Lade Inhalt...

Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft

To Have Or to Be?

©2014 145 Seiten

Zusammenfassung

Zu der kurzen Frage „Haben oder Sein?“ entwickelt Erich Fromm in diesem Buch eine tiefgründige Gesellschaftsanalyse, in der er zwei grundsätzliche Existenzformen herausarbeitet: die egoistisch-gewinnorientierte des Besitzens und Verfügens über Dinge und Menschen (Haben) und die altruistisch-solidarische des gebenden Erlebens (Sein).
Fromm zeigt, dass unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem durch Egoismus, Selbstsucht und Habgier bestimmt ist und unweigerlich zerstörerische Folgen für Mensch und Natur mit sich bringt. Im zweiten Teil des Buches vermittelt er dem Leser durch viele Beispielen Ideen, wie er sich vom „Haben“ in Richtung „Sein“ und damit hin zu einem neuen Menschen entwickeln kann.
Im dritten Teil von „Haben oder Sein“ beschreibt Fromm die Voraussetzungen für einen fundamentalen Wandel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, um die gegenwärtigen Krise zu überwinden und von einer Orientierung am Haben zu einer am Sein zu gelangen.
Aus dem Inhalt:
Erster Teil: Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Haben und Sein
• Auf den ersten Blick
• Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung
• Haben und Sein im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts
Zweiter Teil: Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Existenzweisen
• Die Existenzweise des Habens
• Die Existenzweise des Seins
• Weitere Aspekte von Haben und Sein
Dritter Teil: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft
• Religion, Charakter und Gesellschaft
• Voraussetzungen für den Wandel des Menschen und Wesensmerkmale des neuen Menschen
• Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Weg zum Tun ist zu sein.
Lao-tse

Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken,
was sie tun sollen; sie sollen vielmehr bedenken,
was sie sind.
Meister Eckhart

Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst,
umso mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben.
Karl Marx

Vorwort

Dieses Buch setzt zwei Richtungen meiner früheren Schriften fort. Es ist eine Erweiterung meiner Arbeiten auf dem Gebiet der radikal-humanistischen Psychoanalyse und konzentriert sich auf die Analyse von Selbstsucht und Altruismus als zwei grundlegenden Charakterorientierungen. Im letzten Drittel des Buches, in Teil III, führe ich ein Thema weiter aus, mit dem ich mich schon in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) und Die Revolution der Hoffnung (1968a) beschäftigt habe: der Krise der heutigen Gesellschaft und der Möglichkeiten, sie zu lösen. Wiederholungen schon früher geäußerter Überlegungen waren unvermeidlich, aber ich hoffe, dass der neue Gesichtspunkt, von dem aus diese kleinere Arbeit geschrieben ist, und der weitere Rahmen auch Lesern Gewinn bringen wird, die mit meinen früheren Schriften vertraut sind.[1]

Der Titel dieses Buches ist fast identisch mit zwei Titeln anderer Werke: mit dem Titel von Gabriel Marcels Buch Sein und Haben (G. Marcel, 1954) und mit dem Titel des Buches von Balthasar Staehelin Haben und Sein (B. Staehelin, 1969). Alle drei Bücher sind aus dem Geist des Humanismus geschrieben, aber der Zugang zum Thema ist jeweils verschieden. Marcels Standpunkt ist ein theologischer und philosophischer; Staehelins Buch ist eine konstruktive Erörterung des Materialismus in der modernen Wissenschaft und ein Beitrag zur Wirklichkeitsanalyse; Thema dieses Buches ist eine empirische, psychologische und gesellschaftliche Analyse der beiden Existenzweisen. Interessierten Lesern empfehle ich die Bücher von Marcel und Staehelin.

Aus dem Wunsch, dieses Buch leicht lesbar zu machen, habe ich Fußnoten auf ein äußerstes Minimum reduziert – sowohl was die Zahl wie die Länge betrifft. Einige Literaturhinweise erscheinen im Text in Klammern, die genauen Angaben stehen in der Bibliographie.[2]

Es bleibt mir nun noch die angenehme Pflicht, denjenigen zu danken, die zum Inhalt und Stil dieses Buches beigetragen haben. Als erstem möchte ich Rainer Funk danken, der mir auf vielen Gebieten eine große Hilfe war: In langen Gesprächen half er mir, komplizierte Fragen der christlichen Theologie besser zu verstehen. Er wurde nicht müde, mich auf theologische Literatur hinzuweisen; er las das Manuskript mehrere Male, und seine ausgezeichneten konstruktiven Vorschläge wie auch seine Kritik [II-272] halfen sehr, das Manuskript zu bereichern und einige Irrtümer zu beseitigen. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich [der amerikanischen Lektorin] Marion Odomirok, deren feinfühlige Redaktion das Buch sehr gefördert hat. Mein Dank gilt auch Joan Hughes, die gewissenhaft und geduldig die zahlreichen Versionen des Manuskripts getippt hat und mir viele gute Anregungen gab, was Stil und sprachlichen Ausdruck betrifft. Endlich danke ich Annis Fromm, die das Manuskript in seinen verschiedenen Fassungen gelesen hat, immer mit vielen wertvollen Anregungen und Einsichten.

Was die deutsche Ausgabe betrifft, so danke ich Brigitte Stein für ihre Übersetzung und Ursel Locke, die das Buch als Lektorin betreute.

Einführung:
Die große Verheißung, das Ausbleiben ihrer Erfüllung und neue Alternativen

Das Ende einer Illusion

Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts – die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit – das war es, was die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt. Zwar hatte die menschliche Zivilisation mit der aktiven Beherrschung der Natur durch den Menschen begonnen, aber dieser Herrschaft waren bis zum Beginn des Industriezeitalters Grenzen gesetzt. Von der Ersetzung der menschlichen und tierischen Körperkraft durch mechanische und später nukleare Energie bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computer bestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, auf dem Wege zu unbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.

Männer und in zunehmendem Maß auch Frauen erlebten ein neues Gefühl der Freiheit. Sie waren Herren ihres eigenen Lebens; die Ketten der Feudalherrschaft waren zerbrochen, sie waren aller Fesseln ledig und konnten tun, was sie wollten. So empfanden sie es wenigstens. Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt, verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheit werde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen, wenn die Industrialisierung nur im gleichen Tempo voranschreite. Sozialismus und Kommunismus wandelten sich rasch von einer Bewegung, die eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen anstrebte, zu einer Kraft, die das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete: der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft. Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermann schrankenlos glücklich sein. Diese Trias von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück bildete den Kern der neuen Fortschrittsreligion, und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die „Stadt Gottes“. Ist es verwunderlich, [II-274] dass dieser neue Glaube seine Anhänger mit Energie, Vitalität und Hoffnung erfüllte?

Man muss sich die Tragweite dieser großen Verheißung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in das Ausbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine große Verheißung einzulösen, und immer mehr Menschen werden sich folgender Tatsachen bewusst:

Als Albert Schweitzer am 4. 11. 1954 zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises nach Oslo kam, forderte er die ganze Welt auf: „Wagen wir die Dinge zu sehen wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. (...) Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. (...) Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. (...) Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.“ (A. Schweitzer, 1966, S. 118-120).

Warum hat sich die große Verheißung nicht erfüllt?

Dass sich die große Verheißung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanenten ökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismus an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich 1. dass das Ziel des Lebens Glück, d.h. ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus); 2. dass Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muss, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen. [II-275]

Radikaler Hedonismus wurde bekanntlich in verschiedenen Epochen der Geschichte von den Reichen praktiziert. Wer über unbegrenzte Mittel verfügte, wie beispielsweise die Elite Roms und die der italienischen Städte in der Renaissance sowie die Englands und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, der versuchte, seinem Leben durch unbegrenztes Vergnügen einen Sinn zu geben. Doch obwohl dies in bestimmten Kreisen zu bestimmten Zeiten die gängige Praxis war, entsprang sie mit einer Ausnahme nie der Theorie des „Wohl-Seins“, die von den großen Meistern des Lebens in China, Indien, dem Nahen Osten und Europa formuliert worden war.

Die Ausnahme ist der griechische Philosoph Aristipp, ein Schüler des Sokrates (1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr.), der lehrte, dass das Ziel des Lebens der Genuss eines Optimums an körperlichen Freuden sei, und dass Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei. Das Wenige, was wir über seine Philosophie wissen, verdanken wir Diogenes Laertius, doch es reicht aus, um zu belegen, dass Aristipp der einzige radikale Hedonist war, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seine Befriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, der Lust, ist.

Epikur kann kaum als Vertreter dieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertrat, gesehen werden. Obwohl Epikur die „reine“ Lust als das höchste Ziel ansieht, bedeutet dies für ihn die „Abwesenheit von Schmerz“ (aponia) und „Seelenruhe“ (ataraxia). Laut Epikur kann Vergnügen im Sinne der Befriedigung von Begierden nicht das Ziel des Lebens sein, denn auf solche Lust folge zwangsläufig Unlust, und dadurch entferne sich der Mensch von seinem wahren Ziel, der Abwesenheit von Schmerz. (Epikurs Theorie weist viele Parallelen zu jener Freuds auf.) Dennoch scheint Epikur im Gegensatz zur Position des Aristoteles einen gewissen Subjektivismus vertreten zu haben, soweit die widersprüchlichen Darstellungen der Epikuräischen Philosophie eine endgültige Interpretation zulassen.

Keiner der anderen großen Meister lehrte, dass die faktische Existenz eines Wunsches eine ethische Norm konstituiere. Ihnen ging es um das optimale Wohl-Sein (vivere bene) der Menschheit. Das wichtigste Element ihres Denkens ist die Unterscheidung zwischen solchen Bedürfnissen (Wünschen), die nur subjektiv wahrgenommen werden und deren Befriedigung zu momentanem Vergnügen führt, und solchen Bedürfnissen, die in der menschlichen Natur wurzeln und deren Erfüllung menschliches Wachstum fördert, das heißt Wohl-Sein (eudaimonia) hervorbringt. Mit anderen Worten, es ging ihnen um die Unterscheidung zwischen rein subjektiv empfundenen und objektiv gültigen Bedürfnissen – wobei ein Teil der ersteren das menschliche Wachstum behindert, während letztere im Einklang mit den Erfordernissen der menschlichen Natur stehen.

Die Theorie, dass das Ziel des Lebens die Erfüllung eines jeden menschlichen Wunsches sei, wurde nach Aristipp unmissverständlich erstmals wieder von den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesprochen. Diese Auffassung konnte leicht aufkommen, als das Wort „Profit“ aufhörte „Gewinn für die Seele“ zu bedeuten (wie in der Bibel und auch noch bei Spinoza) und stattdessen materiellen, finanziellen Gewinn bezeichnete. Dies geschah in jener Epoche, als das Bürgertum nicht nur seine politischen Fesseln abwarf, sondern auch alle Bande der Liebe und Solidarität, und zu glauben begann, wer nur für sich selbst sei, sei mehr er selbst, nicht weniger. Für [II-276] Hobbes ist Glück das ständige Weiterschreiten von einer Begierde (cupiditas) zur nächsten; La Mettrie empfiehlt sogar Drogen, da diese wenigstens die Illusion von Glück vermittelten; für de Sade ist die Befriedigung grausamer Impulse allein schon deshalb legitim, weil sie vorhanden sind und nach Befriedigung verlangen. Dies waren Denker, die im Zeitalter des endgültigen Sieges der bürgerlichen Klasse lebten. Was einst die unphilosophische Praxis der Aristokratie gewesen war, wurde nun zur Praxis und Theorie der Bourgeoisie.

Viele ethische Theorien sind seit dem 18. Jahrhundert entwickelt worden – teils angesehenere Formen des Hedonismus, wie der Utilitarismus, teils strikt antihedonistische Systeme wie jene von Kant, Marx, Thoreau und Schweitzer. Dennoch ist unsere heutige Zeit seit Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend zur Theorie und Praxis eines radikalen Hedonismus zurückgekehrt. Die Vorstellung grenzenlosen Vergnügens steht in merkwürdigem Gegensatz zu dem Ideal disziplinierter Arbeit, ebenso wie die Annahme eines zwanghaften Arbeitsethos dem Ideal völliger Faulheit in den freien Stunden des Tages und im Urlaub widerspricht. Fließband und bürokratische Routine auf der einen Seite, Fernsehen, Auto und Sex auf der anderen, ermöglichen diese widerspruchsvolle Kombination. Zwanghaftes Arbeiten allein würde die Menschen ebenso verrückt machen wie absolutes Nichtstun. Erst durch die Kombination beider wird das Leben erträglich. Außerdem entsprechen die beiden widersprüchlichen Haltungen einer ökonomischen Notwendigkeit: Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts setzt ebenso den maximalen Konsum der produzierten Güter und Dienstleistungen wie die zur Routine gewordene Teamarbeit voraus.

Theoretische Überlegungen ergeben, dass der radikale Hedonismus in Anbetracht der menschlichen Natur nicht der richtige Weg zum „guten Leben“ ist, und sie zeigen, warum er es nicht sein kann. Doch selbst ohne diese theoretische Analyse geht aus den verfügbaren Daten ganz klar hervor, dass unsere „Jagd nach Glück“ nicht zu Wohl-Sein führt. Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit „totzuschlagen“, die sie ständig einzusparen versuchen.

Wir führen gegenwärtig das größte je unternommene gesellschaftliche Experiment zur Beantwortung der Frage durch, ob Vergnügen (als passiver Affekt im Gegensatz zu den aktiven Affekten Wohl-Sein und Freude) eine befriedigende Lösung des menschlichen Existenzproblems sein kann. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Befriedigung des Luststrebens nicht bloß das Privileg einer Minorität, sondern mindestens für die Hälfte der Bevölkerung der Industrieländer real möglich. Das Experiment hat die Frage bereits mit nein beantwortet.

Die zweite psychologische Prämisse des industriellen Zeitalters, dass das Ausleben des individuellen Egoismus Harmonie, Friede und den allgemeinen Wohlstand fördere, ist vom theoretischen Ansatz her ebenso irrig, und auch diese Täuschung wird durch die vorhandenen Daten erhärtet. Warum sollte dieses Prinzip, das nur von einem einzigen der großen klassischen Ökonomen, David Riccardo, abgelehnt wurde, richtig sein? Egoismus ist nicht bloß ein Aspekt meines Verhaltens, sondern meines Charakters. Er bedeutet, dass ich alles für mich haben möchte; dass nicht Teilen, [II-277] sondern Besitzen mir Vergnügen bereitet; dass ich immer habgieriger werden muss, denn wenn Haben mein Ziel ist, bin ich umso mehr, je mehr ich habe; dass ich allen anderen gegenüber feindselig bin – meinen Kunden gegenüber, die ich betrügen, meinen Konkurrenten, die ich ruinieren, meinen Arbeitern, die ich ausbeuten möchte. Ich kann nie zufrieden sein, denn meine Wünsche sind endlos. Ich muss jene beneiden, die mehr haben als ich, und mich vor jenen fürchten, die weniger haben. Aber alle diese Gefühle muss ich verdrängen, um (vor anderen und vor mir selbst) der lächelnde, vernünftige, ehrliche, freundliche Mensch zu sein, als der sich jedermann ausgibt.

Die Habsucht muss zu endlosen Klassenkämpfen führen. Die Behauptung der Kommunisten, ihr System werde den Klassenkampf durch Abschaffung der Klassen beenden, ist eine Fiktion, da auch ihr System auf dem Prinzip des unbegrenzten Konsums als Lebensziel basiert. Solange jeder mehr haben will, müssen sich Klassen herausbilden, muss es Klassenkampf und, global gesehen, internationale Kriege geben. Habgier und Friede schließen einander aus.

Radikaler Hedonismus und schrankenloser Egoismus hätten nicht zu Leitprinzipien ökonomischen Verhaltens werden können, wenn nicht im 18. Jahrhundert ein grundlegender Wandel eingetreten wäre. In der mittelalterlichen Gesellschaft sowie in vielen anderen hoch entwickelten und auch in primitiven Gesellschaften wurde das ökonomische Verhalten durch ethische Normen bestimmt. So waren beispielsweise für die Theologen der Scholastik wirtschaftliche Kategorien wie Preis und Privateigentum ein Gegenstand der Moraltheologie. Zwar fanden die Theologen stets Formulierungen, um ihren Moralkodex jeweils den neuen ökonomischen Erfordernissen anzupassen (so zum Beispiel Thomas von Aquins Modifizierung des Konzepts des „gerechten Lohns“), dennoch blieb das ökonomische Verhalten ein Teil des allgemeinen menschlichen Verhaltens und war daher den Wertvorstellungen der humanistischen Ethik unterworfen. Der Kapitalismus des 18. Jahrhunderts machte schrittweise einen radikalen Wandel durch: Das wirtschaftliche Verhalten wurde von der Ethik und den menschlichen Werten abgetrennt. Der Wirtschaftsmechanismus wurde als autonomes Ganzes angesehen, das unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und dem menschlichen Willen ist – ein System, das sich aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen in Gang hält. Das Elend der Arbeiter sowie der Ruin einer stetig zunehmenden Zahl kleinerer Unternehmen infolge des unaufhaltsamen Wachstums der Konzerne galten als wirtschaftliche Notwendigkeit, die man vielleicht bedauern konnte, jedoch akzeptieren musste wie die Auswirkungen eines Naturgesetzes.

Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, dass alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere. Diese These wurde durch eine Hilfskonstruktion abgestützt, wonach genau jene menschlichen Qualitäten, die das System benötigte – Egoismus, Selbstsucht und Habgier – dem Menschen angeboren seien; sie seien somit nicht dem System, sondern der menschlichen Natur [II-278] anzulasten. Gesellschaften, in denen Egoismus, Selbstsucht und Habgier nicht existierten, wurden als „primitiv“, ihre Mitglieder als „naiv“ abqualifiziert. Man weigerte sich anzuerkennen, dass diese Charakterzüge gerade nicht natürliche Triebe sind, die zur Bildung der Industriegesellschaft führten, sondern das Produkt gesellschaftlicher Bedingungen.

Von Bedeutung ist nicht zuletzt ein weiterer Faktor: Das Verhältnis des Menschen zur Natur wurde zutiefst feindselig. Wir Menschen sind eine „Laune der Natur“, denn auf Grund unserer Existenzbedingungen sind wir Teil der Natur, doch auf Grund unserer Vernunftbegabung transzendieren wir sie. Wir haben versucht, dieses Problem unserer Existenz dadurch zu lösen, dass wir die messianische Vision der Harmonie zwischen Menschheit und Natur aufgaben, indem wir uns die Natur untertan machten und für unsere eigenen Zwecke umgestalteten, bis aus der Unterjochung der Natur mehr und mehr deren Zerstörung wurde. Unser Eroberungsdrang und unsere Feindseligkeit haben uns blind gemacht für die Tatsache, dass die Naturschätze begrenzt sind und eines Tages zur Neige gehen können, und dass sich die Natur gegen die Raubgier der Menschen zur Wehr setzen wird.

Die industrielle Gesellschaft verachtet die Natur ebenso wie alles, was nicht von Maschinen hergestellt worden ist – und alle Menschen, die keine Maschinen produzieren (die farbigen Rassen, seit neuestem mit Ausnahme der Japaner und Chinesen). Die Menschen sind heutzutage fasziniert vom Mechanischen, von der mächtigen Maschine, vom Leblosen und in zunehmendem Maß von der Zerstörung.

Die ökonomische Notwendigkeit menschlicher Veränderung

Ich habe bisher davon gesprochen, dass die von unserem sozioökonomischen System, das heißt von unserer Lebensweise geprägten Charakterzüge pathogen sind und schließlich den Menschen und damit die Gesellschaft krank machen. Von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus gibt es jedoch noch ein zweites Argument, das in einer tiefgreifenden psychologischen Veränderung des Menschen eine Alternative zur ökonomischen und ökologischen Katastrophe sieht. Es findet sich in den beiden Berichten des Club of Rome, von denen der eine von Dennis H. Meadows et al., 1972, der andere von M. D. Mesarović und E. Pestel, 1974, besorgt wurde. Beide Berichte setzen sich weltweit mit den technologischen, ökonomischen und demographischen Entwicklungen auseinander. Mesarović und Pestel kommen zu dem Schluss, dass nur drastische, nach einem weltweiten Plan durchgeführte ökonomische und technologische Veränderungen eine „große, letztlich globale Katastrophe“ verhindern können. Die Daten, die sie zum Beweis ihrer Thesen anführen, basieren auf der umfassendsten systematischen Untersuchung, die bisher durchgeführt wurde. (Ihre Untersuchung hat gewisse methodologische Vorzüge gegenüber dem Bericht von Meadows et al., aber diese frühere Studie ging in ihren Forderungen nach radikalen ökonomischen Veränderungen zur Abwendung einer Katastrophe sogar noch weiter.) Mesarović und Pestel kommen zu dem Schluss, dass derartige ökonomische Veränderungen nur unter der Voraussetzung möglich sind, dass ein fundamentaler Wandel der [II-279] menschlichen Grundwerte und Einstellungen (oder, wie ich es nennen würde, der menschlichen Charakterorientierung) im Sinne einer neuen Ethik und einer neuen Einstellung zur Natur eintritt (vgl. M. D. Mesarović und E. Pestel, 1974, S. 135). Ihre Äußerungen bekräftigen nur, was schon andere vor und nach Erscheinen ihres Buches gesagt haben, dass nämlich eine neue Gesellschaft nur dann entstehen kann, wenn sich parallel zu deren Entwicklungsprozess ein neuer Mensch entwickelt, oder, bescheidener ausgedrückt, wenn sich die heute vorherrschende Charakterstruktur des Menschen grundlegend wandelt.

Leider wurden diese beiden Berichte in jenem Geist der Quantifizierung, Abstraktion und Entpersönlichung verfasst, der so charakteristisch für unsere Zeit ist. Darüber hinaus vernachlässigen sie alle politischen und gesellschaftlichen Faktoren, ohne die keine realistische Strategie entworfen werden kann. Dennoch präsentieren sie wertvolle Daten und befassen sich zum ersten Mal mit der wirtschaftlichen Situation der gesamten Menschheit, ihren Möglichkeiten und Gefahren. Ihre Schlussfolgerung, dass eine neue Ethik und eine veränderte Einstellung zur Natur notwendig sei, ist umso bemerkenswerter, da diese Forderung in auffälligem Gegensatz zu ihren philosophischen Prämissen steht.

Auch E. F. Schumacher (1973), ebenfalls ein Wirtschaftswissenschaftler, aber gleichzeitig ein radikaler Humanist, fordert eine tiefgreifende menschliche Veränderung. Seine Forderung basiert auf der Auffassung, dass unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung uns krank mache und dass wir auf eine wirtschaftliche Katastrophe zusteuern, wenn wir unser Gesellschaftssystem nicht grundlegend umgestalten.

Die Notwendigkeit einer radikalen menschlichen Veränderung ist deshalb weder nur eine ethische oder religiöse Forderung noch ausschließlich ein psychologisches Postulat, das sich aus der pathogenen Natur unseres gegenwärtigen Gesellschafts-Charakters ergibt, sondern sie ist auch eine Voraussetzung für das nackte Überleben der Menschheit. Richtig leben heißt nicht länger, nur ein ethisches oder religiöses Gebot erfüllen. Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im „Herzen“ des Menschen ist jedoch nur in dem Maße möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln, und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen.

Gibt es eine Alternative zur Katastrophe?

Alle bisher zitierten Daten sind der Öffentlichkeit zugänglich und weithin bekannt. Die nahezu unglaubliche Tatsache ist jedoch, dass bisher keine ernsthaften Anstrengungen unternommen wurden, um das uns angesagte Schicksal abzuwenden. Während im Privatleben nur ein Wahnsinniger bei der Bedrohung seiner gesamten Existenz untätig bleiben würde, unternehmen die für das öffentliche Wohl Verantwortlichen praktisch nichts, und diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben, lassen sie gewähren. [II-280]

Wie ist es möglich, dass der stärkste aller Instinkte, der Selbsterhaltungstrieb, nicht mehr zu funktionieren scheint? Eine der am nächsten liegenden Erklärungen ist, dass die Politiker mit vielem, was sie tun, vorgeben, wirksame Maßnahmen zur Abwendung der Katastrophe zu ergreifen. Endlose Konferenzen, Resolutionen und Abrüstungsverhandlungen erwecken den Eindruck, als habe man die Probleme erkannt und unternehme etwas zu ihrer Lösung. De facto geschieht zwar nichts, was uns wirklich weiterhilft, aber Führer und Geführte betäuben ihr Gewissen und ihren Überlebenswunsch, indem sie sich den Anschein geben, den Weg zu kennen und in die richtige Richtung zu marschieren.

Eine andere Erklärung ist, dass die vom System hervorgebrachte Selbstsucht die Politiker veranlasst, ihren persönlichen Erfolg höher zu bewerten als ihre gesellschaftliche Verantwortung. Niemand empfindet es mehr als schockierend, wenn Staats- und Wirtschaftsführer Entscheidungen treffen, die ihnen zum persönlichen Vorteil zu gereichen scheinen, dabei aber schädlich und gefährlich für die Gemeinschaft sind. Wenn die Selbstsucht eine der Säulen der heute praktizierten Ethik ist, muss man sich in der Tat fragen, warum sie sich anders verhalten sollten. Sie scheinen nicht zu wissen, dass Habgier (ebenso wie Unterwerfung) die Menschen verdummt und sie unfähig macht, ihre eigenen wahren Interessen zu verfolgen, ob diese nun ihr eigenes Leben oder das ihrer Frauen und Kinder betreffen. (Siehe dazu J. Piaget, 1932.) Gleichzeitig ist der Durchschnittsmensch so selbstsüchtig mit seinen Privatangelegenheiten beschäftigt, dass er allem, was über seinen persönlichen Bereich hinausgeht, nur wenig Beachtung schenkt.

Ein weiterer Grund für das Absterben unseres Selbsterhaltungstriebes ist darin zu suchen, dass der Einzelne die sich am Horizont abzeichnende Katastrophe den Opfern vorzieht, die er jetzt bringen müsste. Dies ist eine verbreitete Einstellung. Arthur Koestler hat uns ein bezeichnendes Beispiel dafür in der Schilderung eines Erlebnisses im Spanischen Bürgerkrieg gegeben. Er hielt sich gerade in der komfortablen Villa eines Freundes auf, als der Vormarsch der Franco-Truppen gemeldet wurde. Es stand außer Zweifel, dass sie im Laufe der Nacht das Haus erreichen würden; er musste damit rechnen, erschossen zu werden; durch Flucht konnte er sein Leben retten. Aber die Nacht war kalt und regnerisch, das Haus warm und behaglich. Also blieb er und ließ sich gefangen nehmen. Sein Leben wurde erst Wochen später fast wie durch ein Wunder dank der Bemühungen befreundeter Journalisten gerettet. Das gleiche Verhalten findet man bei Menschen, die lieber ihr Leben riskieren, als sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, die die Diagnose einer ernsten Erkrankung und die Notwendigkeit einer schweren Operation ergeben könnte.

Außer den genannten Erklärungen für die verhängnisvolle Passivität des Menschen, wenn es um Leben oder Tod geht, gibt es noch eine weitere; sie ist mit ein Grund dafür, warum ich dieses Buch schreibe. Ich spreche von der Ansicht, es gebe keine Alternativen zum Monopolkapitalismus, zum sozialdemokratischen oder sowjetischen Sozialismus oder zum technokratischen „Faschismus mit lächelndem Gesicht“. Die Popularität dieser Ansicht ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass kaum der Versuch unternommen wurde, die Möglichkeiten einer Verwirklichung völlig neuer Gesellschaftsmodelle zu untersuchen und entsprechende Experimente zu [II-281] machen. Und darüber hinaus: Solange die Probleme einer Umformung der Gesellschaft nicht wenigstens annähernd den Platz in den Köpfen unserer Wissenschaftler einnehmen, den die Naturwissenschaften und die Technik innehaben, und solange deshalb[3] die Wissenschaft vom Menschen nicht die Anziehung hat, die der Naturwissenschaft und Technik bisher vorbehalten waren, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen.

Das Hauptanliegen dieses Buches ist die Analyse der beiden Existenzweisen des Menschen, der des Habens und der des Seins.

Im ersten, einleitenden Kapitel bringe ich einige Beobachtungen zum Unterschied zwischen den beiden Existenzweisen, die auf den ersten Blick auffallen. Im zweiten Kapitel zeige ich die Unterschiede an einer Reihe von Beispielen aus dem täglichen Leben, die der Leser leicht zu seinen eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen kann. Das dritte Kapitel enthält Ansichten zu Haben und Sein, wie sie im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts zu finden sind. In den darauf folgenden Kapiteln komme ich zu der schwierigsten Aufgabe: der Analyse des Unterschieds zwischen den Existenzweisen des Habens und des Seins, in deren Verlauf ich versuche, auf der Basis der empirischen Daten zu theoretischen Schlussfolgerungen zu gelangen. Während sich das Buch bis dahin hauptsächlich mit individuellen Aspekten der zwei grundlegenden Existenzweisen auseinandersetzt, wird in den letzten Kapiteln die Relevanz dieser beiden Existenzweisen für das Entstehen eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft untersucht und werden mögliche Alternativen zur Katastrophe, zum kräftezehrenden Krank-Sein (ill-being) des Einzelnen und zu einer verheerenden sozioökonomischen Entwicklung der ganzen Welt erörtert.

Erster Teil:
Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Haben und Sein

1 Auf den ersten Blick

Die Bedeutung des Unterschieds zwischen Haben und Sein

Die Alternative Haben oder Sein leuchtet dem gesunden Menschenverstand nicht ein. Haben, so scheint es uns, ist etwas ganz Normales im Leben; um leben zu können, müssen wir Dinge haben, ja, wir müssen Dinge haben, um uns an ihnen zu erfreuen. In einer Gesellschaft, in der es das oberste Ziel ist, zu haben und immer mehr zu haben, in der man davon spricht, ein Mann sei „eine Million wert“: Wie kann es da eine Alternative zwischen Haben und Sein geben? Es scheint im Gegenteil so, als bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, sodass nichts ist, wer nichts hat.

Die großen Meister des Lebens haben jedoch in der Alternative zwischen Haben und Sein eine Kernfrage ihrer jeweiligen Anschauung gesehen. Buddha lehrt, dass nicht nach Besitz streben dürfe, wer die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung erreichen wolle. Jesus sagt: „Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten. Denn was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert und Schaden erleidet?“ (Lk 9,24 f.). Meister Eckhart lehrt, nichts zu haben und sich selbst offen und „leer“ zu machen, sich selbst mit seinem eigenen Ich nicht im Wege zu stehen, sei die Voraussetzung, um geistigen Reichtum und Kraft zu erlangen. Marx lehrt, dass Luxus ein genauso großes Laster sei wie Armut, und dass es unser Ziel sein müsse, viel zu sein, nicht viel zu haben. (Ich beziehe mich hier auf den wirklichen Marx, den radikalen Humanisten, nicht auf die üblichen Fälschungen des Sowjetkommunismus.) Diese Unterscheidung hat mich seit Jahren beeindruckt. Ich suchte ihre empirische Grundlage durch das konkrete Studium von Einzelnen und von Gruppen mit Hilfe der psychoanalytischen Methode zu finden. Was ich fand, legte mir den Schluss nahe, dass diese Unterscheidung zusammen mit jener zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Toten das alles entscheidende Problem der menschlichen Existenz ist; dass die empirischen Daten der Anthropologie und der Psychoanalyse darauf hindeuten, dass Haben und Sein zwei grundlegend verschiedene Formen menschlichen Erlebens sind, deren jeweilige Stärke Unterschiede zwischen den Charakteren von Einzelnen und zwischen verschiedenen Typen des Gesellschafts-Charakters bestimmt. [II-285]

Beispiele aus der Dichtung

Um den Unterschied zwischen der Existenzweise des Habens und der Existenzweise des Seins zu verdeutlichen, möchte ich als Beispiel zwei Gedichte ähnlichen Inhalts zitieren, die der verstorbene D. T. Suzuki in seinen Vorlesungen Über Zen-Buddhismus (1960) zitiert. Das eine ist ein Haiku von dem japanischen Dichter Basho (1644-1694), das andere stammt von einem englischen Dichter des 19. Jahrhunderts, von Tennyson. Beide beschreiben das gleiche Erlebnis: ihre Reaktion auf eine Blume, die sie auf einem Spaziergang sehen. Tennysons Gedicht lautet:

Flower in a crannied wall,
I pluck you out of the crannies,
I hold you here, root and all, in my hand,
Little flower – but if I could understand
What you are, root und all, and all in all,
I should know what God and man is.

Blume in der geborstenen Mauer,
Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in der Hand,
Kleine Blume – doch wenn ich verstehen könnte,
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in allem bist,
Wüsste ich, was Gott und Mensch ist.
(Übersetzung: Marion Steipe)

Bashos Haiku lautet so:

„Yoku mireba
Nazuna hana saku
Kakine kana.“

„Wenn ich aufmerksam schaue,
Seh’ ich die Nazuna
An der Hecke blühen!“

Der Unterschied fällt ins Auge. Tennyson reagiert auf die Blume mit dem Wunsch, sie zu haben. Er pflückt sie „mitsamt den Wurzeln“. Sein Interesse an ihr führt dazu, dass er sie tötet, während er mit der intellektuellen Spekulation schließt, dass ihm die Blume eventuell dazu dienen könne, die Natur Gottes und des Menschen zu begreifen. Tennyson kann in diesem Gedicht mit dem westlichen Wissenschaftler verglichen werden, der die Wahrheit sucht, indem er das Leben zerstückelt.

Bashos Reaktion auf die Blume ist vollkommen anders. Er will sie nicht pflücken; er berührt sie nicht einmal. Er „schaut aufmerksam“, um sie zu „sehen“.

Suzuki (1960, S. 1) schreibt dazu:

Wahrscheinlich ging Basho eine Landstraße [II-286] entlang, als er etwas bemerkte, das unscheinbar an der Hecke stand. Er näherte sich, sah genau hin und fand, dass es nichts als eine wilde Pflanze war, die recht unbedeutend ist und für gewöhnlich von Vorübergehenden nicht beachtet wird. Es ist eine einfache Tatsache, die in dem Gedicht beschrieben wird, ohne dass dabei ein besonders poetisches Gefühl zum Ausdruck kommt, außer vielleicht in den beiden letzten Silben, die auf japanisch „kana“ lauten. Dieser Partikel, der häufig an ein Hauptwort, ein Adjektiv oder ein Adverb angehängt wird, drückt ein gewisses Gefühl der Bewunderung, des Lobes, des Leidens oder der Freude aus und kann manchmal in der Übersetzung ziemlich treffend durch ein Ausrufungszeichen wiedergegeben werden. Im vorliegenden Haiku endet der ganze Vers mit einem solchen Ausrufungszeichen.

Tennyson muss die Blume besitzen, um den Menschen und die Natur zu verstehen, und dadurch, dass er sie hat, zerstört er die Blume. Basho möchte sehen, er möchte die Blume nicht nur anschauen, er möchte mit ihr eins sein, sich mit ihr vereinen – und sie leben lassen.

Den Unterschied zwischen Tennyson und Basho verdeutlicht ein Gedicht von Goethe:

Gefunden

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt’ es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.

Und pflanzt’ es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

Goethe geht ohne Absicht spazieren, als die leuchtende kleine Blume seine Aufmerksamkeit erregt. Er berichtet, dass er den gleichen Impuls hat wie Tennyson, [II-287] nämlich die Blume zu pflücken. Aber anders als Tennyson ist er sich bewusst, dass dies ihren Tod bedeuten würde. Die Blume ist so lebendig für ihn, dass sie zu ihm spricht und ihn warnt. Er löst das Problem also anders als Tennyson und Basho. Er gräbt die Blume aus und verpflanzt sie, damit ihr Leben erhalten bleibt. Goethe steht gewissermaßen zwischen Basho und Tennyson, aber im entscheidenden Augenblick ist seine Liebe zum Leben stärker als die rein intellektuelle Neugier. Dieses schöne Gedicht drückt Goethes Grundeinstellung zur Erforschung der Natur aus.

Tennysons Beziehung zu der Blume ist von der Weise des Habens oder der des Besitzenwollens geprägt, wobei es nicht um materiellen Besitz, sondern um den Besitz von Wissen geht. Die Beziehung Bashos und Goethes ist von der Weise des Seins gekennzeichnet. Mit „Sein“ meine ich eine Existenzweise, in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt, sondern voller Freude ist, seine Fähigkeiten produktiv nutzt und eins mit der Welt ist.

Goethe, der leidenschaftliche Anwalt des Lebens und Kämpfer gegen die Zerstückelung und Mechanisierung des Menschen, hat in vielen Gedichten für das Sein und gegen das Haben Partei ergriffen und den Konflikt zwischen Haben und Sein in seinem „Faust“ dramatisch gestaltet, in dem Mephistopheles das Haben verkörpert. Es gibt ein kurzes Gedicht von ihm, das die Qualität des Seins mit unübertrefflicher Schlichtheit charakterisiert:

Eigentum

Ich weiß, dass mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fließen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus lässt genießen.

Doch der Unterschied zwischen Sein und Haben ist nicht identisch mit dem Unterschied zwischen östlichem und westlichem Denken. Er entspricht vielmehr dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die den Menschen zum Mittelpunkt hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht. Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen der westlichen Industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm und Macht zum beherrschenden Thema des Lebens wurde. Weniger entfremdete Gesellschaften wie die des Mittelalters oder der Zuni-Indianer oder die bestimmter afrikanischer Stämme, die noch nicht von den heutigen Ideen des „Fortschritts“ infiziert sind, haben ihre eigenen Bashos; und vielleicht werden die Japaner nach ein paar weiteren Generationen der Industrialisierung ihre eigenen Tennysons haben. Es ist nicht so, dass der westliche Mensch östliche Systeme wie den Zen-Buddhismus nicht ganz begreifen kann (wie C. G. Jung meinte), sondern dass der moderne Mensch den Geist einer Gesellschaft nicht zu begreifen vermag, die nicht auf Eigentum und Habgier aufgebaut ist. In der Tat ist Meister Eckhart ebenso schwer zu verstehen wie Basho oder Zen, doch Eckhart und der Buddhismus sind in Wirklichkeit nur zwei Dialekte der gleichen Sprache. [II-288]

Veränderungen im Sprachgebrauch

Eine gewisse Verschiebung des Akzents vom Sein zum Haben lässt sich sogar an der zunehmenden Verwendung von Hauptwörtern und der Abnahme der Tätigkeitswörter in den westlichen Sprachen innerhalb der letzten Jahrhunderte feststellen.

Ein Hauptwort ist die geeignete Bezeichnung für ein Ding. Ich kann sagen, dass ich Dinge habe, z.B. einen Tisch, ein Haus, ein Buch, ein Auto. Die richtige Bezeichnung für eine Tätigkeit, um einen Prozess auszudrücken, ist ein Verb: zum Beispiel ich bin, ich liebe, ich wünsche, ich hasse usw. Doch immer häufiger wird eine Tätigkeit mit den Begriffen des Habens ausgedrückt, das heißt ein Hauptwort anstelle eines Verbs verwendet. Eine Tätigkeit durch die Verbindung von „haben“ mit einem Hauptwort auszudrücken, ist jedoch ein falscher Sprachgebrauch, denn Prozesse und Tätigkeiten können nicht besessen, sondern nur erlebt werden.

Beobachtungen von Du Marsais und Marx

Die bösen Folgen dieses Sprachgebrauchs wurden schon im 18. Jahrhundert erkannt. Du Marsais (1972) drückte das Problem in seinem posthum veröffentlichten Werk Les Veritables Principes de la Grammaire aus dem Jahr 1769 sehr präzise aus. Er schreibt: „In dem Beispiel ‘Ich habe eine Uhr’ ist ich habe im eigentlichen Sinne zu verstehen; aber in ‘ich habe eine Idee’ wird ich habe nur nachahmend verwendet – es ist ein geborgter Ausdruck. Ich habe eine Idee bedeutet, ich denke, ich stelle mir etwas auf diese oder jene Weise vor; ich habe Sehnsucht bedeutet ich sehne mich; ich habe den ‘Willen’ heißt ich will, etc.“ (Den Hinweis auf Du Marsais verdanke ich Dr. Noam Chomsky.)

Ein Jahrhundert nachdem Du Marsais dieses Phänomen der Ersetzung von Verben durch Substantive beobachtet hatte, beschäftigten sich Marx und Engels mit dem gleichen Problem, wenn auch auf radikalere Weise als ihr Vorgänger. Ihre Kritik an Edgar Bauers „Kritischer Kritik“ enthält einen kleinen, aber sehr wichtigen Essay über die Liebe. In ihm beziehen sie sich auf folgende Äußerung Bauers: „Die Liebe (...) ist eine grausame Göttin, welche, wie jede Gottheit, den ganzen Menschen besitzen will und nicht eher zufrieden ist, als bis er ihr nicht bloß seine Seele, sondern auch sein physisches Selbst dargebracht hat. Ihr Kultus ist das Leiden, der Gipfel dieses Kultus ist die Selbstaufopferung, der Selbstmord“ (E. Bauer, 1844).

Marx und Engels antworten: „Herr Edgar verwandelt die ‘Liebe’ in eine ‘Göttin’, und zwar in eine ‘grausame Göttin’, indem er aus dem liebenden Menschen, aus der Liebe des Menschen den Menschen der Liebe macht, indem er die ‘Liebe’ als ein apartes Wesen vom Menschen lostrennt und als solches verselbständigt“ (K. Marx, 1962, S. 684).

Marx und Engels weisen hier auf den entscheidenden Faktor, die Verwendung des Substantivs statt des Verbs, hin. Das Substantiv „Liebe“, das nur eine Abstraktion der Tätigkeit des Liebens ist, wird vom Menschen getrennt. Der liebende Mensch wird zum Menschen der Liebe, Liebe wird zur Göttin, zum Idol, auf das der Mensch sein Lieben projiziert; in diesem Entfremdungsprozess hört er auf, Liebe zu erleben, [II-289] und ist mit seiner Liebesfähigkeit nur noch durch seine Unterwerfung unter die Göttin der Liebe verbunden. Er hat aufgehört, selbst ein fühlender Mensch zu sein; stattdessen ist er zu einem entfremdeten Götzendiener geworden.

Heutiger Sprachgebrauch

In den zweihundert Jahren seit der Zeit, in der Du Marsais lebte, hat die Tendenz, Verben durch Substantive zu ersetzen, Ausmaße angenommen, die sich selbst Du Marsais kaum hätte vorstellen können. Ein typisches, wenn auch leicht übertriebenes Beispiel aus dem heutigen Sprachgebrauch sei hier gegeben: Nehmen wir an, eine Frau eröffnet das Gespräch mit einem Psychoanalytiker folgendermaßen: „Herr Doktor, ich habe ein Problem.“[4] Einige Jahrzehnte früher hätte die Patientin anstelle von „Ich habe ein Problem“ sehr wahrscheinlich gesagt: „Ich bin besorgt.“[5] Der moderne Sprachstil ist ein Indiz für die heutige Entfremdung. Wenn ich sage: „Ich habe ein Problem“ anstelle von „Ich bin besorgt“, dann wird die subjektive Erfahrung ausgeschlossen. Das Ich, das die Erfahrung macht, wird ersetzt durch das Es, das man besitzt. Ich habe meine Gefühle in etwas verwandelt, das ich besitze: das Problem. Ein „Problem“ ist ein abstrakter Ausdruck für alle Arten von Schwierigkeiten. Ich kann es nicht haben, da es kein Ding ist, das man besitzen kann, allerdings kann das Problem mich haben; genauer gesagt, habe ich mich dann in ein „Problem“ verwandelt, und meine Schöpfung hat Besitz von mir ergriffen. Diese Art zu sprechen verrät die versteckte unbewusste Entfremdung.[6]

Zur Etymologie der Begriffe

„Haben“ ist ein täuschend einfaches Wort. Jeder Mensch hat etwas: seinen Körper[7], seine Kleider, seine Wohnung, bis hin zum modernen Menschen, der ein Auto, einen Fernsehapparat und eine Waschmaschine hat. Zu leben, ohne etwas zu haben, ist praktisch unmöglich. Warum sollte „haben“ also problematisch sein? Dennoch zeigt die Sprachgeschichte des Wortes „haben“, dass es ein echtes Problem aufwirft. Für jene, die glauben, dass „haben“ eine höchst natürliche Kategorie innerhalb der menschlichen Existenz ist, mag es überraschend sein, wenn sie erfahren, dass es in vielen Sprachen kein Wort für „haben“ gibt. Im Hebräischen muss „ich habe“ zum Beispiel durch die indirekte Form „jesh li“ (es ist mir) ausgedrückt werden. Tatsächlich gibt es mehr Sprachen, die Besitz in dieser Weise ausdrücken, als durch „ich habe“.[8] [II-290]

Bemerkenswert ist, dass in der Entwicklung vieler Sprachen die Konstruktion „es ist mir“ später durch die Konstruktion „ich habe“ ersetzt wird, während eine umgekehrte Entwicklung, wie Émile Benveniste (1966) gezeigt hat, nicht festzustellen ist. Diese Tatsache scheint darauf hinzudeuten, dass sich das Wort „haben“ in Zusammenhang mit der Entstehung des Privateigentums entwickelt, während es nicht in Gesellschaften mit funktionalem Eigentum, das heißt Eigentum für den Gebrauch vorkommt. Weitere soziolinguistische Studien sollten zeigen, ob und in welchem Ausmaß diese Hypothese stimmt.

Während „haben“ ein relativ einfacher Begriff zu sein scheint, so ist „sein“ ein umso komplizierter und schwierigerer. Er wird in verschiedener Weise verwendet: 1. Als Hilfsverb wie in „ich bin groß“, „ich bin weiß“, „ich bin arm“, also als grammatikalische Identitätsbestimmung (viele Sprachen haben kein Wort für „sein“ in diesem Sinne). Im Spanischen wird zwischen dauernden Eigenschaften, die zum Wesen des Subjekts gehören (ser) und vorübergehenden Eigenschaften, die nicht zum Wesen zählen (estar) unterschieden. 2. Für die Bildung des Passivs: „Ich werde geschlagen“ bedeutet, dass ich das Objekt der Tätigkeit eines anderen bin, nicht das Subjekt meiner eigenen Tätigkeit wie in „ich schlage“. 3. In der Bedeutung von „sein“, im Sinne von existieren, unterscheidet sich „sein“, wie Benveniste (1966) gezeigt hat, grundlegend von dem die Identität bezeichnenden Hilfsverb „sein“: „Die beiden Worte haben koexistiert und können weiter koexistieren, obwohl sie völlig verschieden sind.“

Benvenistes Untersuchung wirft neues Licht eher auf die Bedeutung von „sein“ als eigenständigem Verb als auf die Bedeutung als Hilfszeitwort. In den indogermanischen Sprachen wird „sein“ durch die Wurzel es ausgedrückt, die „existieren, in der Realität vorkommen“ bedeutet. „Diese Existenz und Realität wird als das Authentische, Schlüssige, Wahre definiert.“ (In Sanskrit sant = existent, wirklich, gut, wahr, Superlativ sattama = das Beste.) Seiner etymologischen Wurzel nach ist „sein“ also mehr als eine Feststellung der Identität zwischen Subjekt und Attribut; es ist mehr als ein beschreibendes Wort für ein Phänomen. Es drückt die Realität der Existenz dessen aus, der ist und was ist und bezeugt seine (ihre) Authentizität und Wahrheit. Wenn man sagt, jemand oder etwas sei, so spricht man von seinem Wesen, nicht von seiner Oberfläche.

Dieser vorläufige Überblick über die Bedeutung von Haben und Sein führt zu folgenden Schlüssen:

  1. Mit den Begriffen Sein oder Haben meine ich nicht bestimmte einzelne Eigenschaften eines Subjekts, wie sie in Feststellungen wie „ich habe ein Auto“, „ich bin weiß“ oder „ich bin glücklich“ Ausdruck finden. Ich meine zwei grundlegende Existenzweisen, zwei verschiedene Arten der Orientierung sich selbst und der Welt gegenüber, zwei verschiedene Arten der Charakterstruktur, deren jeweilige Dominanz die Totalität dessen bestimmt, was ein Mensch denkt, fühlt und handelt.
  2. In der Existenzweise des Habens ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung, in der ich jedermann und alles, mich selbst mit eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will.
  3. Bei der Existenzweise des Seins müssen wir zwei Formen des Seins unterscheiden. Die eine ist das Gegenteil von Haben; Du Marsais hat sie in seiner [II-291] Erklärung beschrieben. Sie bedeutet Lebendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt. Die andere Form des Seins ist das Gegenteil von Schein und meint die wahre Natur, die wahre Wirklichkeit einer Person im Gegensatz zu trügerischem Schein, wie sie in der Etymologie des Wortes sein beschrieben wird (È. Benveniste, 1966).
Philosophische Konzepte des Seins

Die Erörterung des Seinsbegriffs ist besonders kompliziert, da das Sein Gegenstand Tausender philosophischer Bücher war, und die Frage „Was ist Sein?“ zu den Grundfragen der westlichen Philosophie zählt. Obwohl der Seinsbegriff hier aus anthropologischer und psychologischer Sicht behandelt wird, ist die philosophische Erörterung des Themas natürlich nicht ohne Bezug zur anthropologischen Problematik. Da selbst eine knappe Darstellung der Entwicklung des Seinsbegriffes in der Geschichte der Philosophie von den Vorsokratikern bis zur modernen Philosophie den gegebenen Rahmen sprengen würde, möchte ich nur einen entscheidenden Punkt erwähnen: die Auffassung, dass Werden, Aktivität und Bewegung Elemente des Seins sind. Wie Georg Simmel hervorhob, hat der Gedanke, dass Sein Veränderung impliziert, das heißt, dass Sein gleichbedeutend mit Werden ist, seine zwei bedeutendsten und kompromisslosesten Verfechter am Anfang bzw. am Zenit der westlichen Philosophie: in Heraklit und Hegel.

Die von Parmenides, Plato und den scholastischen „Realisten“ vertretene Auffassung, dass Sein eine bleibende, zeitlose und unveränderliche Substanz und somit das Gegenteil von Werden sei, ist nur auf Grund der idealistischen Vorstellung sinnvoll, dass ein Gedanke (eine Idee) das letztlich Reale sei. Wenn die Idee der Liebe (im Sinne Platos) realer ist als das Erlebnis des Liebens, dann kann man freilich sagen, dass die Liebe als Idee bleibend und unveränderlich sei. Aber wenn wir von der Realität lebender Menschen und ihrem Lieben, Hassen und Leiden ausgehen, dann gibt es kein Sein, das nicht gleichzeitig ein Werden und Sich-Verändern ist. Lebende Strukturen können nur sein, indem sie werden, können nur existieren, indem sie sich verändern. Wachstum und Veränderung sind inhärente Eigenschaften des Lebensprozesses.[9]

Haben und Konsumieren

Bevor wir uns einigen einfachen Beispielen zuwenden, aus denen die Unterschiede der beiden Existenzweisen deutlich werden, sei noch eine weitere Erscheinungsweise des Habens, das Einverleiben, erwähnt. Sich etwas einzuverleiben, wie beispielsweise beim Essen und Trinken, ist eine archaische Form des In-Besitz-Nehmens. Der Säugling neigt in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung dazu, Dinge, die er haben möchte, in den Mund zu stecken. Das ist seine Art des Besitzergreifens, wenn ihm seine körperliche Entwicklung noch nicht gestattet, sein Eigentum auf andere Weise unter Kontrolle zu halten. Den gleichen Zusammenhang zwischen Einverleiben und [II-292] Besitz finden wir in vielen Formen des Kannibalismus. Indem ich einen anderen Menschen esse, eigne ich mir seine Kräfte an; der Kannibalismus kann auf diese Weise zum magischen Äquivalent des Erwerbs von Sklaven werden. Wenn man das Herz eines mutigen Mannes isst, eignet man sich dadurch seinen Mut an. Isst man ein Totemtier, so wird man des göttlichen Wesens, welches das Totemtier symbolisiert, teilhaftig – und damit eins mit ihm.[10]

Aber die meisten Objekte kann man sich natürlich nicht physisch einverleiben (und wenn man es könnte, würden sie durch den Ausscheidungsprozess wieder verlorengehen). Es gibt jedoch auch eine symbolische und magische Einverleibung. Wenn ich glaube, mir das Inbild eines Gottes, eines Vaters oder eines Tieres einverleibt zu haben, kann es mir weder weggenommen noch von mir ausgeschieden werden. Ich schlucke das Objekt symbolisch und glaube an seine symbolische Präsenz in mir. Auf diese Weise erklärte Freud zum Beispiel das Über-Ich: die introjizierte Summe der väterlichen Verbote und Gebote. Auf die gleiche Weise kann eine Autorität, eine Institution, eine Idee, ein Bild introjiziert werden: Ich habe sie, sie sind für alle Zeiten sozusagen in meinen Eingeweiden aufbewahrt. („Introjektion“ wird häufig synonym mit „Identifikation“ verwendet. Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich wirklich um den gleichen Prozess handelt; „Identifikation“ sollte jedenfalls nicht ungenau in Fällen verwendet werden, wo es richtiger Imitation oder Unterordnung heißen müsste.)

Es gibt viele andere Formen der Einverleibung, die nicht mit physiologischen Bedürfnissen verbunden und somit begrenzt sind. Der Konsumentenhaltung liegt der Wunsch zugrunde, die ganze Welt zu verschlingen, der Konsument ist der ewige Säugling, der nach der Flasche schreit. Das wird offenkundig bei pathologischen Phänomenen wie Alkoholismus und Drogensucht. Es scheint fast, als werteten wir diese deshalb ab, weil ihre Wirkung die Betroffenen hindert, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Zwanghaftes Rauchen wird nicht in gleicher Weise geächtet, weil es, obwohl ebenfalls eine Sucht, nicht die gesellschaftliche Funktionstüchtigkeit eines Menschen beeinträchtigt, sondern „nur“ seine Lebensspanne verkürzt. Ich habe die vielfältigen Formen des täglichen Konsumzwangs in früheren Schriften beschrieben und brauche mich hier nicht zu wiederholen. Hinzuzufügen wäre höchstens, dass, was die Freizeit betrifft, Autos, Fernsehen, Reisen und Sex die Hauptobjekte des heutigen Konsumzwangs sind. Man spricht von „Freizeitaktivität“; treffender könnte man sagen „Freizeitpassivität“.

Fassen wir zusammen: Konsumieren ist eine Form des Habens, vielleicht die wichtigste in den heutigen „Überflussgesellschaften“; Konsumieren ist etwas Zweideutiges. Es vermindert die Angst, weil mir das Konsumierte nicht weggenommen werden kann, aber es zwingt mich auch, immer mehr zu konsumieren, denn das einmal Konsumierte hört bald auf, mich zu befriedigen. Der moderne Konsument könnte sich mit der Formel identifizieren: Ich bin, was ich habe und was ich konsumiere.

2 Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung

Da wir in einer Gesellschaft leben, die sich vollständig dem Besitz- und Profitstreben verschrieben hat, sehen wir selten Beispiele der Existenzweise des Seins, und die meisten Menschen sehen die auf das Haben gerichtete Existenz als die natürliche, ja die einzig denkbare Art zu leben an. All das macht es besonders schwierig, die Eigenart der Existenzweise des Seins zu verstehen und zu begreifen, dass das Haben nur eine mögliche Orientierung ist. Dennoch wurzeln diese beiden Begriffe in der menschlichen Erfahrung. Keiner von beiden sollte oder kann nur auf abstrakte und rein verstandesmäßige Weise untersucht werden. Beide spiegeln sich im täglichen Leben wider und können darum konkret behandelt werden.

Die folgenden einfachen Beispiele aus dem täglichen Leben sollen es dem Leser erleichtern, die Alternative von Haben und Sein zu verstehen.

Lernen

Studenten, die an der Existenzweise des Habens orientiert sind, hören eine Vorlesung, indem sie auf die Worte hören, ihren logischen Zusammenhang und ihren Sinn erfassen und so vollständig wie möglich alles in ihr Notizbuch aufschreiben, sodass sie sich später ihre Notizen einprägen und eine Prüfung ablegen können. Aber der Inhalt wird nicht Bestandteil ihrer eigenen Gedankenwelt, er bereichert und erweitert diese nicht. Sie pressen das, was sie hören, in starre Gedankenansammlungen oder ganze Theorien, die sie speichern. Inhalt der Vorlesung und Student bleiben einander fremd, außer dass jeder dieser Studenten zum Eigentümer bestimmter, von einem anderen getroffener Feststellungen geworden ist (die dieser entweder selbst geschaffen hat oder aus anderen Quellen schöpfte).

Studenten in der Existenzweise des Habens haben nur ein Ziel: das „Gelernte“ festzuhalten, entweder indem sie es ihrem Gedächtnis einprägen oder indem sie ihre Aufzeichnungen sorgsam hüten. Sie brauchen nichts Neues zu schaffen oder hervorzubringen. Der „Habentypus“ fühlt sich in der Tat durch neue Ideen oder Gedanken über sein Thema eher beunruhigt, denn das Neue stellt die Summe der Informationen [II-294] in Frage, die er bereits hat. Für einen Menschen, für den das Haben die Hauptform seiner Bezogenheit zur Welt ist, sind Gedanken, die nicht leicht aufgeschrieben und festgehalten werden können, furchterregend, wie alles, was wächst, sich verändert und sich somit der Kontrolle entzieht.

Für Studenten, die in der Weise des Seins zur Welt bezogen sind, hat der Lernvorgang eine völlig andere Qualität. Zunächst einmal gehen sie selbst zu der ersten Vorlesung nicht als tabula rasa. Sie haben über die Thematik, mit der sich der Vortrag beschäftigt, schon früher nachgedacht; es beschäftigen sie bestimmte Fragen und Probleme. Sie haben sich mit dem Gegenstand schon auseinandergesetzt und sind an ihm interessiert.

Statt nur passiv Worte und Gedanken zu empfangen, hören sie zu und hören nicht bloß, sie empfangen und antworten auf aktive und produktive Weise. Was sie hören, regt ihre eigenen Denkprozesse an, neue Fragen, neue Ideen, neue Perspektiven tauchen dabei auf. Der Vorgang des Zuhörens ist ein lebendiger Prozess; der Student nimmt die Worte des Lehrers auf und wird in der Antwort lebendig. Er hat nicht bloß Wissen erworben, das er nach Hause tragen und auswendig lernen kann. Jeder Student ist betroffen und verändert worden: Jeder ist nach dem Vortrag ein anderer als vorher. Diese Art des Lernens ist nur möglich, wenn der Vortrag auch anregendes Material bietet. Auf leeres Gerede kann man nicht in der Weise des Seins reagieren und tut besser daran, nicht zuzuhören, sondern sich auf seine eigenen Gedanken zu konzentrieren. Ich möchte zumindest kurz auf das Wort „Interesse“ eingehen, das durch Abnützung farblos geworden ist. Seine ursprüngliche Bedeutung ist jedoch in seiner Wurzel enthalten: lat. inter-esse, d. h. „dazwischen sein“ oder „dabei sein“. Dieses aktive Interesse wurde im Mittelenglischen durch das Wort „to list“ (Adj. listy, Adv. listily) ausgedrückt. Heute wird „to list“ nur räumlich („a ship lists“ = ein Schiff neigt sich) gebraucht; die ursprüngliche Bedeutung im psychologischen Sinn ist nur in dem negativen „listless“ (teilnahmslos) enthalten. „To list“ bedeutete einmal, „aktiv nach etwas streben“, „echt interessiert sein an“. Die Wurzel ist die gleiche wie bei „Lust“, aber „to list“ heißt nicht, von einer Lust getrieben sein, sondern beinhaltet das freie und aktive Interesse oder das Streben nach etwas. „To list“ ist einer der Schlüsselbegriffe des anonymen Verfassers von The Cloud of Unknowing, das Mitte des 14. Jahrhunderts entstand (E. Underhill, 1956). Die Tatsache, dass die Sprache das Wort nur in der negativen Bedeutung beibehielt, ist charakteristisch für den Wandel, der sich zwischen dem 13. und dem 20. Jahrhundert in der geistigen Haltung der Gesellschaft vollzog.

Erinnern

Erinnern kann man sich in der Weise des Habens und in der Weise des Seins. Die beiden Formen des Erinnerns unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Art der Verbindung, die man herstellt. Erinnert man sich in der Weise des Habens, so ist die Verbindung völlig mechanisch, wie es der Fall ist, wenn sich die Verbindung zwischen zwei Worten durch häufige gleichzeitige Verwendung einschleift. Oder es kann sich [II-295] um Verbindungen handeln, die auf rein logischen Zusammenhängen beruhen, wie im Falle von Gegensatzpaaren, konvergierenden Begriffen oder Verbindungen auf Grund von Zeit, Raum, Größe und Farbe, oder auf Grund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gedankensystem.

Erinnern in der Weise des Seins ist aktives Tun, mit dem man sich Worte, Gedanken, Anblicke, Bilder und Musik ins Bewusstsein zurückruft. Zwischen dem einzelnen Faktum, das man sich vergegenwärtigen will, und vielen anderen Fakten, die damit zusammenhängen, werden Verbindungen hergestellt. Hier werden die Verbindungen nicht in mechanischer oder rein logischer, sondern in lebendiger Weise hergestellt. Jeder Begriff wird mit einem anderen durch einen produktiven Akt des Denkens (oder Fühlens) verbunden, der einsetzt, wenn man nach dem richtigen Wort sucht. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich das Wort „Schmerzen“ oder „Aspirin“ mit dem Wort „Kopfschmerzen“ assoziiere, dann bewege ich mich in logischen, konventionellen Bahnen. Wenn ich dagegen die Worte „Stress“ und „Ärger“ mit „Kopfweh“ verbinde, dann verbinde ich das betreffende Faktum mit möglichen Ursachen, auf die ich gekommen bin, weil ich mich mit dem Phänomen beschäftigt habe. Diese Art des Erinnerns ist an und für sich selbst ein Akt des produktiven Denkens. Das bemerkenswerteste Beispiel für diese lebendige Art des Erinnerns sind die von Freud gefundenen „freien Assoziationen“.

Wer nicht in erster Linie am Speichern als solchem interessiert ist, wird feststellen, dass sein Gedächtnis, um gut zu funktionieren, eines starken und unmittelbaren Interesses bedarf. So haben zum Beispiel Leute die Erfahrung gemacht, dass sie sich in Notlagen, in denen es lebenswichtig war, ein bestimmtes Wort zu wissen, an vergessen geglaubte Ausdrücke aus Fremdsprachen erinnerten. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass ich, obwohl ich nie über ein besonders gutes Gedächtnis verfügt habe, mich an den Traum eines Menschen, den ich analysiert habe, erinnere, ob dieser nun zwei Wochen oder fünf Jahre zurückliegt, sobald ich den Betreffenden vor Augen habe und mich auf seine ganze Persönlichkeit konzentriere. Fünf Minuten früher wäre es mir dagegen unmöglich gewesen, mich auf Anhieb an den Traum zu erinnern.

In der Existenzweise des Seins impliziert Erinnern, etwas ins Leben zurückzurufen, was man einmal gesehen oder gehört hat. Jeder kann diese produktive Art des Erinnerns vollziehen, wenn er versucht, sich den Anblick von Gesichtern und Landschaften ins Gedächtnis zu rufen, die er einmal gesehen hat. Das Gesicht oder die Landschaft taucht nicht sofort vor dem geistigen Auge auf. Es muss wiedererschaffen, zum Leben erweckt werden. Das ist nicht immer leicht. Voraussetzung ist, dass ich das Gesicht oder die Landschaft einmal mit genügender Konzentration betrachtet habe, um sie mir deutlich ins Gedächtnis rufen zu können. Wenn diese Art des Erinnerns voll gelingt, ist die Person, deren Gesicht ich mir ins Gedächtnis rufe, in voller Lebendigkeit präsent, die Landschaft so gegenwärtig, als habe man sie wirklich vor sich. Typisch dafür, wie man sich in der Weise des Habens an ein Gesicht oder eine Landschaft erinnert, ist die Art und Weise; wie die meisten Menschen ein Photo betrachten. Das Photo dient ihrem Gedächtnis nur als Stütze, um einen Menschen oder eine Landschaft zu identifizieren. Ihre Reaktion auf das Bild ist etwa: „Ja, das ist er“, oder „Ja, da war ich“. Das Photo wird für die meisten zu einer entfremdeten Erinnerung. [II-296]

Eine weitere Form entfremdeten Erinnerns ist es, wenn ich mir aufschreibe, was ich im Gedächtnis behalten möchte. Indem ich es zu Papier bringe, erreiche ich, dass ich die Information habe – ich versuche nicht, sie meinem Gehirn einzuprägen. Ich bin meines Besitzes sicher, es sei denn, ich verliere die Aufzeichnungen und damit auch das zu Erinnernde. Meine Erinnerungsfähigkeit hat mich verlassen, da mein Gedächtnis in der Form meiner Aufzeichnungen zu einem veräußerten Teil meiner selbst geworden ist.

Angesichts der Unmenge von Daten, die der moderne Mensch im Gedächtnis behalten muss, ist es unmöglich, ganz ohne Notizen und Nachschlagewerke auszukommen. Aber die Tendenz, das Gedächtnis zu ersetzen, nimmt in unvernünftig erscheinendem Maße zu. Dass dabei das Aufschreiben die Erinnerungsfähigkeit vermindert, können wir am leichtesten und besten an uns selbst beobachten. Dennoch sind vielleicht einige Beispiele nützlich.

Ein alltägliches Beispiel ist der Verkäufer im Laden: Kaum ein Verkäufer macht noch eine einfache Addition von zwei oder drei Posten im Kopf, vielmehr wird eine Maschine bemüht. Die Schule bietet ein weiteres Beispiel: Lehrer können beobachten, dass Schüler, die jeden Satz gewissenhaft mitschreiben, aller Wahrscheinlichkeit nach weniger verstehen und sich an weniger erinnern als solche Schüler, die auf ihre Fähigkeit vertrauen, wenigstens das Wesentliche zu verstehen und zu behalten. Musiker wissen, dass diejenigen, denen es am leichtesten fällt, vom Blatt zu spielen, größere Schwierigkeiten haben, sich Musik ohne Partitur zu merken. (Ich verdanke diese Information Dr. Moshe Budmor.) Toscanini ist ein gutes Beispiel für einen Musiker in der Weise des Seins; er hatte auch ein außerordentlich gutes Gedächtnis.

Ich habe in Mexiko beobachtet, dass Analphabeten und Menschen, die wenig schreiben, ein weit besseres Gedächtnis haben als die lese- und schreibkundigen Bürger der Industriestaaten; dies ist eine Tatsache unter mehreren, die vermuten lässt, dass die Kunst des Lesens und Schreibens nicht nur ein Segen ist, wie behauptet wird, speziell wenn sie dazu dient, Dinge zu lesen, durch die die Erlebnisfähigkeit und die Phantasie verkümmern.

Miteinander sprechen

Im Gespräch wird der Unterschied zwischen den beiden Existenzweisen rasch deutlich. Nehmen wir eine typische Unterhaltung zwischen zwei Männern, in der A die Meinung X hat und B die Meinung Y. Jeder kennt die Ansicht des anderen mehr oder weniger genau. Beide identifizieren sich mit ihrer Meinung. Es kommt ihnen darauf an, bessere, das heißt treffendere Argumente zur Verteidigung ihres eigenen Standpunktes vorzubringen. Keiner denkt daran, seine Meinung zu ändern oder erwartet, dass der Gegner dies tut. Sie fürchten sich davor, von ihrer Meinung zu lassen, da diese zu ihren Besitztümern zählt und ihre Aufgabe somit einen Verlust darstellen würde.

Bei einem Gespräch, das nicht als Debatte gedacht ist, verhält sich die Sache etwas anders. Wer hat nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, mit einem Menschen [II-297] zusammenzutreffen, der bekannt oder berühmt oder auch durch persönliche Qualitäten ausgezeichnet ist, oder einem Menschen, von dem man einen guten Job oder Liebe und Bewunderung erwartet? Viele sind unter diesen Umständen nervös und ängstlich und bereiten sich auf die wichtige Begegnung vor. Sie überlegen sich, welche Themen den anderen interessieren könnten, sie planen im Voraus die Eröffnung des Gesprächs, manche skizzieren die ganze Unterredung, soweit es ihren Part betrifft. Mancher macht sich vielleicht Mut, indem er sich vor Augen hält, was er alles hat: seine früheren Erfolge, sein charmantes Wesen (oder seine Fähigkeit, andere einzuschüchtern, falls dies mehr Erfolg verspricht), seine gesellschaftliche Stellung, seine Beziehungen, sein Aussehen und seine Kleidung. Mit einem Wort, er veranschlagt im Geiste seinen Wert, und darauf gestützt bietet er nun im Gespräch seine Waren an. Wenn er dies sehr geschickt macht, wird er in der Tat viele Leute beeindrucken, obwohl dies nur zum Teil seinem Auftreten und weit mehr der mangelnden Urteilsfähigkeit der meisten Menschen zuzuschreiben ist. Der weniger Raffinierte wird mit seiner Darbietung nur geringes Interesse erwecken; er wird hölzern, unnatürlich und langweilig wirken.

Im Gegensatz dazu steht die Haltung des Menschen, der nichts vorbereitet und sich nicht aufplustert, sondern spontan und produktiv reagiert. Ein solcher Mensch vergisst sich selbst, sein Wissen, seine Position; sein Ich steht ihm nicht im Wege; und aus genau diesem Grund kann er sich voll auf den anderen und dessen Ideen einstellen. Er gebiert neue Ideen, weil er nichts festzuhalten trachtet.

Während sich der „Habenmensch“ auf das verlässt, was er hat, vertraut der „Seinsmensch“ auf die Tatsache, dass er ist, dass er lebendig ist und dass etwas Neues entstehen wird, wenn er nur den Mut hat, loszulassen und zu antworten. Er wirkt im Gespräch lebendig, weil er sich selbst nicht durch ängstliches Pochen auf das, was er hat, erstickt. Seine Lebendigkeit ist ansteckend, und der andere kann dadurch häufig seine Egozentrik überwinden. Die Unterhaltung hört auf, ein Austausch von Waren (Informationen, Wissen, Status) zu sein und wird zu einem Dialog, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer recht hat. Die Duellanten beginnen, miteinander zu tanzen, und sie trennen sich nicht im Gefühl des Triumphs oder im Gefühl der Niederlage, was beides gleich fruchtlos ist, sondern voll Freude. (Bei der psychoanalytischen Therapie ist der wesentlichste therapeutische Faktor diese belebende Qualität des Therapeuten. Die ausführlichsten Deutungen werden wirkungslos sein, wenn die therapeutische Atmosphäre schwer, unlebendig und langweilig ist.)

Lesen

Was für das Gespräch gilt, trifft gleichermaßen für das Lesen zu, das eine Zwiesprache zwischen Autor und Leser ist oder sein sollte. Natürlich ist es beim Lesen (ebenso wie beim Gespräch) wichtig, „was“ ich lese (oder mit wem ich rede). Einen kunstlosen, billig gemachten Roman zu lesen, ist eine Form des Tagträumens. Es gestattet keine produktive Reaktion, der Text wird geschluckt wie eine belanglose Fernsehsendung oder die Kartoffelchips, die man gedankenlos beim Zuschauen isst. Einen [II-298] Roman von Balzac zum Beispiel kann man dagegen produktiv und mit innerer Anteilnahme, das heißt in der Weise des Seins lesen. Doch auch solche Bücher werden wahrscheinlich meist in einer Konsumhaltung – in der Weise des Habens – gelesen. Da seine Neugier erregt ist, will der Leser die Handlung wissen, er will erfahren, ob der Held stirbt oder am Leben bleibt, ob sich das Mädchen verführen lässt oder nicht. Der Roman ist in diesem Fall eine Art Vorspiel, das ihn erregt, der glückliche oder unglückliche Ausgang ist der Höhepunkt. Wenn er das Ende weiß, hat er die ganze Geschichte, fast so wirklich, als habe er in seinen eigenen Erinnerungen gewühlt. Aber er hat keine Erkenntnisse gewonnen. Er hat seine Einsicht in das Wesen des Menschen nicht vertieft, indem er die Romanfigur erfasste, noch hat er etwas über sich selbst gelernt.

Auch für philosophische oder historische Werke gilt die gleiche Unterscheidung. Die Art – oder Unart – wie man ein philosophisches oder historisches Buch liest, ist ein Resultat der Erziehung. Die Schule ist bemüht, jedem Schüler eine bestimmte Menge an „Kulturbesitz“ zu vermitteln, und am Ende seiner Schulzeit wird ihm bescheinigt, dass er zumindest ein Minimum davon hat. Es wird ihm deshalb beigebracht, ein Buch so zu lesen, dass er die Hauptgedanken des Verfassers wiedergeben kann. Auf diese Weise „kennt“ er Plato, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Leibniz und Kant bis hin zu Heidegger und Sartre. Die verschiedenen Bildungsstufen von der Oberschule bis zur Hochschule unterscheiden sich vornehmlich hinsichtlich der Menge des vermittelten Bildungsgutes, das etwa im Verhältnis zur Menge des materiellen Besitzes steht, über den der Schüler im späteren Leben wahrscheinlich verfügen wird. Als hervorragend gilt jener Schüler, der am genauesten wiederholen kann, was jeder einzelne Philosoph gesagt hat. Er gleicht einem beschlagenen Museumsführer. Was er nicht lernt, ist das, was über diesen Wissensbesitz hinausgeht. Er lernt nicht, die Philosophen in Frage zu stellen, mit ihnen zu reden, gewahr zu werden, dass sie sich selbst widersprechen, dass sie bestimmte Probleme ausklammern und manche Themen meiden. Er lernt nicht unterscheiden zwischen Meinungen, die sich dem Verfasser aufdrängten, weil sie zu seiner Zeit als „vernünftig“ galten, und dem Neuen, das er beitrug. Er spürt nicht, wann der Autor nur seinen Verstand sprechen lässt und wann Herz und Kopf beteiligt sind, er merkt nicht, ob der Autor authentisch oder ein Schaumschläger ist – und vieles andere.

Der Leser in der Weise des Seins kann dagegen zu der Überzeugung gelangen, dass selbst ein hoch gelobtes Buch mehr oder weniger wertlos ist. Vielleicht versteht er auch ein Buch manchmal besser als der Autor selbst, dem alles, was er schrieb, wichtig erschien.

Autorität ausüben

Ein weiteres Beispiel für den Unterschied der Existenzweisen des Habens und des Seins ist das Ausüben von Autorität. Der springende Punkt ist, ob man Autorität hat oder eine Autorität ist. Fast jeder übt in irgendeiner Phase seines Lebens Autorität aus. Wer Kinder erzieht, muss, ob er will oder nicht, Autorität ausüben, um das Kind [II-299] vor Gefahren zu bewahren und ihm zumindest ein Minimum an Verhaltensratschlägen für bestimmte Situationen zu geben. In einer patriarchalischen Gesellschaft sind für die meisten Männer auch Frauen Objekte der Autoritätsausübung. In einer bürokratischen, hierarchisch organisierten Gesellschaft wie der unseren üben die meisten Mitglieder Autorität aus, mit Ausnahme der untersten Gesellschaftsschicht, die nur Objekt der Autorität ist.

Um zu verstehen, was Autorität in den beiden Existenzweisen bedeutet, müssen wir uns vor Augen halten, dass dieser Begriff sehr weit ist und zwei völlig verschiedene Bedeutungen hat: „rationale“ und „irrationale“ Autorität. Rationale Autorität fördert das Wachstum des Menschen, der sich ihr anvertraut, und beruht auf Kompetenz. Irrationale Autorität stützt sich auf Macht und dient zur Ausbeutung der ihr Unterworfenen. (Ich habe diese Unterscheidung in Die Furcht vor der Freiheit (1941a), GA I, S. 313-315] erörtert.)

In den primitivsten Gesellschaften, bei den Jägern und Sammlern, übt derjenige Autorität aus, dessen Kompetenz für die jeweilige Aufgabe allgemein anerkannt ist. Auf welchen Qualitäten diese Kompetenz beruht, hängt weitgehend von den Umständen ab: Im Allgemeinen zählen in erster Linie Erfahrung, Weisheit, Großzügigkeit, Geschicklichkeit, Persönlichkeit und Mut. In vielen dieser Stämme gibt es keine permanente Autorität, sondern nur eine für den Bedarfsfall, oder es gibt verschiedene Autoritäten für verschiedene Anlässe wie Krieg, religiöse Riten, Streitschlichtung. Mit dem Verschwinden oder der Abnahme der Eigenschaften, auf welchen die Autorität beruht, endet diese. Eine sehr ähnliche Form von Autorität ist bei vielen Primaten zu beobachten, bei denen nicht unbedingt physische Kraft, sondern oft Eigenschaften wie Erfahrung und „Weisheit“ Kompetenz verleihen. (J. M. R. Delgado, 1967, hat in einem ausgeklügelten Experiment mit Affen nachgewiesen, dass die Autorität des dominierenden Tieres endet, sobald es, wenn auch nur vorübergehend, die Qualitäten einbüßt, die seine Kompetenz ausmachen.)

Autorität, die im Sein gründet[11], basiert nicht nur auf der Fähigkeit, bestimmte gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen, sondern gleichermaßen auf der Persönlichkeit eines Menschen, der ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und Integration erreicht hat. Ein solcher Mensch strahlt Autorität aus, ohne drohen, bestechen oder Befehle erteilen zu müssen; es handelt sich einfach um ein hochentwickeltes Individuum, das durch das, was es ist – und nicht nur, was es tut oder sagt – demonstriert, was der Mensch sein kann. Die großen Meister des Lebens waren solche Autoritäten, und in geringerer Vollkommenheit sind sie unter Menschen aller Bildungsgrade und der verschiedensten Kulturen zu finden. Das Problem der Erziehung dreht sich um diese Frage. Wären die Eltern selbst entwickelter und ruhten sie in ihrer eigenen Mitte, gäbe es kaum den Streit um autoritäre oder Laissez-faire-Erziehung. Das Kind reagiert sehr willig auf diese Seinsautorität, da es sie braucht; es rebelliert dagegen, von Leuten gezwungen oder vernachlässigt zu werden, die erkennen lassen, dass sie selbst nicht geleistet haben, was sie vom heranwachsenden Kind verlangen.

Mit der Entstehung von Gesellschaften, die auf hierarchischer Ordnung basieren und viel größer und komplexer sind als die der Jäger und Sammler, wird die Autorität auf Grund von Kompetenz durch die Autorität auf Grund von sozialem Status abgelöst. [II-300] Das bedeutet nicht, dass die jetzt gültige Autorität notwendigerweise inkompetent ist, es bedeutet nur, dass Kompetenz kein Wesenselement für sie ist. Ob wir es mit monarchischer Autorität zu tun haben, bei der die Lotterie der Gene über die Kompetenz entscheidet, oder mit einem skrupellosen Verbrecher, der durch Heimtücke oder Mord zu einer Autorität wird, oder, wie so häufig in der modernen Demokratie, mit Autoritäten, die auf Grund ihrer photogenen Erscheinung oder des Geldes, das sie für ihre Wahl ausgeben können, gewählt werden – in allen diesen Fällen dürften Kompetenz und Autorität in keinem oder kaum einem Verhältnis zueinander stehen. Aber selbst in Fällen, in denen sich Autorität auf Grund einer gewissen Kompetenz etabliert, entstehen ernste Probleme. Zunächst einmal kann ein Führer auf einem Gebiet kompetent sein und auf einem anderen nicht, wie zum Beispiel ein Staatsmann bei der Kriegführung kompetent gewesen sein kann, im Frieden jedoch versagt. Oder ein Politiker kann am Anfang seiner Karriere ehrlich und mutig gewesen sein und büßt durch die Versuchung der Macht diese Eigenschaften ein. Alter und körperliche Behinderungen können eine Abnahme seiner Fähigkeiten bewirkt haben. Schließlich muss man sich vor Augen halten, dass es für die Angehörigen eines kleinen Stammes viel leichter war, das Verhalten einer Autoritätsperson zu beurteilen, als für die Millionen von Menschen in unserem System, die ihren Kandidaten nur auf Grund des manipulierten Bildes kennen, das die Public-Relations-Spezialisten von ihm entwerfen.

Was immer die Gründe sind für den Verlust der Kompetenz verleihenden Eigenschaften – es kommt in den meisten größeren und hierarchisch gegliederten Gesellschaften zu einem Prozess der Entfremdung der Autorität. Die reale oder fiktive ursprüngliche Kompetenz geht auf die Uniform oder den Titel über. Wenn die Autorität die richtige Uniform trägt oder mit dem entsprechenden Titel ausgestattet ist, dann ersetzen diese äußeren Zeichen die reale Kompetenz und die Qualitäten, auf denen diese beruht. Der König – um diesen Titel als Symbol für diese Art von Autorität zu verwenden – kann dumm, heimtückisch, böse, das heißt völlig ungeeignet sein, eine Autorität zu sein, dennoch hat er Autorität. Solange er den Titel hat, nimmt man an, dass er auch über die Qualitäten verfügt, die ihm Kompetenz verleihen. Selbst wenn der Kaiser nackt ist, glaubt jeder, dass er schöne Kleider anhat.[12]

Dass die Menschen Uniformen und Titel für Kompetenz verleihende Qualitäten halten, geschieht nicht ganz von selbst. Die Inhaber der Autorität und jene, die Nutzen daraus ziehen, müssen die Menschen von dieser Fiktion überzeugen und ihr realistisches, das heißt kritisches Denkvermögen einschläfern. Jeder denkende Mensch kennt die Methoden der Propaganda, Methoden, durch die die kritische Urteilskraft zerstört und der Verstand eingelullt wird, bis er sich Klischees unterwirft, die die Menschen verdummen, weil sie sie abhängig machen, und sie der Fähigkeit berauben, ihren Augen und ihrer Urteilskraft zu vertrauen. Diese Fiktion, an die sie glauben, macht sie für die Realität blind. [II-301]

Wissen

Der Unterschied zwischen den Existenzweisen des Habens und Seins auf dem Gebiet des Wissens drückt sich in den Formulierungen „ich habe Wissen“ und „ich weiß“ aus. Wissen zu haben heißt, verfügbares Wissen (Information) zu erwerben und in seinem Besitz zu halten; Wissen im Sinn von „ich weiß“ ist funktional und Teil des produktiven Denkprozesses.

Unser Verständnis der Eigenart des Wissens bei einem Menschen, der in der Weise des Seins lebt, können wir vertiefen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was Denker wie Buddha, die Propheten, Jesus, Meister Eckhart, Sigmund Freud und Karl Marx vertreten haben. Wissen beginnt in ihren Augen mit der Erkenntnis der Täuschungen durch die Wahrnehmungen unseres sogenannten gesunden Menschenverstandes; nicht nur in dem Sinn, dass unser Bild der physischen Realität nicht der „tatsächlichen Wirklichkeit“ entspricht, sondern insbesondere in dem Sinn, dass die meisten Menschen halb wachen und halb träumen und nicht gewahr sind, dass das meiste dessen, was sie für wahr und selbstverständlich halten, Illusionen sind, die durch den suggestiven Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds hervorgerufen werden, in dem sie leben. Wissen beginnt demnach mit der Zerstörung von Täuschungen, mit der „Ent-täuschung“. Wissen bedeutet, durch die Oberfläche zu den Wurzeln und damit zu den Ursachen vorzudringen, die Realität in ihrer Nacktheit zu „sehen“. Wissen bedeutet nicht, im Besitz von Wahrheit zu sein, sondern durch die Oberfläche zu dringen und kritisch und tätig nach immer größerer Annäherung an die Wahrheit zu streben.

Diese Qualität des schöpferischen Eindringens ist in dem hebräischen jadoa enthalten, das Erkennen und Lieben im Sinne des männlichen sexuellen Eindringens bedeutet. Buddha, der Erwachte, fordert die Menschen auf, zu erwachen und sich von der Illusion zu befreien, der Besitz von Dingen führe zum Glück. Die Propheten appellieren an die Menschen, aufzuwachen und zu erkennen, dass ihre Idole nichts anderes als das Werk ihrer eigenen Hände, Illusionen sind. Jesus sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh 8,32). Meister Eckhart hat seine Vorstellung vom Erkennen oftmals ausgedrückt, so etwa wenn er bezüglich der Erkenntnis Gottes sagt: „Das Erkennen legt keinen einzigen Gedanken hinzu, vielmehr löst es ab und trennt sich ab und läuft vor und berührt Gott, wie er nackt ist, und erfasst ihn einzig in seinem Sein“ (J. Quint, 1977, S. 238).[13] („Nacktheit“ und „nackt“ sind bevorzugte Formulierungen Meister Eckharts und seines Zeitgenossen, des Verfassers der Wolke des Nichtwissens.) Nach Marx gilt: „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“ (K. Marx, 1971, S. 208). Freuds Begriff der „Selbsterkenntnis“ basiert auf der Vorstellung, dass Illusionen („Rationalisierungen“) zerstört werden müssen, um der unbewussten Wirklichkeit gewahr zu werden.[14]

All diesen Denkern ging es um das Heil des Menschen, sie alle stellten die gesellschaftlich anerkannten Denkschemata in Frage. Für sie ist das Ziel des Wissens nicht die Gewissheit der „absoluten Wahrheit“, deren man sicher ist, sondern der sich selbst bewahrheitende Vollzug der menschlichen Vernunft. Für den Wissenden ist Nichtwissen ebenso gut wie Wissen, da beides Teile des Erkenntnisprozesses sind, wenn [II-302] sich auch diese Art von Nichtwissen von der Ignoranz der Denkfaulen unterscheidet. Das höchste Ziel der Existenzweise des Seins ist tieferes Wissen, in der Existenzweise des Habens jedoch mehr Wissen.

Unser Bildungssystem ist im Allgemeinen bemüht, Menschen mit Wissen als Besitz auszustatten, entsprechend etwa dem Eigentum oder dem sozialen Prestige, über das sie vermutlich im späteren Leben verfügen werden. Das Minimalwissen, das sie erhalten, ist die Informationsmenge, die sie brauchen, um in ihrer Arbeit zu funktionieren. Zusätzlich erhält jeder noch ein größeres oder kleineres Paket „Luxuswissen“ zur Hebung seines Selbstwertgefühls und entsprechend seinem voraussichtlichen sozialen Prestige. Die Schulen sind die Fabriken, in denen diese Wissenspakete produziert werden, wenn sie auch gewöhnlich behaupten, den Schüler mit den höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes in Berührung zu bringen. Viele Colleges verstehen es prächtig, diese Illusion zu nähren. Von indischer Philosophie und Kunst bis zum Existentialismus und Surrealismus wird ein riesiges „Smörgåsbord“ angeboten, aus dem sich jeder Student da und dort etwas herauspickt; um seine Spontaneität und Freiheit nicht einzuengen, drängt man ihn nicht, sich auf ein Thema zu konzentrieren, ja nicht einmal, je ein Buch zu Ende zu lesen. (Vgl. die radikale Kritik, die Ivan Illich (1970), an unserem Schulsystem übt.)

Glauben

Im religiösen, politischen oder persönlichen Sinn kann der Begriff Glaube[15] zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem, ob er im Sinne von Haben oder von Sein gebraucht wird.

In der Existenzweise des Habens ist Glaube der Besitz von Antworten, für die man keinen rationalen Beweis hat. Er besteht aus Formulierungen, die von anderen geschaffen wurden und die man akzeptiert, weil man sich diesen anderen – gewöhnlich einer Bürokratie – unterwirft. Er gibt einem ein Gefühl der Gewissheit auf Grund der realen (oder nur eingebildeten) Macht der Bürokratie. Er ist die Eintrittskarte, mit der man sich die Zugehörigkeit zu einer großen Gruppe von Menschen erkauft, er nimmt einem die schwierige Aufgabe ab, selbst zu denken und Entscheidungen zu treffen. Man zählt nunmehr zu den beati possidentes, den glücklichen Besitzern des rechten Glaubens. In der Weise des Habens zu glauben verleiht Gewissheit. Solcher Glaube behauptet, letztes, unerschütterliches Wissen zu verkünden, das glaubwürdig ist, weil die Macht derjenigen, die den Glauben verkünden und schützen, unerschütterlich erscheint. Und wer wollte nicht Gewissheit, wenn es dazu nicht mehr bedarf als des Verzichts auf die eigene Unabhängigkeit?

Gott, ursprünglich ein Symbol für den höchsten Wert, den wir in unserem Innern erfahren können, wird in der Existenzweise des Habens zu einem Idol. Das bedeutet im Sinne der Propheten, ein von Menschen gemachtes Ding, auf das der Mensch seine eigenen Kräfte projiziert und sich selbst dadurch schwächt. Er unterwirft sich also seiner eigenen Schöpfung und erfährt sich selbst durch die Unterwerfung in einer entfremdeten Form. Ich kann das Idol haben, weil es ein Ding ist, doch auf Grund meiner Unterwerfung hat es gleichzeitig mich. [II-303]

Sobald Gott zum Idol geworden ist, haben seine angeblichen Eigenschaften so wenig mit der persönlichen Erfahrung zu tun wie entfremdete politische Doktrinen. Das Idol mag als Gott der Barmherzigkeit gepriesen werden, dennoch wird jede Grausamkeit in seinem Namen verübt, so wie der entfremdete Glaube an die menschliche Solidarität die unmenschlichsten Taten nicht einmal in Frage stellt. In der Existenzweise des Habens ist der Glaube eine Krücke für alle jene, die Gewissheit wünschen, die einen Sinn im Leben finden wollen, ohne den Mut zu haben, selbst danach zu suchen.

In der Existenzweise des Seins ist Glaube ein völlig anderes Phänomen. Kann der Mensch ohne Glauben leben? Muss der Säugling nicht an die Mutterbrust glauben? Müssen wir nicht alle an unsere Mitmenschen glauben, an unsere Liebsten und an uns selbst? Können wir ohne Glauben an die Gültigkeit von Normen für unser Leben existieren? Ohne Glauben wird der Mensch in der Tat unfruchtbar, hoffnungslos und bis ins Innerste seines Wesens verängstigt.

Glaube in der Existenzweise des Seins ist nicht in erster Linie ein Glaube an bestimmte Ideen (obwohl er auch das sein kann), sondern eine innere Orientierung, eine Einstellung. Es wäre besser zu sagen, man sei im Glauben, als man habe Glauben. (Die theologische Unterscheidung zwischen fides quae creditur und fides qua creditur spiegelt eine ähnliche Unterscheidung zwischen Glaube als Inhalt und Glaube als Akt.) Man kann an sich selbst und an andere glauben, der religiöse Mensch kann an Gott glauben. Der Gott des Alten Testaments ist zunächst eine Negation von Idolen, von Göttern, die man haben kann. Der Begriff Gott, wiewohl in Analogie zu einem orientalischen König konzipiert, transzendiert sich selbst von Anfang an. Gott darf keinen Namen haben, kein Abbild darf von ihm gemacht werden. Im weiteren Verlauf der jüdischen und christlichen Entwicklung wird der Versuch unternommen, die vollständige Entidolisierung Gottes zu erreichen, oder besser gesagt, die Gefahr der Idolisierung durch das Postulat zu bannen, dass nicht einmal eine Aussage über die Eigenschaften Gottes gemacht werden darf. Oder der sehr radikale Versuch in der christlichen Mystik – von Pseudo-Dionysios Areopagita bis hin zum unbekannten Verfasser der Wolke des Nichtwissens und zu Meister Eckhart –, wo der Gottesbegriff auf den des Einen, der „Gottheit“ (des Nichts – no-thing) hinausläuft und hiermit Anschauungen folgt, wie sie in den Veden und im neuplatonischen Denken ausgedrückt sind. Dieser Glaube an Gott ist verbürgt durch die innere Erfahrung der göttlichen Eigenschaften des eigenen Selbst, er ist ein ständiger, aktiver Prozess der Selbsterschaffung, oder, wie Meister Eckhart sagt, Christus werde ewig in uns selbst geboren.

Auch der Glaube an mich selbst, an den anderen, an die Menschheit, an die Fähigkeit des Menschen, wahrhaft menschlich zu werden, impliziert Gewissheit – aber eine Gewissheit, die auf meiner eigenen Erfahrung beruht und nicht auf meiner Unterwerfung unter eine Autorität, die mir einen bestimmten Glauben vorschreibt. Es ist die Gewissheit einer Wahrheit, die nicht durch rational zwingende Evidenz bewiesen werden kann, von der ich aber auf Grund der Evidenz meiner subjektiven Erfahrung überzeugt bin. (Im Hebräischen ist das Wort für Glaube emuna, was „Gewissheit“ heißt; unser Amen heißt „gewiss“.) Wenn ich der Integrität eines Menschen gewiss bin, könnte ich [II-304] diese doch nicht bis zu seinem letzten Tag „beweisen“, und strenggenommen schließt selbst die Tatsache, dass er seine Integrität bis zu seinem Tod bewahrte, vom positivistischen Standpunkt nicht aus, dass er sie verletzt hätte, hätte er länger gelebt. Meine Gewissheit beruht auf meiner gründlichen Kenntnis des anderen und darauf, dass ich selbst Liebe und Integrität erlebt habe. Diese Art von Wissen hängt davon ab, wie weit man sein eigenes Ich aus dem Spiel lassen kann und ob man den anderen in seinem So-Sein sehen und die Struktur seiner inneren Kräfte erkennen kann, ob man ihn in seiner Individualität und gleichzeitig als Teil der gesamten Menschheit sehen kann. Dann weiß man, was er tun und was er nicht tun kann und wird. Damit meine ich natürlich nicht, dass man das gesamte künftige Verhalten voraussagen kann, wohl aber lassen sich Grundlinien seines Verhaltens erkennen, die in Charakterzügen wurzeln, wie z.B. Integrität und Verantwortungsbewusstsein. Dieses Vertrauen beruht auf Fakten und ist somit rational, doch diese Fakten sind nicht mit den Methoden der konventionellen positivistischen Psychologie feststellbar oder „beweisbar“. Nur ich selbst kann sie, kraft meiner eigenen Lebendigkeit, „registrieren“.

Lieben

Auch Lieben hat, je nachdem, ob davon in der Weise des Habens oder der des Seins die Rede ist, zwei Bedeutungen.

Kann man Liebe haben? Wenn man das könnte, wäre Liebe ein Ding, eine Substanz, mithin etwas, das man haben und besitzen kann. Die Wahrheit ist, dass es kein solches Ding wie „Liebe“ gibt. „Liebe“ ist eine Abstraktion; vielleicht eine Göttin oder ein fremdes Wesen, obwohl niemand je diese Göttin gesehen hat. In Wirklichkeit gibt es nur den Akt des Liebens. Lieben ist ein produktives Tätigsein, es impliziert, für jemanden (oder etwas) zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen – sei es ein Mensch, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es bedeutet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwecken, seine (ihre) Lebendigkeit zu steigern. Es ist ein Prozess, der einen erneuert und wachsen lässt.

Wird Liebe aber in der Weise des Habens erlebt, so bedeutet dies, das Objekt, das man „liebt“, einzuschränken, gefangen zu nehmen oder zu kontrollieren. Eine solche Liebe ist erwürgend, lähmend, erstickend, tötend statt belebend. Was als Liebe bezeichnet wird, ist meist ein Missbrauch des Wortes, um zu verschleiern, dass in Wirklichkeit nicht geliebt wird. Es ist eine immer noch offene Frage, wie viele Eltern ihre Kinder lieben. Die Berichte über Grausamkeiten gegenüber Kindern, von physischen bis zu psychischen Quälereien, von Vernachlässigung und purer Besitzgier bis hin zum Sadismus, die wir in Bezug auf die letzten zwei Jahrtausende westlicher Geschichte besitzen[16], sind so schockierend, dass man geneigt ist zu glauben, liebevolle Eltern seien die Ausnahme, nicht die Regel.

Für die Ehe gilt das gleiche: Ob sie auf Liebe beruht oder, wie traditionelle Ehen, auf gesellschaftlichen Konventionen und Sitte – Paare, die einander wirklich lieben, scheinen die Ausnahme zu sein. Gesellschaftliche Zweckdienlichkeit, Tradition, beiderseitiges ökonomisches Interesse, gemeinsame Fürsorge für Kinder, gegenseitige [II-305] Abhängigkeit oder Furcht, gegenseitiger Hass werden bewusst als „Liebe“ erlebt – bis zu dem Augenblick, wenn einer oder beide erkennen, dass sie einander nicht lieben und nie liebten. Heute kann man in dieser Hinsicht einen gewissen Fortschritt feststellen: Die Menschen sind nüchterner und realistischer geworden, und viele verwechseln sexuelle Anziehung nicht mehr mit Liebe, noch halten sie eine freundschaftliche, aber distanzierte Teambeziehung für ein Äquivalent von Liebe. Diese neue Einstellung hat zu größerer Ehrlichkeit – und zu häufigerem Partnerwechsel – geführt. Sie hat nicht unbedingt dazu geführt, dass man nun häufiger auf Menschen trifft, die sich lieben, die neuen Partner lieben sich möglicherweise genauso wenig wie die alten.

Der Wandel vom Beginn des „Verliebtseins“ bis zur Illusion, Liebe zu „haben“, kann oft an konkreten Details anhand der Geschichte von Paaren verfolgt werden, die sich verliebt haben. (In Die Kunst des Liebens (1956a), GA IX, S. 441 f.) habe ich darauf hingewiesen, dass der Begriff „falling in love“ ein Widerspruch in sich selbst ist. Da Lieben ein produktives Tätigsein ist, kann man nur in Liebe stehen oder gehen, aber nicht „fallen“, da dies Passivität bedeutete.) In der Zeit der Werbung ist sich einer des anderen noch nicht sicher; die Liebenden suchen einander zu gewinnen. Sie sind lebendig, attraktiv, interessant und sogar schön – da Lebendigkeit ein Gesicht immer verschönt. Keiner hat den anderen schon, also wendet jeder seine Energie darauf, zu sein, das heißt zu geben und zu stimulieren.

Häufig ändert sich mit der Eheschließung die Situation grundlegend. Der Ehevertrag gibt beiden das exklusive Besitzrecht auf den Körper, die Gefühle, die Zuwendung des anderen. Niemand muss mehr gewonnen werden, denn die Liebe ist zu etwas geworden, das man hat, zu einem Besitz.

Die beiden lassen in ihrem Bemühen nach, liebenswert zu sein und Liebe zu erwecken, sie werden langweilig, und ihre Schönheit schwindet. Sie sind enttäuscht und ratlos. Sind sie nicht mehr dieselben? Haben sie von Anfang an einen Fehler gemacht? Gewöhnlich suchen sie die Ursache der Veränderung beim anderen und fühlen sich betrogen. Was sie nicht begreifen, ist, dass sie beide nicht mehr die Menschen sind, die sie waren, als sie sich ineinander verliebten; dass der Irrtum, man könne Liebe haben, sie dazu verleitete, aufzuhören zu lieben. Sie arrangieren sich nun auf dieser Ebene und statt einander zu lieben, besitzen sie gemeinsam, was sie haben: Geld, gesellschaftliche Stellung, ein Zuhause, Kinder. Die mit Liebe beginnende Ehe verwandelt sich so in einigen Fällen in eine freundschaftliche Eigentümergemeinschaft, eine Körperschaft, in der zwei Egoismen sich vereinen: die „Familie“. In anderen Fällen sehnen sich die Beteiligten weiterhin nach dem Wiedererwachen ihrer früheren Gefühle, und der eine oder andere gibt sich der Illusion hin, dass ein neuer Partner seine Sehnsucht erfüllen werde. Sie glauben, nichts weiter als Liebe zu wollen. Aber Liebe ist für sie ein Idol, eine Göttin, der sie sich unterwerfen wollen, nicht ein Ausdruck ihres Seins. Sie scheitern zwangsläufig, denn „Liebe ist ein Kind der Freiheit“ (wie es in einem alten französischen Lied heißt), und die Anbeter der Göttin Liebe versinken schließlich in solche Passivität, dass sie langweilig werden und verlieren, was von früherer Anziehungskraft noch übrig war.

Diese Feststellungen schließen nicht aus, dass die Ehe der beste Weg für [II-306] zwei Menschen sein kann, die einander lieben. Die Problematik liegt nicht in der Ehe als solcher, sondern in der besitzorientierten Charakterstruktur beider Partner und, letzten Endes, der Gesellschaft, in der sie leben. Die Befürworter moderner Formen des Zusammenlebens wie Gruppenehe, Partnertausch, Gruppensex etc. versuchen, soweit ich das sehen kann, nur, ihre Schwierigkeiten in der Liebe zu umgehen, indem sie die Langeweile mit ständig neuen Stimuli bekämpfen und die Zahl der Partner erhöhen, statt einen wirklich zu lieben.[17]

3 Haben und Sein im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts

Altes Testament

Eines der Hauptthemen des Alten Testaments ist: Verlasse, was du hast, befreie dich von allen Fesseln, sei!

Die Geschichte der hebräischen Stämme beginnt mit der Aufforderung an den ersten hebräischen Helden Abraham, sein Land und seine Sippe aufzugeben. „Zieh weg aus deinem Land, aus deiner Heimat und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12,1). Er soll aufgeben, was er hat – Grund und Boden und Familie – und in das Unbekannte hinausziehen. Doch seine Nachkommen besiedeln ein neues Gebiet und ein neuer „Sippengeist“ entwickelt sich. Dieser Prozess führt zu schwerer Knechtschaft. Gerade weil sie in Ägypten reich und mächtig werden, geraten sie in Sklaverei. Sie verlieren die Vision des einen Gottes, des Gottes ihrer nomadischen Vorfahren, und beten Götzen an; die Götter der Reichen werden später zu ihren Herren.

Der zweite Held ist Moses. Er erhält von Gott den Auftrag, sein Volk zu befreien, es aus dem Lande zu führen, das seine Heimat geworden war (wenn auch zuletzt eine Heimat für Sklaven) und in die Wüste zu gehen, um „ein Fest zu feiern“. Widerwillig und voll böser Ahnungen folgen die Hebräer ihrem Führer Moses – in die Wüste.

Die Wüste ist das Schlüsselsymbol in dieser Befreiung. Sie ist kein Zuhause, sie hat keine Städte, sie hat keine Reichtümer, sie ist das Land der Nomaden, die haben, was sie brauchen, das heißt nur das Lebensnotwendige, keine Besitztümer. Historisch gesehen ist der Bericht über den Exodus mit nomadischen Traditionen verwoben; es ist gut möglich, dass diese nomadischen Traditionen die Tendenz gegen jedes nichtfunktionale Eigentum und die Entscheidung für das Leben in der Wüste als Vorbereitung für ein Leben in Freiheit beeinflusst haben. Aber diese historischen Faktoren unterstreichen nur die Bedeutung der Wüste als einem Symbol des freien, durch keinen Besitz beschwerten Lebens. In der Wüste haben einige der wichtigsten Symbole jüdischer Feste ihren Ursprung. Das ungesäuerte Brot ist das Brot derjenigen, die rasch aufbrechen müssen, es ist das Brot der Wanderer. Die Suka (die Laubhütte) ist die Heimstatt des Wanderers; sie entspricht dem Zelt, ist eine schnell errichtete und [II-308] schnell abgebrochene Behausung. Im Talmud wird sie als „provisorische Heimstatt“ definiert, zum Unterschied von der „festen Heimstatt“, die man besitzt.

Die Hebräer sehnen sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurück, nach der festen Bleibe, dem schlechten, aber garantierten Essen, den sichtbaren Götzen. Sie fürchten die Ungewissheit des besitzlosen Wüstenlebens. Sie sagen: „Wären wir doch in Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und genug Brot zu essen hatten. Ihr habt uns nur deshalb in diese Wüste geführt, um alle, die hier versammelt sind, am Hunger sterben zu lassen“ (Ex 16,3). Wie so häufig in der Geschichte der Befreiung erbarmt sich Gott der moralischen Schwäche der Menschen. Er verspricht, sie zu ernähren, am Morgen mit „Brot“ und am Abend mit Wachteln. Er fügt jedoch zwei wichtige Anweisungen hinzu: Jeder solle sich entsprechend seinen Bedürfnissen nehmen: „Die Israeliten taten es und sammelten ein, der eine viel, der andere wenig. Als sie die Gomer zählten, hatte keiner, der viel gesammelt hatte, zu viel, und keiner, der wenig gesammelt hatte, zu wenig. Jeder hatte so viel gesammelt, wie er zum Essen brauchte“ (Ex 16,17 f.).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2014
ISBN (ePUB)
9783959120029
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Erich Fromm Gesellschaft Haben oder Sein Autorität Wissen Glauben Lieben Ökonomie Psychologie Sozialpsychologie Solidarität Gier Lebenskunst Kapitalismus
Zurück

Titel: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft