein, in der ich mich damals befand: Ich war ein jüdischer Junge in einer christlichen Umwelt, machte gelegentlich Erfahrungen mit dem Antisemitismus und – was noch entscheidender war – empfand die Fremdheit und die engherzige Abgrenzung gegen Andersartige auf beiden Seiten. Mir missfiel diese Engherzigkeit umso mehr, als ich von dem überwältigenden Wunsch erfüllt war, aus der emotionalen Isolation eines einsamen, verwöhnten Jungen herauszukommen. Was konnte für mich da aufregender und schöner erscheinen als die prophetische Vision von der Brüderlichkeit aller Menschen und von einem universalen Frieden?

Vielleicht hätten mich alle diese persönlichen Erlebnisse nicht so tief und nachhaltig berührt ohne das Ereignis, das meine Entwicklung mehr als alles andere bestimmte: [IX-041] der Erste Weltkrieg. Als dieser Krieg im Sommer 1914 ausbrach, war ich ein Junge von vierzehn Jahren, den die Aufregungen des Krieges, die Siegesfeiern, die Tragödie des Todes einzelner Soldaten, die ich persönlich kannte, mehr als alles andere beeindruckten. Das Problem des Krieges als solches interessierte mich nicht. Seine sinnlose Unmenschlichkeit war mir nicht aufgegangen. Aber bald änderte sich das alles, wozu auch einige Erlebnisse mit meinen Lehrern beitrugen. Mein Lateinlehrer, der in den beiden Jahren vor dem Krieg in seinen Unterrichtsstunden die Devise: Si vis pacem para bellum („Willst du den Frieden, so halte dich kriegsbereit“ – Vegetius Renatus) als seinen Wahlspruch verkündet hatte, war begeistert, als der Krieg ausbrach. Ich merkte jetzt, dass seine angebliche Sorge um die Erhaltung des Friedens nicht echt gewesen sein konnte. Wie war es möglich, dass ein Mann, dem die Erhaltung des Friedens so am Herzen zu liegen schien, jetzt über den Krieg frohlockte? Von da an fiel es mir schwer zu glauben, dass Aufrüstung dem Frieden diene, selbst wenn Menschen dafür eintreten, die mehr guten Willen haben und aufrichtiger sind als mein ehemaliger Lateinlehrer.

Bestürzt war ich auch über den hysterischen Hass gegen die Engländer, der damals ganz Deutschland erfüllte. Plötzlich waren es elende, bösartige und skrupellose Söldner, die unsere unschuldigen und allzu vertrauensseligen deutschen Helden zu vernichten trachteten. Inmitten dieser nationalen Hysterie ist mir ein entscheidendes Ereignis in Erinnerung geblieben. Wir hatten in unserem Englischunterricht die Aufgabe bekommen, die englische Nationalhymne auswendig zu lernen. Diese Aufgabe war uns vor den Sommerferien gestellt worden, als noch Frieden herrschte. Als dann der Unterricht wieder begann, sagten wir Jungen zu unserem Lehrer – teils aus Ungezogenheit und teils, weil wir vom „Hass gegen England“ angesteckt waren –, wir weigerten uns, die Nationalhymne unseres schlimmsten Feindes auswendig zu lernen. Ich sehe ihn noch vor der Klasse stehen, wie er mit einem ironischen Lächeln über unseren Protest ruhig sagte: „Macht euch nichts vor; bis jetzt hat England noch nie einen Krieg verloren.“ Hier sprach die Stimme der Vernunft und des Wirklichkeitssinns inmitten des aberwitzigen Hasses – und es war die Stimme eines verehrten und bewunderten Lehrers! Dieser eine Satz und die ruhige, vernünftige Art, in der er geäußert wurde, war für mich eine Erleuchtung. Er durchbrach die verrückte Hasswelle und die nationale Selbstvergötterung, und ich begann nachzudenken und mich zu fragen: „Wie ist so etwas möglich?“

Ich wurde älter, und meine Zweifel wuchsen. Einige meiner Onkel und Vettern und ältere Schulkameraden fielen im Krieg. Die Siegesprophezeiungen der Generale erwiesen sich als falsch, und bald lernte ich das zweideutige Gerede von „strategischen Rückzügen“ und „siegreicher Verteidigung“ verstehen. Und noch etwas anderes geschah. Die deutsche Presse hatte von Anfang an behauptet, der Krieg sei Deutschland von seinen neidischen Nachbarn aufgezwungen worden, die Deutschland den Hals zudrehen wollten, um einen erfolgreichen Rivalen loszuwerden. Der Krieg wurde als Kampf für die Freiheit hingestellt; kämpfte Deutschland nicht gegen die leibhaftige Verkörperung der Sklaverei und Unterdrückung – gegen den russischen Zaren?

Das klang zwar alles eine Zeitlang überzeugend, besonders da kein Widerspruch laut wurde, aber allmählich kamen mir doch Zweifel. Vor allem stimmte eine wachsende [IX-042] Zahl sozialistischer Abgeordneter im Reichstag gegen den Wehretat und die offizielle Stellungnahme der deutschen Regierung. Eine Flugschrift mit dem Titel J’accuse („Ich klage an“) machte die Runde, in der die Kriegsschuldfrage – soweit ich mich entsinnen kann – im wesentlichen vom Standpunkt der westlichen Alliierten aus dargestellt wurde. Es wurde nachgewiesen, dass die Reichsregierung keineswegs das unschuldige Opfer eines Angriffs war, sondern dass sie zusammen mit der österreichisch-ungarischen Regierung für den Krieg weitgehend verantwortlich war.

Der Krieg ging weiter. Die Schützengräben erstreckten sich von der Schweizer Grenze nordwärts bis zum Meer. Man sprach mit Soldaten und erfuhr, welch ein Leben sie zusammengepfercht in den Schützengräben und Unterständen führten, wie sie dem konzentrierten Artilleriefeuer ausgesetzt wären, das einem feindlichen Angriff vorausging, und wie sie immer wieder von neuem einen Durchbruch versuchten, der ihnen immer wieder misslang. Jahr um Jahr töteten sich die gesunden Männer der beteiligten Völker, die wie Tiere in Höhlen lebten, mit Gewehren, Handgranaten, Maschinengewehren und Bajonetten. Das Gemetzel ging immer weiter, begleitet von den falschen Versprechungen eines baldigen Sieges, von falschen Beteuerungen der eigenen Schuldlosigkeit, von falschen Beschuldigungen des teuflischen Feindes, von falschen Friedensangeboten und heuchlerischen Angeboten hinsichtlich der Friedensbedingungen.

Je länger sich der Krieg hinzog, umso mehr wurde ich aus einem Kind zum Mann und umso dringender stellte ich mir die Frage: „Wie ist so etwas möglich?“ Wie ist es möglich, dass Millionen von Menschen weiterhin in den Schützengräben bleiben, um unschuldige Menschen anderer Völker zu töten und sich selbst töten zu lassen und so ihren Eltern, Frauen und Freunden den tiefsten Schmerz zuzufügen? Wofür kämpfen sie eigentlich? Wie ist es möglich, dass beide Seiten glauben, sie kämpften für Frieden und Freiheit? Wie konnte ein Krieg ausbrechen, wo doch jeder behauptet, er habe ihn nicht gewollt? Wie ist es möglich, dass der Krieg weitergeht, wo doch beide Seiten behaupten, es gehe ihnen nicht um Eroberungen, sondern nur um die Erhaltung ihres eigenen Gebietes und dessen Unantastbarkeit? Wenn aber, wie sich in der Folge herausstellte, beide Seiten doch Eroberungen machen wollten zum Ruhm ihrer politischen und militärischen Führer, wie war es dann möglich, dass Millionen auf beiden Seiten um einer Gebietserweiterung und um der Eitelkeit irgendwelcher Führer willen sich abschlachten ließen? Entsteht der Krieg durch einen sinnlosen Zufall, oder ist er die Folge bestimmter gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die ihren eigenen Gesetzen folgen und die man verstehen, ja sogar voraussagen kann, wenn man nur die Natur dieser Gesetze erkennt?

Als der Krieg 1918 zu Ende ging, war ich ein tief aufgewühlter junger Mensch, der von der Frage besessen war, wie Krieg möglich war, der unbedingt die Irrationalität menschlichen Massenverhaltens verstehen wollte und der von dem leidenschaftlichen Wunsch nach Frieden und internationaler Verständigung erfüllt war. Darüber hinaus hegte ich ein tiefes Misstrauen gegen alle offiziellen Ideologien und Erklärungen und war überzeugt, dass man an allem zweifeln müsse.

Ich habe zu zeigen versucht, welche Erfahrungen in meiner Jugend die Voraussetzungen für mein leidenschaftliches Interesse an den Lehren von Freud und Marx [IX-043] erzeugten. Ich war tief beunruhigt durch Fragen, die individuelle und gesellschaftliche Erscheinungen betrafen, und suchte begierig nach einer Antwort. Ich fand Antworten sowohl im System von Freud wie auch von Marx. Aber auch die Gegensätze in beiden Systemen und der Wunsch, die Widersprüche aufzulösen, reizten mich. Schließlich zweifelte ich, je älter ich wurde und je mehr ich studierte, immer mehr an gewissen Auffassungen in beiden Systemen.

Mein Hauptinteresse war klar umrissen. Ich wollte die Gesetze verstehen lernen, die das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft – das heißt die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Existenz – beherrschen. Ich versuchte die bleibenden Erkenntnisse Freuds gegen solche Annahmen abzugrenzen, die einer Revision bedurften. Dasselbe versuchte ich mit der Theorie von Marx und gelangte schließlich zu einer Synthese, die sich aus dem Verständnis beider Denker und aus der Kritik an ihnen ergab. Ich bemühte mich um dieses Ziel nicht nur mit Hilfe theoretischer Spekulationen. Nicht etwa, dass ich von der reinen Spekulation nichts hielte (es hängt ganz und gar davon ab, wer spekuliert). Da ich es aber für wertvoller halte, die empirische Beobachtung mit der Spekulation zu verbinden (viel Problematisches an den modernen Sozialwissenschaften rührt daher, dass sie über ihren empirischen Beobachtungen oft die Spekulation vernachlässigen), habe ich stets versucht, mich in meinem Denken von der Beobachtung von Tatsachen leiten zu lassen, und mich bemüht, meine Theorien zu revidieren, wenn meine Beobachtungen dies zu erfordern schienen.

Was meine psychologischen Theorien betrifft, so hatte ich ausgezeichnete Beobachtungsmöglichkeiten, da ich seit 1927 praktizierender Psychoanalytiker bin. Ich habe das Verhalten, die freien Assoziationen und die Träume der Menschen, die ich psychoanalytisch behandelt habe, aufs Genaueste untersucht. Weder in diesem Buch noch in irgendwelchen anderen meiner Schriften findet sich auch nur eine einzige theoretische Behauptung über die menschliche Psyche, die sich nicht auf kritische Beobachtungen menschlichen Verhaltens im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Psychoanalytiker gründete. Meine Erforschung des gesellschaftlichen Verhaltens ist vergleichsweise nicht sosehr von der Praxis geprägt. Ich habe mich zwar, seit ich elf oder zwölf Jahre alt war (und mit einem im Geschäft meines Vaters beschäftigten Sozialisten politisierte), bis zum heutigen Tage leidenschaftlich für Politik interessiert, doch war ich mir stets darüber klar, dass ich mich meinem Temperament nach nicht für eine politische Tätigkeit eigne. So habe ich mich auch nicht direkt politisch betätigt, bin erst kürzlich der Amerikanischen Sozialistischen Partei beigetreten und arbeite erst jetzt aktiv in der Friedensbewegung mit. Ich tue das nicht deshalb, weil ich heute meine Fähigkeiten anders beurteile, sondern weil ich es für meine Pflicht halte, nicht passiv zuzusehen, wie unsere Welt sich auf eine selbst gewählte Katastrophe zubewegt. Aber ich möchte unterstreichen, dass ich es nicht nur aus Pflichtgefühl tue. Je verrückter und entmenschlichter unsere Welt zu werden scheint, umso mehr mag der Einzelne das Bedürfnis spüren, sich mit anderen Männern und Frauen zusammenzutun, die einander durch die Sorge um die Menschheit verbunden sind. Ich selbst hatte dieses Bedürfnis sehr stark und ich bin dankbar für die anregende und ermutigende Kameradschaft aller, mit denen es mir vergönnt war zusammenzuarbeiten. Aber auch wenn ich mich nicht aktiv in der Politik betätigt habe, so habe ich [IX-044] meine soziologischen Ideen doch nicht nur aus Büchern bezogen. Zwar hätten meinem Denken ohne Marx und in geringerem Maß ohne andere Wegbereiter der Soziologie wichtige Anstöße gefehlt. Aber die geschichtliche Epoche, in der ich lebte, war ein nie versagendes gesellschaftliches Laboratorium für mich. Der Erste Weltkrieg, die deutsche und die russische Revolution, der Sieg des Faschismus in Italien und der allmählich immer näher rückende Sieg des Nazismus in Deutschland, der Verfall und die Entartung der russischen Revolution, der spanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg und das Wettrüsten – all das bot mir ein Feld für empirische Beobachtungen, das mir die Aufstellung von Hypothesen und deren Verifizierung oder Verwerfung ermöglichte. Da ich ein leidenschaftliches Interesse daran hatte, politische Ereignisse zu verstehen, und mir immer wieder sagte, dass ich vom Temperament her nicht dazu geeignet sei, aktiv tätig zu werden, besaß ich eine gewisse Objektivität, wenn auch nicht jene Leidenschaftslosigkeit, die gewisse Politologen für die Voraussetzung der Objektivität halten.

Ich habe bis jetzt versucht, den Leser an einigen Erfahrungen und Gedanken teilnehmen zu lassen, die mich in den zwanziger Jahren für die Ideen von Freud und Marx sehr empfänglich machten. Auf den folgenden Seiten möchte ich jetzt nicht weiter auf meine persönliche Entwicklung eingehen, sondern über die Ideen und theoretischen Vorstellungen von Freud und Marx sprechen, über die Widersprüche zwischen ihnen und auch darüber, wie man meiner Ansicht nach zu einer Synthese gelangen kann, wenn man versucht, diese Widersprüche zu verstehen und aufzuheben.

Eines möchte ich jedoch noch bemerken, bevor ich mit der Erörterung der Systeme von Marx und Freud beginne. Zusammen mit Einstein waren Marx und Freud die Baumeister des modernen Zeitalters. Alle drei waren durchdrungen von der Überzeugung der grundsätzlich geordneten Struktur der Wirklichkeit. Sie sahen im Wirken der Natur – von welcher der Mensch einen Teil bildet – nicht nur Geheimnisse, die es zu entdecken galt, sondern Modelle und Pläne, die zu erforschen waren. Daher haben sie in ihrem Werk – jeder auf seine besondere Art – teil an der höchsten Kunst und Wissenschaft, in der die Sehnsucht des Menschen nach Verstehen und sein Bedürfnis nach Wissen zum Ausdruck kommt. Ich möchte mich in diesem Buch ausschließlich mit Marx und Freud beschäftigen. Wenn ich ihre beiden Namen so nebeneinanderstelle, könnte leicht der Eindruck entstehen, dass ich sie für zwei Menschen von gleicher Größe und gleicher geschichtlicher Bedeutung halte. Ich möchte aber von Anfang an klarstellen, dass dies nicht der Fall ist. Dass Marx eine Figur von weltgeschichtlicher Bedeutung ist, mit der Freud in dieser Hinsicht nicht zu vergleichen ist, braucht kaum besonders erwähnt zu werden. Selbst wenn man – so wie ich – tief bedauert, dass ein entstellter und unwürdiger Marxismus in fast einem Drittel der Welt gepredigt wird, so verringert das nicht die einzigartige historische Bedeutung von Marx. Aber von dieser geschichtlichen Tatsache ganz abgesehen, halte ich Marx als Denker für weit tiefgründiger und umfassender als Freud.[3] Marx wusste das geistige Erbe des Aufklärungshumanismus und des Deutschen Idealismus mit der Realität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tatsachen in Zusammenhang zu bringen und so die Grundlagen für eine neue Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft zu legen, die gleichzeitig empirisch und vom Geist der humanistischen [IX-045] Tradition des Westens erfüllt ist. Wenn auch dieser Geist des Humanismus von den meisten Systemen, die im Namen von Marx zu sprechen behaupten, abgeleugnet und entstellt wird, so glaube ich doch, dass – wie ich in diesem Buch zeigen möchte – eine Renaissance des westlichen Humanismus Marx seinen hervorragenden Platz in der Geschichte des menschlichen Denkens zurückgeben wird. Aber auch wenn man all das einräumt, wäre es doch recht naiv, Freuds Bedeutung deshalb zu übersehen, weil er an Marx nicht heranreicht. Er ist der Begründer einer wahrhaft wissenschaftlichen Psychologie, und seine Entdeckung der unbewussten Prozesse und der dynamischen Eigenart der Charakterzüge ist ein einzigartiger Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen, der das Bild vom Menschen für alle Zeiten verändert hat.

2 Der gemeinsame Boden der Theorien von Marx und Freud

Bevor ich die Theorien von Marx und Freud im einzelnen erörtere, möchte ich kurz auf die grundlegenden Prämissen eingehen, die beiden Denkern gemeinsam sind. Sie sind sozusagen der gemeinsame Boden, auf dem ihr Denken erwuchs.

Die beiden gemeinsamen grundlegenden Ideen lassen sich am besten in drei kurzen Sentenzen ausdrücken, von denen die beiden ersten römischen, die dritte christlichen Ursprungs ist: 1. De omnibus est dubitandum („Man muss an allem zweifeln“); 2. Humani nil a me alienum puto („Nichts Menschliches ist mir fremd“ – Terenz); 3. „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Jo 8,32).

In der ersten Sentenz kommt etwas zum Ausdruck, was man kritische Grundhaltung nennen könnte. Diese Haltung ist kennzeichnend für die moderne Wissenschaft. Aber während in der Naturwissenschaft der Zweifel sich hauptsächlich auf die Wahrnehmung der Sinne, aufs Hörensagen und auf herkömmliche Meinungen bezieht, betrifft der Zweifel im Denken von Marx und Freud vor allem das, was der Mensch über sich und andere denkt. Wie ich noch ausführlich zeigen werde, hielt Marx das meiste, was wir über uns und andere denken, für reine Illusion, für „Ideologie“. Er glaubte, unsere persönlichen Gedanken richteten sich nach den Ideen, welche die jeweilige Gesellschaft entwickelt, und diese Ideen seien von der besonderen Struktur und Funktionsweise der Gesellschaft determiniert. Eine wachsame, skeptische Einstellung gegenüber allen Ideologien, Ideen und Idealen ist für Marx kennzeichnend. Er hatte immer den Verdacht, dass sie wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen verschleierten, und seine Skepsis war so stark, dass er es kaum über sich brachte, Worte wie Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit zu gebrauchen – und dies deshalb, weil sie sich so leicht missbrauchen lassen, und nicht etwa, weil Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit für ihn nicht die höchsten Werte waren.

Freud hatte die gleiche „kritische Grundhaltung“. Man könnte seine gesamte psychoanalytische Methode als eine „Kunst des Zweifelns“ bezeichnen. Unter dem Eindruck gewisser hypnotischer Experimente, die ihm zeigten, bis zu welchem Ausmaß ein Mensch im Trancezustand Dinge für wirklich hält, die offensichtlich nicht der Realität entsprechen, entdeckte er, dass auch die meisten Vorstellungen, die Menschen haben, die nicht im Trancezustand leben, ebenso wenig der Wirklichkeit [IX-047] entsprechen und dass andererseits der größte Teil der Wirklichkeit uns nicht bewusst ist. Marx hielt die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft für die grundlegende Wirklichkeit, während Freud diese in der libidinösen Organisation des Individuums gegeben sah. Beide aber hegten die gleiche unerbittliche Skepsis gegenüber allen Klischees, Ideen, Rationalisierungen und Ideologien, mit denen die Köpfe der Menschen gefüllt sind und die die Grundlage dessen bilden, was sie irrtümlicherweise für die Wirklichkeit halten.

Diese Skepsis gegenüber dem, was „man denkt“, ist unauflöslich mit dem Glauben an die befreiende Macht der Wahrheit verbunden. Marx wollte die Menschen von den Ketten ihrer Abhängigkeit und ihrer Entfremdung, von ihrer Versklavung durch die Wirtschaft befreien. Doch seine Methode war nicht – wie viele annehmen – die Gewalt. Er versuchte die Mehrheit der Bevölkerung für seine Ideen zu gewinnen. Während man seiner Meinung nach Gewalt anwenden durfte, wenn die Minderheit sich gewaltsam dem Willen der Mehrheit widersetzte, war sein Hauptproblem nicht, wie man die Macht im Staat erringen, sondern wie man die Menschen selbst für seine Ideen gewinnen konnte. Bei ihrer „Propaganda“ wandten Marx und seine legitimen Nachfolger eine Methode an, die der Methode von Politikern genau entgegengesetzt war, ganz gleich ob es sich um bürgerliche, faschistische oder kommunistische Politiker handelte. Er wollte die Menschen nicht durch demagogische Überredungskünste beeinflussen, indem er durch die Angst vor Terror halbhypnotische Zustände hervorrief, sondern appellierte an den Wirklichkeitssinn und an die Wahrheit. Die seiner „Waffe der Wahrheit“ zugrunde liegende Auffassung war die gleiche wie bei Freud: dass der Mensch mit Illusionen lebt, weil diese Illusionen das Elend des wirklichen Lebens erträglich machen. Wenn der Mensch diese Illusionen als das zu erkennen vermag, was sie sind, wenn er also aus seinem halb-traumhaften Zustand aufwachen kann, dann kann er zu sich selbst kommen, kann sich seiner eigenen Kraft und Stärke bewusst werden und die Realität so verändern, dass er die Illusionen nicht mehr nötig hat. Das „falsche Bewusstsein“, das heißt ein entstelltes Bild der Wirklichkeit, schwächt den Menschen. Mit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen, sich ein richtiges Bild von ihr zu machen, stärkt ihn. Daher glaubte Marx, dass seine wichtigste Waffe die Wahrheit sei, die Enthüllung der Realität hinter den sie verbergenden Illusionen und Ideologien. Hierin liegt das einzigartige der marxistischen Propaganda: Diese ist ein emotionaler Appell, um bestimmte politische Ziele zu erreichen, der mit einer wissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher und historischer Erscheinungen einhergeht. Das bekannteste Beispiel dieser Mischung ist das Kommunistische Manifest. Dieses enthält in knapper Form eine glänzende und klar verständliche Analyse der Geschichte und des Einflusses wirtschaftlicher Faktoren und Klassenbeziehungen. Gleichzeitig ist es ein politisches Pamphlet, das mit einem leidenschaftlichen emotionalen Appell an die Arbeiterklasse schließt. Dass der politische Führer gleichzeitig ein Sozialwissenschaftler und ein Schriftsteller sein muss, erwies sich nicht nur an Marx, Engels, Bebel, Jaurès und Rosa Luxemburg. Lenin und viele andere Führer der sozialistischen Bewegung waren Schriftsteller und hatten Sozialwissenschaft und Politische Wissenschaften studiert. (Selbst Stalin, ein Mann von nur geringer schriftstellerischer und wissenschaftlicher Begabung, sah sich gezwungen, Bücher zu [IX-048] schreiben oder unter seinem Namen schreiben zu lassen, um seine Legitimität als Nachfolger von Marx und Lenin unter Beweis zu stellen.) Tatsächlich änderte jedoch der Sozialismus unter Stalin sein Gesicht völlig. Da das Sowjetsystem keiner wissenschaftlichen Analyse unterzogen wird, sind die Sowjet-Soziologen zu Apologeten ihres Systems geworden. Eine wissenschaftliche Funktion haben sie nur noch in technischen Dingen, die mit der Produktion, der Verteilung, der Organisation usw. zu tun haben.

Während die Wahrheit für Marx eine Waffe war, die dazu diente, eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen, diente sie Freud als Waffe zur Herbeiführung einer individuellen Veränderung. Bewusstwerdung war der wichtigste Faktor in Freuds Therapie. Wenn es – das war die Ansicht Freuds – dem Patienten gelingt, den fiktiven Charakter seiner bewussten Ideen einzusehen, wenn er die Realität hinter diesen Ideen zu erfassen vermag, wenn er sich das Unbewusste bewusstmachen kann, dann wird er auch die Kraft gewinnen, sich von den Irrationalitäten zu befreien und sich selbst zu wandeln. Freuds Ziel, „Wo Es war, soll Ich werden“ (S. Freud, 1933a, S. 86), ist nur zu erreichen, wenn man seine Vernunft anstrengt; durch die Fiktionen hindurchdringt und zum Bewusstsein der Realität gelangt. Es ist eben diese Funktion von Vernunft und Wahrheit, die der psychoanalytischen Therapie ihre Einzigartigkeit gegenüber allen anderen Formen der Therapie verleiht. Jede Analyse eines Patienten ist ein neues und originelles Forschungswagnis. Natürlich gibt es allgemeine Theorien und Prinzipien, die man anwenden kann, aber es existiert kein Modell, keine „Formel“, die man auf den individuellen Patienten anwenden könnte oder die ihm weiterhelfen würde. Genau wie der politische Führer nach der Ansicht von Marx ein Sozialwissenschaftler sein musste, so muss nach Ansicht Freuds der Therapeut in der Lage sein, wissenschaftliche Forschungsarbeit zu leisten. Für beide ist die Wahrheit das wesentliche Medium, um die Gesellschaft beziehungsweise den Einzelmenschen zu ändern; die Bewusstmachung ist der Schlüssel für die gesellschaftliche und individuelle Therapie.

Die von Marx getroffene Feststellung: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“ (K. Marx, 1971, S. 208), könnte auch von Freud stammen. Beide wollten den Menschen von den Ketten seiner Illusionen befreien, um ihm die Möglichkeit zu geben, aufzuwachen und als freier Mensch zu handeln.

Das dritte, beiden Systemen gemeinsame Grundelement ist ihr Humanismus, und zwar in dem Sinn, dass jeder Mensch die ganze Menschheit repräsentiert, so dass es nichts Menschliches gibt, was ihm fremd sein könnte. Marx war in dieser Tradition verwurzelt, zu deren hervorragendsten Vertretern Voltaire, Lessing, Herder, Hegel und Goethe gehören. Freud hat seinen Humanismus in erster Linie in seinem Begriff des Unbewussten zum Ausdruck gebracht. Er nahm an, dass alle Menschen dieselben unbewussten Strebungen haben und dass sie daher einander verstehen können, wenn sie nur wagen, in die Unterwelt des Unbewussten hinabzutauchen. Er konnte die unbewussten Phantasien seiner Patienten untersuchen, ohne sich darüber zu entrüsten, darüber zu urteilen oder sich darüber zu wundern. Der „Stoff, aus dem die Träume sind“, und die ganze Welt des Unbewussten wurde für Freud eben deshalb zum [IX-049] Gegenstand seiner Forschung, weil er ihre tief menschlichen und universalen Eigenschaften erkannte.

Der Zweifel, die Macht der Wahrheit und der Humanismus sind die Leitprinzipien und Antriebe für das Werk von Marx wie von Freud. Dieses Einführungskapitel, das sich mit dem gemeinsamen Boden befasst, aus dem die Ideen beider erwuchsen, wäre unvollständig, wenn es nicht noch wenigstens auf ein Merkmal einginge, das beiden Systemen ebenfalls gemeinsam ist: auf ihre dynamische und dialektische Sicht der Wirklichkeit. Dieses Thema zu erörtern, ist umso wichtiger, als die Hegelsche Philosophie in den angelsächsischen Ländern lange kein Thema war, so dass die dynamische Methode von Marx und Freud nur schwer verstanden wird. Beginnen wir mit ein paar Beispielen sowohl aus dem Bereich der Psychologie als auch aus dem der Soziologie.

Nehmen wir als Beispiel aus der Psychologie einen Mann, der schon dreimal verheiratet war. Der Vorgang war jedes Mal der gleiche. Er verliebt sich in ein hübsches junges Mädchen, heiratet sie und ist eine Zeitlang überschwänglich glücklich. Dann fängt er an, sich zu beschweren, seine Frau sei herrschsüchtig, sie beschneide ihm seine Freiheit usw. Nach einer Periode, in der Streit und Versöhnung sich abwechseln, verliebt er sich in ein anderes junges Mädchen – das seiner Frau sehr ähnlich ist. Er lässt sich scheiden und heiratet seine zweite „große Liebe“. Aber mit leichten Abänderungen kommt es zum gleichen Zyklus, und er verliebt sich abermals in ein junges Mädchen von ähnlichem Typ, lässt sich wieder scheiden und heiratet seine dritte „große Liebe“. Der Zyklus wiederholt sich, und er verliebt sich in ein viertes Mädchen, überzeugt, dass es diesmal die wahre und echte Liebe ist (wobei er vergisst, dass er auch jedes Mal zuvor davon überzeugt war), und möchte das junge Mädchen heiraten. Was würden wir diesem letzten jungen Mädchen sagen, wenn es uns nach unserer Meinung fragte, welche Chance es für eine glückliche Ehe mit ihm hätte. Man kann dieses Problem auf verschiedene Weise beurteilen: Einmal nach der rein behavioristischen Methode, indem man von seinem früheren Verhalten auf sein zukünftiges schließt. Dann würde man folgendermaßen argumentieren: Da er schon dreimal seine Frau verlassen hat, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er dies auch ein viertes Mal tun wird, weshalb es zu riskant wäre, ihn zu heiraten. Diese empirische und nüchterne Einstellung hat viel für sich. Wenn nun aber die Mutter des jungen Mädchens diese Argumente vorbrächte, könnte es ihr schwerfallen, auf ein Argument ihrer Tochter eine Antwort zu finden, wenn diese etwa sagte, es sei zwar ganz richtig, dass er sich dreimal so verhalten habe, aber daraus folge nicht, dass er es auch diesmal wieder so machen werde. Entweder – so würde dieses Gegenargument lauten – hat er sich geändert (und wer kann behaupten, dass sich ein Mensch nicht ändern kann?), oder die anderen Frauen waren einfach nicht von der Art, dass er eine so tiefe Liebe für sie empfinden konnte, während sie selbst ihm wirklich entspricht. Es gibt kein überzeugendes Argument, das die Mutter dagegen vorbringen könnte. Und wenn dann die Mutter den Mann selbst kennenlernt und merkt, dass er wirklich von ihrer Tochter hingerissen ist und sehr aufrichtig von seiner Liebe zu ihr spricht, dann wird vielleicht selbst sie als Mutter ihre Meinung ändern und sich von der Tochter überzeugen lassen.

Sowohl die Mutter als auch die Tochter gehen nicht-dynamisch an die Frage heran: [IX-050] Entweder sagen sie etwas voraus, was sich auf das frühere Verhalten des Betreffenden gründet, oder sie gründen ihre Voraussage auf das, was er im Augenblick sagt und tut, aber sie haben keine Möglichkeit zu beweisen, dass ihre Voraussagen mehr als Vermutungen sind.

Was zeichnet im Gegensatz dazu eine dynamische Betrachtungsweise aus? Das Wesentliche bei dieser Methode ist, dass man durch den oberflächlichen Eindruck des früheren oder gegenwärtigen Verhaltens hindurchdringt und zu einem Verständnis der Kräfte gelangt, welche zu dem früheren Verhalten geführt haben. Sind diese Kräfte noch immer vorhanden, so ist anzunehmen, dass auch die vierte Ehe nicht anders ausgehen wird als die vorangegangenen. Wenn dagegen die diesem Verhalten zugrunde liegenden Kräfte sich geändert haben, so müsste man die Möglichkeit oder sogar die Wahrscheinlichkeit einräumen, dass das Ergebnis diesmal trotz des früheren Verhaltens ein anderes sein wird. Welches sind nun die Kräfte, von denen wir hier sprechen? Es handelt sich bei diesen Kräften keineswegs um etwas Mysteriöses oder um Erzeugnisse einer abstrakten Spekulation. Sie sind empirisch erkennbar, wenn wir das Verhalten des Betreffenden auf geeignete Weise studieren. So können wir zum Beispiel annehmen, dass der Mann die Bindung an seine Mutter nicht aufgegeben hat; dass es sich um einen stark narzisstischen Menschen handelt, der tiefe Zweifel an seiner Männlichkeit hegt; dass er ein verspäteter Adoleszent ist, der ein ständiges Bedürfnis nach Bewunderung und Zuneigung hat, so dass er – wenn er eine Frau gefunden hat, die diese Bedürfnisse erfüllt – ihrer bald überdrüssig wird, nachdem er sie erobert hat. Er braucht neue Beweise für seine Attraktivität und muss sich deshalb nach einer anderen Frau umsehen, die ihm diese versichert. Gleichzeitig ist er in Wirklichkeit von Frauen abhängig und hat Angst vor ihnen. Daher gibt ihm jede länger andauernde intime Beziehung das Gefühl, gefangen und gefesselt zu sein. Die Kräfte, die hier am Werk sind, sind sein Narzissmus, seine Abhängigkeit, sein Zweifel an sich selbst. Sie rufen die Bedürfnisse hervor, welche zu dem oben beschriebenen Verhalten führen. Hinter diese Kräfte kommt man, wie gesagt, keineswegs auf Grund abstrakter Spekulationen. Sie lassen sich auf mancherlei Weise beobachten: indem man Träume, freie Assoziationen und Phantasien analysiert, indem man den Gesichtsausdruck, die Gesten, die Sprechweise des Betreffenden und dergleichen mehr beobachtet. Freilich sind sie oft nicht unmittelbar sichtbar; vielmehr muss man auf sie schließen. Außerdem kann man sie nur innerhalb des theoretischen Bezugsrahmens erkennen, in dem sie ihren Platz und ihre Bedeutung haben. Vor allem aber sind diese Kräfte nicht nur nicht bewusst, sondern stehen auch im Widerspruch zum bewussten Denken des Betreffenden. Er ist ehrlich überzeugt, dass er das junge Mädchen ewig lieben wird, dass er von niemandem abhängig, sondern stark und selbstsicher ist. So denkt der Durchschnittsmensch: Wie kann man voraussagen, dass ein Mann, der das Gefühl hat, eine Frau ehrlich zu lieben, diese nach kurzer Zeit verlassen wird, indem man sich dabei nur auf so geheimnisvolle Dinge wie „Mutterbindung“, „Narzissmus“ oder dergleichen beruft? Kann man das mit den eigenen Augen und Ohren nicht besser beurteilen als auf Grund derartiger Deduktionen?

Das Problem in der marxistischen Soziologie ist genau dasselbe. Auch hier wird die dynamische Sicht am besten an einem praktischen Beispiel zu erkennen sein. [IX-051] Deutschland hat zwei Kriege begonnen, den von 1914 und den von 1939, bei denen es ihm fast gelungen wäre, seine westlichen Nachbarländer zu erobern und Russland zu besiegen. Nach seinen Anfangserfolgen wurde Deutschland dann hauptsächlich durch die Übermacht der Vereinigten Staaten geschlagen. Deutschlands Wirtschaft war schwer angeschlagen, doch erholte sie sich beide Male schnell wieder, und fünf bis zehn Jahre nach dem Krieg hatte das Land etwa die gleiche wirtschaftliche und militärische Macht wieder erreicht, die es vor dem Krieg besessen hatte. Bereits 15 Jahre nach seiner Niederlage, die weit vernichtender war als die im Ersten Weltkrieg, war Deutschland in Europa (nach der Sowjetunion) wieder die stärkste Industrie- und Militärmacht. Es hat zwar einen beträchtlichen Teil seines früheren Territoriums verloren, doch ist sein Wohlstand größer als je zuvor. Das heutige Deutschland besitzt eine demokratische Regierung. Es hat nur eine kleine Armee, Kriegsmarine und Luftwaffe. Es erklärt, es werde keinen Versuch machen, die verlorenen Gebiete mit Gewalt zurückzuerobern, wenngleich es seine Ansprüche auf diese Territorien nicht aufgegeben hat. Die Sowjetstaaten und kleine Gruppen in den westlichen Ländern betrachten dieses neue Deutschland voller Argwohn und Furcht. Man argumentiert, Deutschland habe seine Nachbarn schon zweimal angegriffen, es habe sich trotz zweier Niederlagen wieder bewaffnet, die Generale des „neuen“ Deutschland seien die gleichen, die unter Hitler gedient hätten, und es sei zu erwarten, dass Deutschland einen dritten Versuch unternehmen und diesmal die Sowjetunion angreifen werde, um seine verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Auf diese Argumente antworten die NATO-Länder und die meisten Vertreter der öffentlichen Meinung, dieser Verdacht sei unbegründet und geradezu phantastisch, denn: Handele es sich nicht um ein neues und demokratisches Deutschland, hätten seine Führer nicht erklärt, dass sie Frieden wollten, und sei die deutsche Armee mit ihren zwölf Divisionen nicht so klein, dass sie für niemanden eine Bedrohung darstelle? Wenn man nur die Äußerungen der deutschen Regierung (vorausgesetzt, man glaubt, sie entsprechen der Wahrheit) und die gegenwärtige militärische Stärke Deutschlands in Betracht zieht, dann erscheint einem die Auffassung der NATO in der Tat recht überzeugend. Aber auch das Argument, die Deutschen würden wieder angreifen, weil sie es schon früher getan hätten, ist stichhaltig. Das Problem ist, dass man so wenig beweisen kann, dass Deutschland sich geändert hat. Auch hier, wie bei unserem Beispiel aus der Psychologie, bleiben wir auf Vermutungen angewiesen, wenn wir nicht darangehen, die Kräfte zu analysieren, die hinter der deutschen Entwicklung stehen.

Deutschland, der Nachzügler unter den großen westlichen Industriesystemen, begann nach 1871 seinen spektakulären Aufstieg. 1895 hatte seine Stahlproduktion bereits die Englands erreicht, und 1914 war Deutschland England und Frankreich weit überlegen. Deutschland besaß ein äußerst leistungsfähiges Industriesystem (wozu seine nüchtern denkende, fleißige und gebildete Arbeiterschaft wesentlich beitrug), doch besaß es nicht genügend Rohstoffe und hatte nur wenige Kolonien. Um sein wirtschaftliches Potential maximal zu realisieren, musste es sich ausdehnen, es musste Gebiete erobern, die in Europa und Afrika über Rohstoffe verfügten. Gleichzeitig besaß Deutschland ein Offizierskorps nach preußischer Tradition, das sich seit langem durch seine Disziplin, seine Loyalität und seine Hingabe an die Armee auszeichnete. Das [IX-052] industrielle Potential mit der ihm eigenen Tendenz sich auszuweiten war zusammen mit der Tüchtigkeit und dem Ehrgeiz der Militärs das explosive Gemisch, das Deutschland 1914 in sein erstes Kriegsabenteuer hineinführte. Die deutsche Regierung unter Bethmann Hollweg suchte zwar nicht den Krieg, doch wurde sie durch die Militärs hineingetrieben. Bereits drei Monate nach Kriegsbeginn akzeptierte sie die Kriegsziele, welche die Vertreter der Schwerindustrie und der Großbanken ihr unterbreiteten. Diese Kriegsziele waren mehr oder weniger die gleichen wie die vom Alldeutschen Verband geforderten, welcher seit den neunziger Jahren die treibende Kraft in Industriekreisen war. Es ging um die französischen, belgischen und luxemburgischen Kohle- und Eisenvorräte, um Kolonien in Afrika (insbesondere um Katanga) und um einige Gebiete im Osten. Deutschland verlor den Krieg, aber dieselben Industriellen und Offiziere blieben trotz der Revolution, die sie eine kurze Zeit zu gefährden schien, an der Macht. In den dreißiger Jahren hatte Deutschland die Vormachtstellung, die es vor 1914 innegehabt hatte, zurück gewonnen. Doch die große Wirtschaftskrise mit ihren sechs Millionen Arbeitslosen bedrohte das gesamte kapitalistische System. Die Sozialisten konnten zusammen mit den Kommunisten fast die Hälfte aller Wählerstimmen für sich buchen, die Nazis gewannen Millionen für ihr angeblich antikapitalistisches Parteiprogramm. Die Industriellen, Bankiers und Generale gingen auf Hitlers Angebot ein, die Parteien der Linken und die Gewerkschaften zu zerschlagen, in Deutschland einen nationalistischen Geist zu wecken und eine neue, starke Armee aufzubauen. Als Gegenleistung ließen sie ihn sein Rassenprogramm durchführen, das seinen industriellen und militärischen Verbündeten zwar nicht gerade behagte, gegen das sie aber kaum Einwände erhoben. Die einzige Nazi-Macht, die den Industriellen und der Armee hätte gefährlich werden können – die SA –, wurde 1934 durch die Massenausrottung ihrer Führer praktisch vernichtet. Hitlers Ziel war die Durchführung des gleichen Programms, das Ludendorff 1914 verwirklichen wollte. Diesmal waren die Generale zurückhaltender mit ihren Kriegsplänen. Aber da Hitler die Sympathien der westlichen Regierungen genoss, brachte er es fertig, seine Generale von seinen überragenden Fähigkeiten und von der Richtigkeit seiner militärischen Pläne zu überzeugen. Er gewann ihre Unterstützung für den Krieg von 1939, der die gleichen Ziele verfolgte, wie der Kaiser sie 1914 angestrebt hatte. Während der Westen bis 1938 mit Hitler sympathisierte und kaum gegen dessen rassistische und politische Verfolgungen protestierte, änderte sich die Situation, als Hitler sein vorsichtiges Vorgehen aufgab und so Großbritannien und Frankreich in den Krieg hineinzwang. Von da an erweckte man den Anschein, dass der Krieg gegen Hitler ein Krieg gegen die Diktatur sei, während es sich – genau wie 1914 – um einen Krieg gegen einen Angriff auf die wirtschaftliche und politische Position der Westmächte handelte.

Nach der Niederlage brachte Deutschland die Legende auf, der Zweite Weltkrieg sei ein Krieg gegen die Nazi-Diktatur gewesen, indem es sich der herausragenden, bekanntesten Nazi-Führer entledigte (und an die Juden und die Regierung von Israel beträchtliche Summen als Wiedergutmachung zahlte). Hiermit suchte man zu beweisen, dass das neue Deutschland sich von dem des Kaisers und Hitlers völlig unterschied. Aber in Wirklichkeit hatte sich die Grundsituation nicht geändert. Die [IX-053] deutsche Industrie ist heute ebenso stark, wie sie es vor dem Zweiten Weltkrieg war, nur das deutsche Staatsgebiet ist noch mehr zusammengeschrumpft. Das deutsche Militär ist noch immer das gleiche, wenn auch die Junker ihre wirtschaftliche Basis in Ostpreußen verloren haben. Die Kräfte hinter dem deutschen Expansionismus sind noch immer die gleichen wie 1914 und 1939, und sie besitzen heute eine noch stärkere emotionale Dynamik, nämlich als Ruf nach der Rückgabe der „geraubten“ Gebiete. Die deutschen Führer haben dazugelernt; diesmal schlossen sie gleich zu Anfang ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten, anstatt die stärkste Macht des Westens als potentiellen Feind zu haben. Diesmal haben sie sich mit ganz Westeuropa zusammengetan und haben alle Aussicht, als führende Macht des neuen Vereinten Europa daraus hervorzugehen, nachdem sie auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet bereits die stärkste Macht sind. Das von Deutschland angeführte Neue Europa wird ebenso expansionistisch sein wie es das Alte Deutschland war, und in seinem Bestreben, die früheren deutschen Gebiete zurückzubekommen, wird es eine noch größere Gefahr für den Frieden sein. Hiermit möchte ich nicht behaupten, dass Deutschland den Krieg will, und ganz gewiss nicht, dass es einen Atomkrieg will. Ich möchte nur sagen, dass das neue Deutschland seine Ziele ohne Krieg zu erreichen hofft und zwar auf Grund der Drohung, die von einer überwältigenden Streitmacht ausgeht, nachdem diese erst einmal aufgestellt ist.[4]

Aber diese Kalkulation dürfte höchstwahrscheinlich zum Krieg führen, da der Sowjetblock nicht ruhig zusehen wird, wie Deutschland immer stärker wird – genau so wenig wie Großbritannien und Frankreich das 1914 und 1939 taten.

Auch hier geht es darum, dass wirtschaftliche, gesellschaftliche und emotionale Kräfte am Werk sind, die innerhalb von 25 Jahren zwei Kriege verursacht haben und die wahrscheinlich einen weiteren Krieg verursachen werden. Nicht dass jemand einen Krieg will; diese Kräfte wirken hinter dem Rücken der Menschen und führen zu bestimmten Entwicklungen, die den Krieg hervorrufen. Nur eine Analyse dieser Kräfte kann uns die Vergangenheit verstehen und die Zukunft voraussehen helfen; eine Meinung, die sich auf die Beobachtung von Erscheinungen beschränkt, wie sie gegenwärtig existieren, genügt nicht.

Marx hatte genau wie Freud seine Vorläufer. Aber beide gingen ihr Thema als erste mit wissenschaftlichen Methoden an. So vollbrachten sie für die Gesellschaft beziehungsweise für den Einzelnen das, was die Physiologie für die lebende Zelle und was die theoretische Physik für das Atom getan hat. Marx betrachtete die Gesellschaft als eine komplizierte Struktur mit verschiedenen gegensätzlichen aber feststellbaren Kräften. Die Kenntnis dieser Kräfte ermöglicht es, die Vergangenheit zu verstehen und bis zu einem gewissen Grad auch die Zukunft vorauszusagen – freilich nicht in dem Sinn, dass bestimmte Ereignisse unter allen Umständen eintreten werden, sondern eher im Sinn begrenzter Alternativen, unter denen der Mensch zu wählen hat. [IX-054]

Freud entdeckte, dass der Mensch als eine geistig-seelische Größe von Kräften strukturiert ist, die gegensätzlicher Natur sein können und mit Energie geladen sind. Auch hier geht es um die wissenschaftliche Aufgabe, die Qualität, Intensität und Richtung dieser Kräfte zu erkennen, um die Vergangenheit zu verstehen und Alternativen für die Zukunft voraussagen zu können. Auch hier ist eine Veränderung nur soweit möglich, wie die vorhandene Struktur der Kräfte es zulässt. Außerdem erfordert eine echte Veränderung – soll sie eine Energieveränderung innerhalb der gegebenen Struktur sein – nicht nur ein tief reichendes Verständnis für diese Kräfte und für die Gesetze, nach denen sie wirken, sondern auch große Anstrengungen und Willenskraft.

Der gemeinsame Boden, aus dem die Ideen von Marx und Freud erwuchsen, sind die Vorstellungen von Humanismus und Humanität, die bis zur jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Tradition zurückreichen, die mit der Renaissance wieder neu in der europäischen Geschichte Einlass fanden, und die sich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert voll entfalteten. Das humanistische Ideal der Renaissance war die Entfaltung des ganzen, universalen Menschen, des uomo universale, den man als die höchste Blüte der natürlichen Entwicklung ansah.

Freuds Verteidigung der Rechte der natürlichen Triebe gegen die Mächte der gesellschaftlichen Konvention gehörte zur Tradition des Humanismus genau wie sein Ideal, dass die Vernunft diese Triebe beherrschen und veredeln soll. Marx’ Protest gegen eine Gesellschaftsordnung, in welcher der Mensch durch seine Versklavung durch die Wirtschaft verkrüppelt wird, und sein Ideal der vollen Entfaltung des ganzen, nicht entfremdeten Menschen, gehören zur gleichen humanistischen Tradition. Freuds Vision wurde durch seine mechanistisch-materialistische Weltanschauung beeinträchtigt, bei der die Bedürfnisse des Menschen nur als sexuelle interpretiert wurden. Die Vision von Marx war viel weiter gespannt, eben weil er die verkrüppelnde Wirkung der Klassengesellschaft erkannt hatte und deshalb zu einer Vision des unverkrüppelten Menschen und seiner Entwicklungsmöglichkeiten in einer völlig menschlichen Gesellschaft kommen konnte. Freud war ein liberaler Reformer, Marx ein radikaler Revolutionär. Doch so verschieden sie waren, beide erfüllte ein unbedingter Wille, den Menschen zu befreien, ein ebenso unbedingtes Vertrauen auf die Wahrheit als Werkzeug der Befreiung, sowie der Glaube, dass die Voraussetzung für diese Befreiung die Fähigkeit des Menschen ist, die Ketten der Illusion zu zerbrechen.

3 Die Auffassung vom Menschen und seiner Natur

Dass alle Menschen die gleichen anatomischen und physiologischen Grundmerkmale miteinander gemeinsam haben, ist allgemein bekannt. Kein Arzt würde vermuten, er könne nicht einen jeden Menschen ohne Rücksicht auf seine Rasse oder Hautfarbe mit den gleichen Methoden behandeln, wie er sie bei Menschen seiner eigenen Rasse anwendet. Haben jedoch auch alle Menschen die gleichen psychischen Anlagen? Haben sie alle die gleiche menschliche Natur? Gibt es überhaupt so etwas wie die „menschliche Natur“?

Das ist keineswegs eine rein akademische Frage. Wie könnte man von der Menschheit – außer in einem rein physiologischen und anatomischen Sinn – sprechen, wenn die Menschen sich in Bezug auf ihre psychische und geistige Struktur grundsätzlich voneinander unterschieden? Wie könnten wir den „Fremden“ verstehen, wenn er grundlegend anders wäre als wir? Wie könnten wir die Kunst völlig anderer Kulturen, ihre Mythen, ihre Dramen, ihre Skulpturen verstehen, wenn uns nicht allen die gleiche menschliche Natur gemeinsam wäre?

Die ganze Vorstellung von Humanität und Humanismus gründet in der Idee einer menschlichen Natur, die allen Menschen gemeinsam ist. Das war die Prämisse des buddhistischen wie des jüdisch-christlichen Denkens. Der Buddhismus entwickelte ein Bild des Menschen in existentialistischen und anthropologischen Begriffen und nahm an, dass die gleichen psychischen Gesetze für alle Menschen gelten, weil die conditio humana für uns alle die gleiche ist; dass wir alle in der Illusion der Getrenntheit und Unzerstörbarkeit unseres Ich leben; dass wir alle eine Antwort auf das Problem unserer Existenz zu finden suchen, indem wir versuchen, uns gierig an allen Dingen, einschließlich dem besonderen Ding unseres „Ich“ festzuklammern; dass wir alle leiden, weil diese Antwort auf das Leben falsch ist und wir nur vom Leiden erlöst werden können, wenn wir die richtige Antwort geben: wenn wir die Illusion unseres Abgetrenntseins und unsere Gier überwinden und aufwachen, um die unser Dasein beherrschende Grundwahrheit zu erkennen. Die jüdisch-christliche Tradition, die auf einen obersten Schöpfer und Herrscher, auf Gott hin konzipiert ist, definiert den Menschen auf andere Weise. Ein einzelner Mann und eine einzelne Frau sind die Vorfahren der gesamten menschlichen Rasse, und diese Vorfahren sowie alle [IX-056] künftigen Generationen sind „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen. Sie haben alle die gleichen Wesenszüge miteinander gemeinsam, die sie zum Menschen machen, die sie befähigen, einander zu kennen und zu lieben. Es ist dies die Voraussetzung für die prophetische Vision der Messianischen Zeit, der friedlichen Vereinigung der gesamten Menschheit.

Unter den Philosophen postulierte Spinoza, der Vater der modernen dynamischen Psychologie, ein „Modell der menschlichen Natur“, das feststellbar und definierbar ist und aus dem sich die Gesetze menschlichen Verhaltens und menschlicher Reaktionen ergeben. Man konnte jetzt den Menschen schlechthin, und nicht nur den Menschen dieser oder jener Kultur, genau wie jedes- andere Wesen in der Natur verstehen, weil der Mensch sich immer gleich ist und die gleichen Gesetze für uns alle zu allen Zeiten gelten. Die Philosophen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts (besonders Goethe und Herder) glaubten, dass die dem Menschen innewohnende Humanität ihn zu immer höheren Entwicklungsstufen führen würde; sie glaubten, jeder einzelne trage nicht nur seine eigene Individualität, sondern gleichzeitig die ganze Menschheit mit all ihren Möglichkeiten in sich. Darum bestand für sie die Lebensaufgabe in der Entwicklung der Ganzheit auf dem Weg über die Individualität. Von der Stimme der Humanität glaubten sie, dass sie einem jeden mitgegeben sei und von jedem menschlichen Wesen verstanden werden könne. (Vgl. H. A. Korff, 1958, sowie die glänzende Abhandlung über das Humanitätsideal in Goethes Iphigenie von O. Seidline, 1961.)

Heute hat die Idee einer menschlichen Natur oder eines Wesens des Menschen an Ansehen verloren, teils, weil wir skeptischer geworden sind gegenüber metaphysischen und abstrakten Begriffen wie „das Wesen des Menschen“, teils aber auch, weil uns das Erlebnis der Humanität verlorengegangen ist, das den buddhistischen und den jüdisch-christlichen Vorstellungen wie auch den Ideen Spinozas und der Aufklärung zugrunde lag. Die heutigen Psychologen und Soziologen neigen zu der Ansicht, der Mensch sei ein unbeschriebenes Blatt Papier, auf das die jeweilige Kultur ihren Text schreibe. Sie bestreiten zwar nicht die Einzigartigkeit der menschlichen Spezies, aber sie haben den Begriff der Humanität fast seines gesamten Inhalts und all seiner Substanz beraubt.

Im Gegensatz zu diesen gegenwärtigen Tendenzen nahmen Marx und Freud an, das Verhalten der Menschen sei eben deshalb erfassbar, weil es sich dabei um das Verhalten des Menschen handle, um das Verhalten einer Gattung, die man im Hinblick auf ihre seelische und geistige Eigenart definieren könne.

Wenn Marx eine Natur des Menschen annahm, so fiel er nicht in den verbreiteten Irrtum, sie mit ihren speziellen Manifestationen zu verwechseln. Er unterschied die „menschliche Natur im allgemeinen“ und die „in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur“ (K. Marx, MEW 23, S. 637, Anm. 63). Natürlich bekommen wir die menschliche Natur im allgemeinen niemals zu Gesicht, weil das, was wir beobachten, immer die spezifischen Manifestationen der menschlichen Natur in den verschiedenen Kulturen sind. Aber wir können aus diesen verschiedenen Manifestationen auf das schließen, was „die menschliche Natur im allgemeinen“ ist, welche Gesetze sie beherrschen und welche Bedürfnisse der Mensch als Mensch hat. [IX-057]

In seinen Frühschriften bezeichnete Marx „die menschliche Natur im allgemeinen“ noch als „Wesen des Menschen“. Später gab er diese Bezeichnung auf, weil er klarstellen wollte, dass „das menschliche Wesen (...) kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum“ ist (MEGA I, 5, S. 535 = MEW 03a, S. 6).[5] Marx wollte auch den Eindruck vermeiden, dass er das Wesen des Menschen für eine ungeschichtliche Substanz hielt. Für ihn war die Natur des Menschen ein gegebenes Potential, ein Bedingungsgefüge, das menschliche Rohmaterial sozusagen, das man als solches nicht ändern kann, wie ja auch die Größe und Struktur des menschlichen Gehirns seit Beginn der Zivilisation gleich geblieben ist. Aber dennoch verändert sich der Mensch. Er ist das Produkt der Geschichte und wandelt sich im Verlauf seiner eigenen Geschichte. Er wird zu dem, was er potentiell ist. Die Geschichte ist der Prozess, in dem der Mensch sich dadurch selbst erschafft, dass er – im Prozess der Arbeit – jene Möglichkeiten entwickelt, die bereits bei seiner Geburt in ihm angelegt waren. „Die ganze sogenannte Weltgeschichte ist nichts anderes als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozess“ (MEGA I, 3, S. 125 = MEW Erg. I, S. 546).

Marx wandte sich gegen zwei Positionen: einmal gegen die unhistorische, dass es sich bei der Natur des Menschen um eine Substanz handele, die bereits zu Anfang der Geschichte vorhanden gewesen sei, aber auch gegen die relativistische Auffassung, dass die Natur des Menschen überhaupt keine Qualität an sich besitze und nichts weiter sei als das Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Marx ist jedoch nie dazu gekommen, seine eigene Theorie über die Natur des Menschen voll zu entwickeln und die unhistorische und die relativistische Position zu überschreiten. Deshalb bleibt seine Position für verschiedene, widersprüchliche Interpretationen offen.

Trotzdem ergeben sich aus seiner Vorstellung vom Menschen bestimmte Auffassungen über menschliche Krankheit und Gesundheit. Die Manifestation psychischer Krankheit ist für Marx der verkrüppelte und entfremdete Mensch. Die Manifestation psychischer Gesundheit ist der produktiv-tätige, unabhängige Mensch. Wir werden später noch auf diese Begriffe zurückkommen, nachdem wir den Begriff der menschlichen Motivation bei Marx und Freud erörtert haben. An dieser Stelle müssen wir jedoch zunächst noch einmal auf den Begriff der menschlichen Natur in Freuds Denken zurückkommen. Man braucht jemandem, der mit Freuds System vertraut ist, kaum zu erklären, dass der Gegenstand seiner Forschung der Mensch als Mensch war, oder dass Freud – um mit Spinoza zu reden – ein „Modell der menschlichen Natur“ konstruierte. Dieses Modell entsprach dem materialistischen Denken des neunzehnten Jahrhunderts. Man stellte sich den Menschen als Maschine vor, die von einer [IX-058] relativ konstanten, als „Libido“ bezeichneten sexuellen Energie angetrieben wird. Diese Libido verursacht eine schmerzhafte Spannung, die nur durch den Akt körperlicher Entspannung reduziert wird. Die Befreiung von einer schmerzhaften Spannung nannte Freud „Lust“. Nach der Reduktion der Spannung nimmt die Libido auf Grund chemischer Vorgänge im Körper wieder zu, wodurch das Bedürfnis nach einer Spannungsreduktion, das heißt nach einer lustvollen Befriedigung aufs Neue entsteht. Diese Dynamik, die von Spannung und Entspannung und zu neuer Spannung – von Schmerz zu Lust und wieder zu Schmerz – führt, bezeichnet Freud als „Lustprinzip“. Er stellte es in Gegensatz zum „Realitätsprinzip“, das dem Menschen sagt, was er in der realen Welt, in der er lebt, anstreben und was er vermeiden muss, wenn er überleben will. Das Realitätsprinzip gerät oft in Konflikt mit dem Lustprinzip, und eine gewisse Ausgewogenheit zwischen beiden ist die Voraussetzung für seelische Gesundheit. Wenn andererseits eines der beiden Prinzipien aus dem Gleichgewicht gerät, so hat dies neurotische oder psychotische Erscheinungen zur Folge.

4 Die menschliche Evolution

Wie Marx so fasst auch Freud die Entwicklung des Menschen als Evolution auf. Bei seinen Gedanken über die Entwicklung des Individuums nimmt Freud an, dass die Hauptantriebskraft – die sexuelle Energie – selbst eine Evolution durchmacht, die bei jedem Menschen von der Geburt bis zur Pubertät reicht. Die Libido geht durch verschiedene Stadien: zuerst zentriert sie sich im Saugen und Beißen des Säuglings, dann im Prozess der analen und urethralen Ausscheidungen und schließlich im Genitalapparat. Die Libido ist dieselbe und doch auch wieder nicht dieselbe im Leben eines jeden Individuums. Ihr Potential ist gleich, aber ihre Erscheinungsweisen ändern sich im Prozess der individuellen Entwicklung.

Freuds Bild von der Entwicklung der menschlichen Rasse ähnelt in gewisser Hinsicht dem der individuellen Entwicklung, weist andererseits aber auch Unterschiede auf. Freud sieht im Primitiven einen Menschen, der alle seine Triebe voll befriedigt, und zwar auch jene perversen Triebe, die zur primitiven Sexualität gehören. Aber der in seinen Trieben voll befriedigte primitive Mensch ist kein Schöpfer von Kultur und Zivilisation.

Aus Gründen, die Freud leider nicht klarmacht, beginnt der Mensch, Kultur zu schaffen. Eben diese schöpferische Leistung zwingt ihn jedoch, auf die unmittelbare und völlige Befriedigung seiner Triebe zu verzichten; der frustrierte Trieb wird in nichtsexuelle seelische und geistige Energie verwandelt, die der Baustein für die Kultur ist. (Freud hat diese Verwandlung sexueller in nicht-sexuelle Energie „Sublimierung“ genannt, wobei er sich einer Analogie aus der Chemie bediente.) Je mehr die Kultur sich entwickelt, umso mehr sublimiert der Mensch, umso mehr aber frustriert er auch seine ursprünglichen libidinösen Triebe. Er wird weiser und kultivierter, aber in gewisser Hinsicht wird er auch weniger glücklich, als es der Primitive war, und er neigt stärker zu Neurosen, welche die Folge seines zu starken Triebverzichts sind. Der Mensch wird unzufrieden mit der von ihm selbst geschaffenen Kultur. Wenn auch die historische Entwicklung vom Standpunkt der kulturellen Errungenschaften aus gesehen eine positive Erscheinung ist, bringt sie doch auch ein wachsendes Unbehagen mit sich und begünstigt die Genese von Neurosen.

Ein weiterer Aspekt von Freuds Geschichtstheorie steht mit dem Ödipuskomplex in [IX-060] Zusammenhang. In Totem und Tabu (S. Freud, 1912-13) entwickelt er die Hypothese, dass der entscheidende Schritt von der primitiven zur zivilisierten Geschichte in der Rebellion der Söhne gegen ihren Vater und in der Ermordung des verhassten Vaters zu suchen ist. Die Söhne schaffen ein Gesellschaftssystem, das sich auf eine Übereinkunft gründet, die weitere Vatermorde unter den Rivalen ausschließt und moralische Grundsätze aufstellt. Die Entwicklung des Kindes erfolgt nach Freud auf einem ähnlichen Weg. Der kleine Junge ist im Alter von fünf oder sechs Jahren auf seinen Vater stark eifersüchtig und unterdrückt seine mörderischen Wünsche gegen ihn nur unter dem Druck seiner Kastrationsangst. Um seine ständige Angst loszuwerden, internalisiert er das Inzest-Tabu und baut so den Kern auf, um den herum sich sein „Gewissen“ (sein Über-Ich) entfalten wird. Später kommen zu den ursprünglichen vom Vater gesetzten Tabus noch die Verbote und Vorschriften anderer Autoritäten und der Gesellschaft hinzu.

Marx hat nicht versucht, die Entwicklung des einzelnen Menschen zu skizzieren. Ihn interessierte nur die Entwicklung des Menschen in der Geschichte.

Die Geschichte wird nach Marx in ihrem Verlauf durch ständige Widersprüche bestimmt. Die Produktivkräfte wachsen, und hierdurch entstehen Konflikte mit den bestehenden ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Dieser Konflikt (zum Beispiel zwischen der Dampfmaschine und der vorangegangenen gesellschaftlichen Organisation der Manufaktur) führt zu gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen. Die neu entstandene Stabilität wird jedoch durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte (zum Beispiel von der Dampfmaschine zur Verwendung von Benzin, Elektrizität bis hin zur Atomenergie) wiederum gefährdet. Dies führt zu neuen Gesellschaftsformen, die den veränderten Produktivkräften besser entsprechen. Hand in Hand mit dem Konflikt zwischen den Produktivkräften und den sozio-politischen Strukturen geht der Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Die feudale Klasse, die sich auf ältere Produktionsformen gründet, gerät in Konflikt mit dem neuen Mittelstand der kleinen Handwerksbetriebe und Geschäftsleute; etwas später befindet sich dieser Mittelstand selbst im Konflikt mit der Arbeiterschaft und mit den Führern der monopolistischen Großunternehmen, die die früheren kleineren Unternehmensformen zu ersticken suchen.

Die psychische Entwicklung des Menschen spielt sich innerhalb des geschichtlichen Prozesses ab. Der Zentralbegriff in Marx’ Evolutionstheorie ist die Beziehung des Menschen zur Natur und die Entwicklung dieser Beziehung. Zu Beginn seiner Geschichte ist der Mensch von der Natur völlig abhängig. Im Verlauf des Evolutionsprozesses macht er sich mehr und mehr von ihr unabhängig; er beginnt die Natur zu beherrschen und verwandelt sie im Arbeitsprozess, und bei dieser Umwandlung der Natur wandelt er auch sich selbst. Die Abhängigkeit des Menschen von der Natur beschränkt seine Freiheit und Denkfähigkeit; er ist in mancher Hinsicht wie ein Kind. Langsam wird er erwachsen, und erst wenn er die Natur beherrscht und so zu einem unabhängigen Wesen geworden ist, kann er alle intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten entfalten. Marx versteht unter einer sozialistischen Gesellschaft eine Gesellschaft, in der der erwachsene Mensch alle seine Kräfte zu entfalten beginnt. Im folgenden, dem Kapital entnommenen Absatz äußert Marx einige seiner Ideen zu [IX-061] diesem Thema: „Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganismen sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit andren noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen. Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens der Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, das heißt des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewusster planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind“ (K. Marx, MEW 23, S. 93 f.; Hervorhebungen E. F.).

Der Mensch emanzipiert sich langsam von der Mutter Natur durch den Prozess der Arbeit. Hierbei entwickelt er seine intellektuellen und emotionalen Kräfte; er wird erwachsen und ein unabhängiger und freier Mensch. Wenn er die Natur ganz unter seine rationale Kontrolle gebracht hat und wenn die Gesellschaft ihren antagonistischen Klassencharakter verloren hat, wird die „Vorgeschichte“ zu Ende sein, und eine wahrhaft menschliche Geschichte wird beginnen, in der freie Menschen ihren Austausch mit der Natur planen und organisieren. Ziel allen gesellschaftlichen Lebens ist nicht Arbeit und Produktion, sondern die Entfaltung der Kräfte des Menschen als Selbstzweck. Das ist für Marx der Bereich der Freiheit, in dem der Mensch voll und ganz mit seinen Mitmenschen und der Natur vereint sein wird.

Der Gegensatz zwischen Marx und Freud hinsichtlich ihres Geschichtsverständnisses ist unverkennbar. Marx besaß einen ungebrochenen Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und an den Fortschritt, der in der messianischen Tradition des Westens von den Propheten über das Christentum und die Renaissance bis hin zur Aufklärungsphilosophie wurzelt. Freud, besonders der Freud nach dem Ersten Weltkrieg, war ein Skeptiker. Er sah die menschliche Entwicklung durch eine Tragik gekennzeichnet. Was auch immer der Mensch tut, es endet in Frustration. Würde er wieder zum Primitiven, so gewänne er Lust, aber keine Weisheit; baut er weiter eine immer kompliziertere Zivilisation auf, so wird er zwar klüger, aber dafür auch unglücklicher und kränker. Für Freud ist Evolution ein zweischneidiges Schwert, und die Gesellschaft richtet in seinen Augen ebenso viel Schaden an, wie sie Gutes bewirkt. Für Marx ist die Geschichte ein Weg zur Selbstverwirklichung; so viele Übel bestimmte Gesellschaften auch anrichten mögen, die Gesellschaft ist für ihn doch die Vorbedingung für die eigene Geburt und für die Entfaltung des Menschen. Die „gute Gesellschaft“ wird für Marx identisch mit der Gesellschaft guter Menschen, das heißt vollentwickelter, geistig gesunder und produktiver Individuen.

5 Die menschliche Motivation

Welche Kräfte motivieren den Menschen, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, und welche Triebe drängen ihn in eine bestimmte Richtung?

Es hat den Anschein, als ob Marx und Freud in Bezug auf diese Frage am weitesten voneinander entfernt wären und als ob zwischen ihren beiden Systemen ein unlösbarer Widerspruch bestünde. Die „materialistische“ Geschichtstheorie von Marx wird gewöhnlich so verstanden, als ob seiner Ansicht nach das Hauptmotiv des Menschen sein Wunsch nach materieller Befriedigung, sein Verlangen, immer mehr zu gebrauchen und zu haben, sei. Die Gier nach materiellen Dingen als Hauptbeweggrund des Menschen wird dann der Auffassung Freuds entgegengehalten, der zufolge das sexuelle Begehren des Menschen der Hauptantrieb für sein Handeln sein soll. Das Verlangen nach Besitz einerseits und das Begehren nach sexueller Befriedigung andererseits scheinen die beiden widerstreitenden Theorien über die menschliche Motivation zu sein.

Dass dies – was Freud betrifft – eine übertrieben vereinfachende und entstellende Auffassung seiner Theorie ist, ergibt sich aus dem bereits Gesagten. Freud glaubt, dass der Mensch von Widersprüchen motiviert ist, und zwar vom Widerspruch zwischen seinem Streben nach sexueller Lust und seinem Streben zu überleben und seine Umgebung zu meistern. Dieser Konflikt wurde noch komplizierter, als Freud später noch einen anderen Faktor postulierte, der sich mit den bereits erwähnten im Widerstreit befindet – das Über-Ich, die verinnerlichte Autorität des Vaters und der von ihm repräsentierten Normen. Demnach wird der Mensch nach Freuds Auffassung von miteinander in Konflikt liegenden Kräften und keineswegs nur von seinem Verlangen nach sexueller Befriedigung motiviert. (Bei der Weiterentwicklung seiner Theorien, die ich hier nur streifen möchte, ging Freud von einem weiteren Widerspruch aus: Im Widerspruch zwischen „Lebenstrieb“ und „Todestrieb“ sah er zwei ständig miteinander im Kampf liegende Kräfte im Innern des Menschen, die das Handeln motivieren.)

Die Entstellung der Marxschen Motivationstheorie ist noch drastischer als die der Freudschen Theorie. Sie beginnt bereits beim Begriff „Materialismus“. Dieser und [IX-063] sein Gegenbegriff „Idealismus“ haben eine ganz verschiedene Bedeutung je nach dem Kontext, in dem sie angewendet werden. Handelt es sich um eine menschliche Einstellung, so versteht man unter einem „Materialisten“ einen Menschen, dem es hauptsächlich um die Befriedigung seiner materiellen Strebungen geht, und ein „Idealist“ ist jemand, der von einer Idee motiviert ist, der also einen religiösen oder ethischen Beweggrund hat. In der philosophischen Terminologie bedeuten dagegen „Materialismus“ und „Idealismus“ etwas völlig anderes, und der „historische Materialismus“ von Marx ist dieser Bedeutung entsprechend zu verstehen. (Übrigens hat er selbst diesen Begriff nie verwendet.) Philosophisch bedeutet Idealismus, dass die Ideen die eigentliche Realität darstellen und dass die materielle Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, keine eigentliche Realität besitzt. Für den Ende des neunzehnten Jahrhunderts herrschenden Materialismus war dagegen die Materie das Reale, und nicht die Ideen. Marx interessierte sich im Gegensatz zum mechanischen Materialismus (der auch Freuds Denken zugrunde liegt) nicht für die Kausalbeziehung zwischen Materie und Geist. Ihm ging es darum, alle Erscheinungen als Ergebnis der Tätigkeit realer menschlicher Wesen zu verstehen. „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. Das heißt, es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt“ (MEGA I, 5, S. 15 f. = MEW 03, S. 26).

Der Marxsche „Materialismus“ setzt voraus, dass wir das Studium des Menschen mit dem wirklichen Menschen beginnen, so wie wir ihn vorfinden, und nicht mit seinen Ideen über sich selbst und die Welt, mit denen er sich zu erklären versucht.

Um zu verstehen, wie diese Verwechslung des persönlichen mit dem philosophischen Materialismus im Falle von Marx zustande kam, müssen wir noch einen Schritt weitergehen und seine sogenannte „ökonomische Geschichtstheorie“ ins Auge fassen. Man hat diesen Begriff irrtümlicherweise so verstanden, als bedeute er, dass nach Marx im historischen Prozess lediglich ökonomische Motive das Tun des Menschen bestimmen. Man hat also angenommen, dass es sich beim „ökonomischen“ Faktor um ein psychologisches, subjektives Motiv handele, nämlich um ökonomische Interessen. Aber das hat Marx nie gemeint. Der historische Materialismus ist für ihn keineswegs eine psychologische Theorie. Sein Hauptpostulat lautet, dass die Art und Weise, wie der Mensch produziert, seine Lebenspraxis, seine Art zu leben bestimmt und dass diese Lebenspraxis ihrerseits sein Denken und die soziale und politische Struktur seiner Gesellschaft bestimmt. Ökonomie bezieht sich demnach in diesem Zusammenhang nicht auf einen psychischen Trieb, sondern auf die Produktionsweise, nicht auf einen subjektiven psychologischen, sondern auf einen objektiven sozio-ökonomischen Faktor.

Marx’ Gedanke, dass der Mensch von seiner Lebenspraxis geformt werde, war an sich nicht neu. Montesquieu hatte die gleiche Idee, wenn er behauptet, dass die [IX-064] Institutionen die Menschen formen; Robert Owen hat es ähnlich ausgedrückt. Neu am System von Marx war nur, dass er im einzelnen analysierte, welcher Art diese Institutionen sind, dass sie nämlich als Bestandteil des gesamten Produktionssystems zu verstehen sind, das für die betreffende Gesellschaft charakteristisch ist. Verschiedene ökonomische Bedingungen können nach Marx unterschiedliche psychologische Motivationen erzeugen. Ein bestimmtes ökonomisches System kann zur Bildung von asketischen Tendenzen (wie zum Beispiel beim frühen Kapitalismus) führen; ein anderes Wirtschaftssystem kann bewirken, dass der Wunsch zu sparen und zu horten in den Vordergrund tritt (wie beim Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts). Wieder ein anderes ökonomisches System kann dazu führen, dass man vor allem den Wunsch hat, Geld auszugeben und immer mehr zu konsumieren (wie beim Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts). Das Marxsche System hat nur eine einzige quasi-psychologische Prämisse: Der Mensch muss zuallererst einmal essen und trinken, er muss eine Unterkunft und Kleider haben, bevor er sich um Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. kümmern kann. Daher bildet die Produktion der dem unmittelbaren Lebensunterhalt dienenden Dinge und damit der Grad der von der jeweiligen Gesellschaft erreichten ökonomischen Entwicklung die Grundlage, auf der sich die gesellschaftlichen und politischen Institutionen, ja sogar Kunst und Religion, entwickelt haben. Der Mensch selbst wird in jeder Geschichtsepoche entsprechend der jeweils herrschenden Lebenspraxis geformt, die ihrerseits von deren Produktionsweise determiniert ist. All das bedeutet jedoch nicht, dass der Trieb zu produzieren oder zu konsumieren die Hauptmotivation des Menschen sei. Ganz im Gegenteil kritisiert Marx an der kapitalistischen Gesellschaft, dass sie den Wunsch zu „haben“ und zu „gebrauchen“ zum alles beherrschenden Verlangen im Menschen mache. Für Marx ist ein Mensch, der vom Wunsch zu haben und zu gebrauchen beherrscht wird, ein verkrüppelter Mensch. Sein Ziel war eine sozialistische Gesellschaft, die so organisiert ist, dass nicht der Profit und der Privatbesitz, sondern die freie Entfaltung all seiner Kräfte das Hauptziel des Menschen ist. Nicht der Mensch, der viel hat, sondern der Mensch, der viel ist, ist der voll entwickelte, wahrhaft humane Mensch.

Es ist tatsächlich ein sehr drastisches Beispiel für die Fähigkeit des Menschen, die Dinge zu entstellen und sie zu rationalisieren, dass Marx ausgerechnet von den Wortführern des Kapitalismus wegen seiner angeblich „materialistischen“ Ziele angegriffen wird. Das entspricht nicht nur nicht der Wahrheit, das Paradoxe daran ist, dass die gleichen Wortführer des Kapitalismus den Sozialismus damit bekämpfen, dass sie sagen, das Profitmotiv, auf das sich der Kapitalismus gründe, sei das einzige wirksame Motiv für eine schöpferische Tätigkeit des Menschen, und der Sozialismus könne deshalb nichts leisten, weil er das Profitmotiv als Hauptanreiz für die Wirtschaft ablehne. All das wird noch komplizierter und paradoxer, wenn man bedenkt, dass der russische Kommunismus sich dieses kapitalistische Denken zu Eigen gemacht hat und dass das Profitmotiv für die Manager, Arbeiter und Bauern der Sowjetunion bei weitem der wichtigste Leistungsantrieb in der gegenwärtigen Wirtschaft ist. Nicht nur in der Praxis, sondern auch in ihren theoretischen Behauptungen über die menschliche Motivation stimmen das Sowjetsystem und das kapitalistische System oft miteinander [IX-065] überein, und beide befinden sich dabei gleichermaßen im Widerspruch zu den Theorien und Zielen von Marx.[6]

6 Das kranke Individuum und die kranke Gesellschaft

Was bedeutet bei Freud und bei Marx der Begriff der seelischen Krankheit? Freuds Auffassung ist im allgemeinen bekannt. Danach wird der Mensch, wenn es ihm nicht gelingt, seinen Ödipuskomplex aufzulösen, oder – anders gesagt – wenn er seine frühkindlichen Strebungen nicht überwinden und eine reife genitale Orientierung entwickeln kann, zwischen den Wünschen des Kindes in ihm und den Ansprüchen, die er als Erwachsener stellt, hin- und hergerissen. Das neurotische Symptom stellt einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen des Kleinkindes und des Erwachsenen dar, während die Psychose jene pathologische Form ist, in der die infantilen Wünsche und Phantasien das erwachsene Ich so überflutet haben, dass zwischen den beiden Welten kein Kompromiss mehr möglich ist. Natürlich hat Marx niemals eine systematische Psychopathologie entwickelt, doch spricht er von einer Form der seelischen Verkrüppelung, die für ihn eine ganz grundlegende Äußerung von seelischer Krankheit ist und deren Überwindung der Sozialismus anstrebt: die Entfremdung.[7]

Was versteht Marx unter Entfremdung? Das Wesentliche an diesem zuerst von Hegel entwickelten Begriff ist der Gedanke, dass die Welt (die Natur, die Dinge, die anderen Menschen und der Mensch selbst) dem Menschen fremd geworden ist. Er erlebt sich selbst nicht als das Subjekt seiner eigenen Handlungen, als denkende, fühlende und liebende Person, sondern nur in den von ihm geschaffenen Dingen, als Objekt der [IX-067] veräußerlichten Manifestationen seiner Kräfte. Er steht mit sich selbst nur insofern in Kontakt, als er sich den von ihm geschaffenen Produkten ausliefert.

Hegel sieht Gott als Subjekt der Geschichte an, der im Menschen im Zustand der Selbstentfremdung ist und im Prozess der Geschichte zu sich selbst zurückkehrt. Feuerbach hat Hegel auf den Kopf gestellt. (Vgl. die Erörterung in R. Tucker, 1961, S. 85 ff.) Nach Feuerbach repräsentiert Gott die dem Menschen eigenen Kräfte, die dieser auf ein Wesen außerhalb seiner selbst übertrug, so dass der Mensch nur durch seine Verehrung Gottes mit seinen eigenen Kräften in Kontakt kommen kann. Je stärker und reicher Gott ist, umso schwächer und ärmer wird der Mensch.

Details

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2014
ISBN (ePUB)
9783959120036
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Erich Fromm Karl Marx Sigmund Freud Evolution Motivation kranke Gesellschaft Gesellschafts-Charakter Unbewusste Psychologie Sozialpsychologie Charakter Menschenbild
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Titel: Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud