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Die Kunst des Liebens

The Art of Loving. An Inquiry into the Nature of Love

©2014 81 Seiten

Zusammenfassung

Die „Kunst des Liebens“ ist das meistgelesene Werk Erich Fromms und weltweit mit ca. 25 Millionen Exemplaren das bestverkaufte Sachbuch aller Zeiten. Seine Botschaft: Dies ist keine Anleitung zur Kunst des Liebens. Vielmehr geht es um die aktive Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, um Liebe zum Nächsten, Demut, Mut, Glaube und Disziplin. Nur auf Basis dieser Entwicklung ist es möglich, wahrhaft zu lieben.
Da diese Eigenschaften in unserer Gesellschaft selten geworden sind, bezweifelt Fromm, dass wir zur Liebe in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit heute noch fähig sind. Und so versteht er diese Schrift zugleich als eine Aufklärung über Schwierigkeiten des Liebens und wie diese überwunden werden können.
Fromm spricht in diesem Zusammenhang nicht nur über die Liebe zwischen Paaren, sondern auch über Elternliebe, Nächstenliebe, erotische Liebe, Selbstliebe und die Liebe zu Gott.
„Der einzige Weg zu ganzer Erkenntnis ist der Akt der Liebe: Dieser Akt transzendiert alles Denken und alle Worte. Es ist der kühne Sprung in das Erleben von Einheit.“ (Erich Fromm)
Aus dem Inhalt:
• Ist Lieben eine Kunst?
• Die Theorie der Liebe
• Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft
• Die Praxis der Liebe

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wer nichts weiß, liebt nichts.
Wer nichts tun kann, versteht nichts.
Wer nichts versteht, ist nichts wert.
Aber wer versteht,
der liebt, bemerkt und sieht auch...
Je mehr Erkenntnis einem Ding innewohnt,
desto größer ist die Liebe...
Wer meint, alle Früchte
würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif,
versteht nichts von den Trauben.
Paracelsus

Vorwort

Man darf von diesem Buch[1] keine simple Anleitung zur Kunst des Liebens erwarten; tut man es doch, wird man enttäuscht sein. Das Buch möchte ganz im Gegenteil zeigen, dass die Liebe kein Gefühl ist, dem sich jeder ohne Rücksicht auf den Grad der eigenen Reife nur einfach hinzugeben braucht. Ich möchte den Leser davon überzeugen, dass alle seine Versuche zu lieben fehlschlagen müssen, sofern er nicht aktiv[2] versucht, seine ganze Persönlichkeit zu entwickeln, und es ihm so gelingt, produktiv zu werden; ich möchte zeigen, dass es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann. In einer Kultur, in der diese Eigenschaften rar geworden sind, wird die Fähigkeit zu lieben nur selten voll entwickelt. Jeder mag sich selbst die Frage stellen, wie viele wahrhaft liebende Menschen er kennt.

Dass die Aufgabe schwer ist, sollte uns jedoch nicht davon abhalten zu versuchen, uns die Schwierigkeiten klarzumachen und die Voraussetzungen, die man braucht, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Um die Sache nicht zu komplizieren, habe ich mich bemüht, in einer einfachen, klaren Sprache zu schreiben. Aus eben diesem Grunde habe ich auch möglichst wenig auf Fachliteratur verwiesen.

Für ein weiteres Problem habe ich allerdings keine voll befriedigende Lösung gefunden. Ich konnte es nicht immer vermeiden, Gedanken aus meinen früheren Veröffentlichungen zu wiederholen. Leser, die mit meinen Büchern, insbesondere mit Die Furcht vor der Freiheit (1941a), Psychoanalyse und Ethik (1947a) und Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) vertraut sind, werden hier viele Gedanken wiederfinden. Trotzdem ist das vorliegende Buch keine Wiederholung. Es enthält viele neue Gedanken, und natürlich gewinnen Überlegungen, auch wenn sie bereits in anderen Zusammenhängen angestellt wurden, dadurch, dass sie sich alle auf ein einziges Thema – die Kunst des Liebens – konzentrieren, neue Perspektiven.

Erich Fromm

1  Ist Lieben eine Kunst?

Ist Lieben eine Kunst? Wenn es das ist, dann wird von dem, der diese Kunst beherrschen will, verlangt, dass er etwas weiß und dass er keine Mühe scheut. Oder ist die Liebe nur eine angenehme Empfindung, die man rein zufällig erfährt, etwas, was einem sozusagen „in den Schoß fällt“, wenn man Glück hat? Dieses kleine Buch geht davon aus, dass Lieben eine Kunst ist, obwohl die meisten Menschen heute zweifellos das Letztere annehmen.

Nicht als ob man meinte, die Liebe sei nicht wichtig. Die Menschen hungern geradezu danach; sie sehen sich unzählige Filme an, die von glücklichen oder unglücklichen Liebesgeschichten handeln, sie hören sich Hunderte von kitschigen Liebesliedern an – aber kaum einer nimmt an, dass man etwas tun muss, wenn man es lernen will zu lieben.

Diese merkwürdige Einstellung beruht auf verschiedenen Voraussetzungen, die einzeln oder auch gemeinsam dazu beitragen, dass sie sich am Leben halten kann. Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Daher geht es für sie nur darum, wie man es erreicht, geliebt zu werden, wie man liebenswert wird. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schlagen sie verschiedene Wege ein. Der eine, besonders von Männern verfolgte Weg ist der, so erfolgreich, so mächtig und reich zu sein, wie es die eigene gesellschaftliche Stellung möglich macht. Ein anderer, besonders von Frauen bevorzugter Weg ist der, durch Kosmetik, schöne Kleider und dergleichen möglichst attraktiv zu sein. Andere Mittel, die sowohl von Männern als auch von Frauen angewandt werden, sind angenehme Manieren, interessante Unterhaltung, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Gutmütigkeit. Viele dieser Mittel, sich liebenswert zu machen, sind die gleichen wie die, deren man sich bedient, um Erfolg zu haben, um „Freunde zu gewinnen“. Tatsächlich verstehen ja die meisten Menschen unseres Kulturkreises unter Liebenswürdigkeit eine Mischung aus Beliebtheit und Sex-Appeal.

Hinter der Einstellung, dass man nichts lernen müsse, um lieben zu können, steckt zweitens die Annahme, es gehe bei dem Problem der Liebe um ein Objekt und nicht um eine Fähigkeit. Viele Menschen meinen, zu lieben sei ganz einfach, schwierig sei [IX-441] es dagegen, den richtigen Partner zu finden, den man selbst lieben könne und von dem man geliebt werde. Diese Einstellung hat mehrere Ursachen, die mit der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft zusammenhängen. Eine Ursache ist die starke Veränderung, die im zwanzigsten Jahrhundert bezüglich der Wahl des „Liebesobjektes“ eingetreten ist. Im Viktorianischen Zeitalter war die Liebe – wie in vielen traditionellen Kulturen – kein spontanes persönliches Erlebnis, das hinterher vielleicht zu einer Heirat führte. Ganz im Gegenteil: Ein Heiratsvertrag wurde entweder zwischen den beiden Familien oder von einem Heiratsvermittler oder auch ohne eine derartige Vermittlung abgeschlossen; der Abschluss erfolgte aufgrund gesellschaftlicher Erwägungen unter der Annahme, dass sich die Liebe nach der Heirat schon einstellen werde. In den letzten Generationen ist nun aber die Vorstellung von der romantischen Liebe in der westlichen Welt fast Allgemeingut geworden. Wenn in den Vereinigten Staaten auch Erwägungen herkömmlicher Art nicht völlig fehlen, so befinden sich doch die meisten auf der Suche nach der „romantischen Liebe“, nach einer persönlichen Liebeserfahrung, die dann zur Ehe führen sollte. Diese neue Auffassung von der Freiheit in der Liebe musste notwendigerweise die Bedeutung des Objektes der Liebe – im Gegensatz zu ihrer Funktion – noch verstärken.

In engem Zusammenhang hiermit steht ein weiterer charakteristischer Zug unserer heutigen Kultur. Unsere gesamte Kultur gründet sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. Schaufenster anzusehen und sich alles, was man sich leisten kann, gegen bares Geld oder auf Raten kaufen zu können – in diesem Nervenkitzel liegt das Glück des modernen Menschen. Er (oder sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an. Der Mann ist hinter einem attraktiven jungen Mädchen und die Frau ist hinter einem attraktiven Mann her. Dabei wird unter „attraktiv“ ein Bündel netter Eigenschaften verstanden, die gerade beliebt und auf dem Personalmarkt gefragt sind. Was einen Menschen speziell attraktiv macht, hängt von der jeweiligen Mode ab – und zwar sowohl in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht. In den zwanziger Jahren galt ein junges Mädchen, das robust und sexy war und das zu trinken und zu rauchen wusste, als attraktiv; heute verlangt die Mode mehr Zurückhaltung und Häuslichkeit. Ende des neunzehnten und Anfang unseres Jahrhunderts musste der Mann ehrgeizig und aggressiv sein – heute muss er sozial und tolerant eingestellt sein, um als attraktiv zu gelten. Jedenfalls entwickelt sich das Gefühl der Verliebtheit gewöhnlich nur in Bezug auf solche menschlichen Werte, für die man selbst entsprechende Tauschobjekte zur Verfügung hat. Man will ein Geschäft machen; der erwünschte Gegenstand sollte vom Standpunkt seines gesellschaftlichen Wertes aus begehrenswert sein und gleichzeitig auch mich aufgrund meiner offenen und verborgenen Pluspunkte und Möglichkeiten begehrenswert finden. So verlieben sich zwei Menschen ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist. Genau wie beim Erwerb eines Grundstücks spielen auch bei diesem Geschäft oft noch entwicklungsfähige, verborgene Möglichkeiten eine beträchtliche Rolle. In einer Kultur, in der die Marketing-Orientierung[3] vorherrscht, in welcher der materielle Erfolg der höchste Wert ist, darf man sich kaum darüber wundern, dass sich auch die menschlichen Liebesbeziehungen nach den gleichen [IX-442] Tauschmethoden vollziehen, wie sie auf dem Waren- und Arbeitsmarkt herrschen.

Der dritte Irrtum, der zu der Annahme führt, das Lieben müsste nicht gelernt werden, beruht darauf, dass man das Anfangserlebnis, „sich zu verlieben“, mit dem permanenten Zustand „zu lieben“ verwechselt. Wenn zwei Menschen, die einander fremd waren – wie wir uns das ja alle sind –, plötzlich die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen, wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten, erregendsten Erfahrungen im Leben. Besonders herrlich und wundervoll ist er für Menschen, die bisher abgesondert, isoliert und ohne Liebe gelebt haben. Dieses Wunder der plötzlichen innigen Vertrautheit wird oft dadurch erleichtert, dass es mit sexueller Anziehung und sexueller Vereinigung Hand in Hand geht oder durch sie ausgelöst wird. Freilich ist diese Art Liebe ihrem Wesen nach nicht von Dauer. Die beiden Menschen lernen einander immer besser kennen, und dabei verliert ihre Vertrautheit immer mehr den geheimnisvollen Charakter, bis ihr Streit, ihre Enttäuschungen, ihre gegenseitige Langeweile die anfängliche Begeisterung getötet haben. Anfangs freilich wissen sie das alles nicht und meinen, heftig verliebt und „verrückt“ nacheinander zu sein, sei der Beweis für die Intensität ihrer Liebe, während es vielleicht nur beweist, wie einsam sie vorher waren.

Diese Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht noch immer vor, trotz der geradezu überwältigenden Gegenbeweise. Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so ungeheuren Hoffnungen und Erwartungen begonnen wurde und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe. Wäre das auf irgendeinem anderen Gebiet der Fall, so würde man alles daransetzen, die Gründe für den Fehlschlag herauszufinden und in Erfahrung zu bringen, wie man es besser machen könnte – oder man würde es aufgeben. Da letzteres im Falle der Liebe unmöglich ist, scheint es doch nur einen richtigen Weg zu geben, um ein Scheitern zu vermeiden: die Ursachen für dieses Scheitern herauszufinden und außerdem zu untersuchen, was „lieben“ eigentlich bedeutet.

Der erste Schritt auf diesem Wege ist, sich klarzumachen, dass Lieben eine Kunst[4] ist, genauso wie Leben eine Kunst ist; wenn wir lernen wollen zu lieben, müssen wir genauso vorgehen, wie wir das tun würden, wenn wir irgendeine andere Kunst, zum Beispiel Musik, Malerei, das Tischlerhandwerk oder die Kunst der Medizin oder der Technik lernen wollten.

Welches sind die notwendigen Schritte, um eine Kunst zu erlernen?

Man kann den Lernprozess in zwei Teile aufteilen: Man muss einerseits die Theorie und andererseits die Praxis beherrschen. Will ich die Kunst der Medizin erlernen, so muss ich zunächst die Fakten über den menschlichen Körper und über die verschiedenen Krankheiten wissen. Wenn ich mir diese theoretischen Kenntnisse erworben habe, bin ich aber in der Kunst der Medizin noch keineswegs kompetent. Ich werde erst nach einer langen Praxis zu einem Meister in dieser Kunst, erst dann, wenn schließlich die Ergebnisse meines theoretischen Wissens und die Ergebnisse meiner praktischen Tätigkeit miteinander verschmelzen und ich zur Intuition gelange, die das Wesen der Meisterschaft in jeder Kunst ausmacht. Aber abgesehen von Theorie und [IX-443] Praxis muss noch ein dritter Faktor gegeben sein, wenn wir Meister in einer Kunst werden wollen: Die Meisterschaft in dieser Kunst muss uns mehr als alles andere am Herzen liegen; nichts auf der Welt darf uns wichtiger sein als diese Kunst. Das gilt für die Musik wie für die Medizin und die Tischlerei – und auch für die Liebe. Und hier haben wir vielleicht auch die Antwort auf unsere Frage, weshalb die Menschen unseres Kulturkreises diese Kunst nur so selten zu lernen versuchen, obwohl sie doch ganz offensichtlich daran scheitern: Trotz unserer tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir doch fast alles andere für wichtiger als diese: Erfolg, Prestige, Geld und Macht. Unsere gesamte Energie verwenden wir darauf zu lernen, wie wir diese Ziele erreichen, und wir bemühen uns so gut wie überhaupt nicht darum, die Kunst des Liebens zu erlernen.

Halten wir vielleicht nur das für der Mühe wert, womit wir Geld verdienen oder was unser Prestige erhöht, und ist die Liebe, die „nur“ unserer Seele nützt und die im modernen Sinne keinen Gewinn abwirft, ein Luxus, für den wir nicht viel Energie aufbringen dürfen? Wie dem auch sei, wir wollen uns im Folgenden mit der Kunst des Liebens beschäftigen und wollen dabei folgendermaßen vorgehen: Zunächst soll die Theorie der Liebe erörtert werden (was den größten Teil dieses Buches ausmachen wird), und an zweiter Stelle wollen wir uns mit der Praxis der Liebe beschäftigen – wenn sich auch hier (wie auf allen anderen Gebieten) nur wenig über die Praxis sagen lässt.

2  Die Theorie der Liebe

a) Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz

Jede Theorie der Liebe muss mit einer Theorie des Menschen, der menschlichen Existenz beginnen. Wenn wir die Liebe – oder, besser gesagt, etwas der Liebe Ähnliches – auch bei Tieren finden, so sind doch deren Liebesbeziehungen hauptsächlich ein Bestandteil ihres Instinktapparats, während beim Menschen nur noch Überreste seiner Instinktausstattung zu beobachten sind. Das Wesentliche an der Existenz des Menschen ist ja, dass er sich über das Tierreich und seine instinktive Anpassung erhoben hat, dass er die Natur transzendiert hat, wenn er sie auch nie ganz verlässt. Er ist ein Teil von ihr und kann doch nicht in sie zurückkehren, nachdem er sich einmal von ihr losgerissen hat. Nachdem er einmal aus dem Paradies – dem Zustand des ursprünglichen Einsseins mit der Natur – vertrieben ist, verwehren ihm die Cherubim mit flammendem Schwert den Weg, wenn er je versuchen sollte, dorthin zurückzukehren. Der Mensch kann nur vorwärtsschreiten, indem er seine Vernunft entwickelt, indem er eine neue, eine menschliche Harmonie findet anstelle der vormenschlichen Harmonie, die unwiederbringlich verloren ist.

Mit der Geburt (der menschlichen Rasse wie auch des einzelnen Menschen) wird der Mensch aus einer Situation, die so unbedingt festgelegt war wie die Instinkte, in eine Situation hineingeschleudert, die nicht festgelegt, sondern ungewiss und offen ist. Nur in Bezug auf die Vergangenheit herrscht Gewissheit, und für die Zukunft ist nur der Tod gewiss.

Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet; er ist Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Er besitzt ein Bewusstsein seiner selbst, seiner Mitmenschen, seiner Vergangenheit und der Möglichkeiten seiner Zukunft. Dieses Bewusstsein seiner selbst als einer eigenständigen Größe, das Gewahrwerden dessen, dass er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, dass er ohne seinen Willen geboren wurde und gegen seinen Willen sterben wird, dass er vor denen, die er liebt, sterben wird (oder sie vor ihm), dass er allein und abgesondert und den Kräften der Natur und der Gesellschaft hilflos ausgeliefert ist – all das macht seine abgesonderte, einsame Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis. Er würde dem Wahnsinn verfallen, wenn er sich nicht aus diesem Gefängnis [IX-445] befreien könnte – wenn er nicht in irgendeiner Form seine Hände nach anderen Menschen ausstrecken und sich mit der Welt außerhalb seiner selbst vereinigen könnte.

Die Erfahrung dieses Abgetrenntseins erregt Angst, ja sie ist tatsächlich die Quelle aller Angst. Abgetrennt sein heißt abgeschnitten sein und ohne jede Möglichkeit, die eigenen Kräfte zu nutzen. Daher heißt abgetrennt sein hilflos sein, unfähig sein, die Welt – Dinge wie Menschen – mit eigenen Kräften zu erfassen; es heißt, dass die Welt über mich herfallen kann, ohne dass ich in der Lage bin, darauf zu reagieren. Daher ist das Abgetrenntsein eine Quelle intensiver Angst. Darüber hinaus erregt es Scham und Schuldgefühle. Diese Erfahrung von Schuld und Scham im Abgetrenntsein kommt in der biblischen Geschichte von Adam und Eva zum Ausdruck. Nachdem Adam und Eva vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ gegessen haben, nachdem sie ungehorsam waren (Gut und Böse gibt es nur, wenn die Freiheit zum Ungehorsam besteht), nachdem sie dadurch menschlich wurden, dass sie sich von der ursprünglichen animalischen Harmonie mit der Natur emanzipierten, also nach ihrer Geburt als menschliche Wesen, erkannten sie, „dass sie nackt waren“ (Gen 3,7) und schämten sich. Ist tatsächlich anzunehmen, dass ein so alter und elementarer Mythos wie dieser von der prüden Moral des neunzehnten Jahrhunderts erfüllt ist und dass wir darauf hingewiesen werden sollen, dass sie sich genierten, weil ihre Genitalien sichtbar waren? Das ist doch kaum denkbar, und wenn wir die Geschichte im viktorianischen Sinn verstehen, entgeht uns das, worauf es doch offenbar ankommt: Nachdem Mann und Frau sich ihrer selbst und ihres Partners bewusst geworden sind, sind sie sich auch ihrer Getrenntheit und Unterschiedlichkeit bewusst, insofern sie verschiedenen Geschlechts sind. Sie erkennen zwar ihre Getrenntheit, bleiben sich aber fremd, weil sie noch nicht gelernt haben, sich zu lieben. (Dies geht auch sehr klar daraus hervor, dass Adam sich verteidigt, indem er Eva anklagt, anstatt dass er versucht, sie zu verteidigen.) Das Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.

Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen. Ein absolutes Scheitern bei diesem Versuch führt zum Wahnsinn, weil das panische Entsetzen vor einer völligen Isolation nur dadurch zu überwinden ist, dass man sich so völlig von der Außenwelt zurückzieht, dass das Gefühl des Abgetrenntseins verschwindet, und zwar weil die Außenwelt, von der man abgetrennt ist, verschwunden ist.

Der Mensch sieht sich – zu allen Zeiten und in allen Kulturen – vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnes Leben transzendieren und das Einswerden[5] erreichen kann. Die Frage stellt sich dem Primitiven in seiner Höhle wie dem Nomaden, der seine Herde hütet, dem ägyptischen Bauern, dem phönizischen Händler, dem römischen Soldaten, dem mittelalterlichen Mönch, dem japanischen Samurai, dem modernen Büroangestellten und dem Fabrikarbeiter auf gleiche Weise. Es ist immer die gleiche Frage, denn sie entspringt dem gleichen Boden: der menschlichen Situation, den Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Antwort jedoch ist nicht immer die gleiche. Die Frage kann mit der [IX-446] Verehrung von Tieren, mit Menschenopfern oder militärischen Eroberungen, mit einem üppigen Lebenswandel, mit asketischem Verzicht, mit besessenem Arbeitseifer, mit künstlerischem Schaffen, mit der Liebe zu Gott und mit der Liebe zum Menschen beantwortet werden. Es gibt zwar viele Antworten – sie machen zusammen die Geschichte der Menschheit aus –, aber ihre Zahl ist trotzdem nicht unendlich. Im Gegenteil entdeckt man, wenn man kleinere Unterschiede außer acht lässt, welche mehr an der Peripherie als im Zentrum liegen, dass nur eine begrenzte Zahl von Antworten gegeben worden sind und vom Menschen in seinen verschiedenen Kulturen auch nur gegeben werden konnten. Die Geschichte der Religion und der Philosophie ist die Geschichte dieser Antworten in ihrer Vielfalt wie auch in ihrer zahlenmäßigen Begrenzung.

Bis zu einem gewissen Grade hängen die Antworten vom Grad der Individuation ab, die der Mensch jeweils erreicht hat. Beim Kind ist das Ich noch wenig entwickelt. Es fühlt sich noch eins mit seiner Mutter und hat nicht das Gefühl des Getrenntseins, solange die Mutter in seiner Nähe ist. Sein Gefühl des Alleinseins wird durch die körperliche Gegenwart der Mutter, ihre Brust, ihre Haut aufgehoben. Nur in dem Maße, wie sich beim Kind das Gefühl des Getrenntseins und der Individualität entwickelt, genügt ihm die physische Gegenwart der Mutter nicht mehr, und es hat das Bedürfnis, sein Getrenntsein auf andere Weise zu überwinden.

Ähnlich fühlt sich auch die menschliche Rasse in ihrem Kindheitsstadium noch eins mit der Natur. Die Erde, die Tiere, die Pflanzen sind noch des Menschen Welt. Er identifiziert sich mit den Tieren, was darin zum Ausdruck kommt, dass er Tiermasken trägt und ein Totemtier oder Tiergötter verehrt. Aber je mehr sich die menschliche Rasse aus diesen primären Bindungen löst, umso mehr trennt sie sich von der Welt der Natur, umso intensiver wird ihr Bedürfnis, neue Mittel und Wege zu finden, um dem Getrenntsein zu entrinnen.

Eine Möglichkeit hierzu sind orgiastische Zustände der verschiedensten Art. Es kann sich dabei um autosuggestive Trancezustände handeln, bei denen manchmal Drogen zu Hilfe genommen werden. Viele Rituale primitiver Stämme bieten ein anschauliches Bild dieser Art, das Problem zu lösen. In einem vorübergehenden Zustand der Exaltation verschwindet die Außenwelt und damit auch das Gefühl, von ihr abgesondert zu sein. Werden diese Rituale gemeinsam praktiziert, so kommt das Erlebnis der Vereinigung mit der Gruppe hinzu, was die Wirkung noch erhöht. Eng verwandt mit dieser orgiastischen Lösung ist das sexuelle Erlebnis, das oft mit ihr Hand in Hand geht. Der sexuelle Orgasmus kann einen Zustand herbeiführen, der einem Trancezustand oder der Wirkung gewisser Drogen ähnlich ist. Zu vielen primitiven Ritualen gehören Riten gemeinsamer sexueller Orgien. Es scheint, dass der Mensch nach dem orgiastischen Erlebnis eine Zeitlang weiterleben kann, ohne allzu sehr unter seinem Abgetrenntsein zu leiden. Langsam nimmt dann die Spannung der Angst wieder zu, so dass sie durch die Wiederholung des Rituals wieder gemildert werden muss.

Solange diese orgiastischen Zustände in einem Stamm gemeinsam erlebt werden, erzeugen sie keine Angst und keine Schuldgefühle. Sich so zu verhalten ist richtig und sogar eine Tugend, weil alle es tun und weil es von den Medizinmännern und Priestern gebilligt und sogar verlangt wird; es besteht daher kein Grund für ein schlechtes [IX-447] Gewissen, kein Grund, sich zu schämen. Etwas völlig anderes ist es, wenn ein einzelner sich in einer Kultur, die diese gemeinsamen Riten aufgegeben hat, für eine solche Lösung entscheidet. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit sind die entsprechenden Auswege für den einzelnen in einer nicht-orgiastischen Kultur. Im Gegensatz zu denen, die sich an der gesellschaftlich sanktionierten Lösungsmethode beteiligen, leiden derartige Einzelgänger an Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Sie versuchen zwar, ihrem Abgetrenntsein dadurch zu entrinnen, dass sie ihre Zuflucht zu Alkohol und Rauschgift nehmen, aber wenn das orgiastische Erlebnis vorüber ist, fühlen sie sich nur umso stärker isoliert und immer häufiger und intensiver dazu getrieben. Etwas anderes ist es, wenn jemand seine Zuflucht zum sexuellen Orgasmus nimmt. Bis zu einem gewissen Grade ist dieser eine natürliche und normale Art der Überwindung des Abgetrenntseins und eine Teillösung für das Problem der Isolation. Aber bei vielen, die es nicht fertigbringen, auf andere Weise aus ihrer Abgetrenntheit herauszufinden, übernimmt das Verlangen nach dem sexuellen Orgasmus eine Funktion, die sich nicht allzu sehr vom Alkoholismus und der Drogenabhängigkeit unterscheidet. Er wird zum verzweifelten Versuch, der durch das Abgetrenntsein erzeugten Angst zu entrinnen, und führt zu einem ständig wachsenden Gefühl des Abgetrenntseins, da der ohne Liebe vollzogene Sexualakt höchstens für den Augenblick die Kluft zwischen zwei menschlichen Wesen überbrücken kann.

Alle Formen der orgiastischen Vereinigung besitzen drei Merkmale: Sie sind intensiv, ja sogar gewalttätig; sie erfassen die Gesamtpersönlichkeit, den Geist und den Körper; und sie sind vorübergehend und müssen regelmäßig wiederholt werden.

Genau das Gegenteil gilt für jene Form der Vereinigung, welche bei weitem die häufigste Lösung ist, für die sich der Mensch in der Vergangenheit wie in der Gegenwart entschieden hat: die Vereinigung, die auf der Konformität mit der Gruppe beruht, mit ihren Sitten, Praktiken und Überzeugungen. Auch hier erkennen wir, dass eine beträchtliche Entwicklung stattgefunden hat.

In einer primitiven Gesellschaft ist die Gruppe klein; sie besteht aus jenen Menschen, mit welchen man Blut und Boden gemeinsam hat. In dem Maße, wie sich die Kultur weiterentwickelt, vergrößert sich die Gruppe; sie wird zur Bürgerschaft einer polis, zu den Bürgern eines großen Staates, zu den Mitgliedern einer Kirche. Selbst der ärmste Römer war stolz darauf, von sich sagen zu können: „civis Romanus sum“. Rom und das Römische Reich waren seine Familie, sein Zuhause, seine Welt. Auch in unserer heutigen Gesellschaft des Westens ist die Gemeinschaft mit der Gruppe der am häufigsten eingeschlagene Weg, die Abgetrenntheit zu überwinden. Es ist eine Vereinigung, in der das individuelle Selbst weitgehend aufgeht und bei der man sich zum Ziel setzt, der Herde anzugehören. Wenn ich so bin wie alle anderen, wenn ich keine Gefühle oder Gedanken habe, die mich von ihnen unterscheiden, wenn ich mich der Gruppe in meinen Gewohnheiten, meiner Kleidung und meinen Ideen anpasse, dann bin ich gerettet – gerettet vor der Angst erregenden Erfahrung des Alleinseins. Diktatorische Systeme wenden Drohungen und Terror an, um diese Konformität zu erreichen, die demokratischen Staaten bedienen sich zu diesem Zweck der Suggestion und der Propaganda. Ein großer Unterschied besteht allerdings zwischen diesen beiden Systemen: In Demokratien ist Nicht-Konformität möglich und fehlt auch keineswegs [IX-448] völlig; in den totalitären Systemen kann man höchstens von ein paar aus dem Rahmen fallenden Helden und Märtyrern erwarten, dass sie den Gehorsam verweigern. Aber trotz dieses Unterschiedes weisen auch die demokratischen Gesellschaften eine überaus starke Konformität auf. Das liegt daran, dass das Verlangen nach Vereinigung notwendig eine Antwort finden muss, und wenn sich keine andere oder bessere findet, so setzt sich die Herdenkonformität durch. Man kann die Angst, sich auch nur wenige Schritte abseits von der Herde zu befinden und anders zu sein, nur verstehen, wenn man erkennt, wie tief das Bedürfnis ist, nicht isoliert zu sein. Manchmal rationalisiert man die Furcht vor der Nicht-Konformität als Angst vor den praktischen Gefahren, die dem Nonkonformisten drohen könnten. Tatsächlich aber möchten die Leute in viel stärkerem Maß mit den anderen konform gehen, als sie – wenigstens in den westlichen Demokratien – dazu gezwungen werden.

Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewusst. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren Meinungen gelangt, und es sei reiner Zufall, dass sie in ihren Ideen mit der Majorität übereinstimmen. Im Konsensus aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit „ihrer“ Ideen. Den kleinen Rest eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten von den anderen zu unterscheiden suchen: die Anfangsbuchstaben ihres Namens auf dem Handkoffer oder dem Pullover, das Namensschildchen des Schalterbeamten oder die Zugehörigkeit zu verschiedenen Parteien oder Studentenverbindungen[6]. Solche Dinge dienen dazu, individuelle Unterschiede zu betonen. In dem Werbeslogan, dass etwas „anders ist als...“, kommt dieses Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, zum Ausdruck. In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede.

Die wachsende Neigung zum Ausmerzen von Unterschieden hängt eng zusammen mit dem Begriff der Gleichheit und der entsprechenden Erfahrung, wie er sich in den am weitesten fortgeschrittenen Industriegesellschaften entwickelt hat. Gleichheit im religiösen Sinne bedeutete, dass wir alle Gottes Kinder sind und alle an der gleichen menschlich-göttlichen Substanz teilhaben, dass wir alle eins sind. Sie bedeutete aber auch, dass gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen respektiert werden sollten: Wir sind zwar alle eins, aber jeder von uns ist zugleich ein einzigartiges Wesen, ein Kosmos für sich. Die Überzeugung von der Einzigartigkeit des Individuums drückt folgender Satz aus dem Talmud beispielhaft aus: „Wer ein einziges Leben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet; wer ein einziges Leben zerstört, hat damit gleichsam die ganze Welt zerstört.“ Auch in der westlichen Aufklärungsphilosophie galt Gleichheit als eine Bedingung für die Entwicklung von Individualität. Am klarsten hat dies Kant formuliert, als er sagte, kein Mensch dürfe einem anderen Mittel zum Zweck sein, und die Menschen seien sich daher insofern gleich, als sie alle Zweck und nur Zweck und niemals Mittel füreinander seien. Im Anschluss an die Ideen der Aufklärung haben sozialistische Denker verschiedener Schulen die Gleichheit als die Abschaffung der Ausbeutung bezeichnet, als das Ende der Verwendung des Menschen durch den Menschen ohne Rücksicht darauf, ob dies auf grausame oder „humane“ Weise geschieht. [IX-449]

In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft hat sich die Bedeutung des Begriffs Gleichheit geändert. Man versteht heute darunter die Gleichheit von Automaten, von Menschen, die ihre Individualität verloren haben. Gleichheit bedeutet heute „Dasselbe-Sein“ und nicht mehr „Eins-Sein“. Es handelt sich um die Einförmigkeit von Abstraktionen, von Menschen, die den gleichen Job haben, die die gleichen Vergnügungen haben, die gleichen Zeitungen lesen und das Gleiche fühlen und denken. In dieser Hinsicht sollte man auch gewisse Errungenschaften, die im Allgemeinen als Zeichen unseres Fortschritts gepriesen werden, mit Skepsis betrachten, wie etwa die Gleichberechtigung der Frau. Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, dass ich nichts gegen die Gleichberechtigung habe; aber die positiven Seiten dieser Gleichheitstendenz dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier auch um die Tendenz zur Ausmerzung von Unterschieden handelt. Man erkauft sich die Gleichheit eben zu dem Preis, dass die Frauen gleichgestellt werden, weil sie sich nicht mehr von den Männern unterscheiden. Die These der Aufklärungsphilosophie, I’âme n’a pas de sexe (die Seele hat kein Geschlecht), gilt heute ganz allgemein. Die Polarität der Geschlechter ist im Verschwinden begriffen, und damit verschwindet auch die erotische Liebe, die auf dieser Polarität beruht. Männer und Frauen werden sich gleich und sind nicht mehr gleichberechtigt als entgegen gesetzte Pole. Die heutige Gesellschaft predigt das Ideal einer nicht-individualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome braucht, die sich untereinander völlig gleichen, damit sie im Massenbetrieb glatt und reibungslos funktionieren, damit alle den gleichen Anweisungen folgen und jeder trotzdem überzeugt ist, das zu tun, was er will. Genauso wie die moderne Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse verlangt, so verlangt auch der gesellschaftliche Prozess die Standardisierung des Menschen, und diese Standardisierung nennt man dann „Gleichheit“.

Vereinigung durch Konformität vollzieht sich weder intensiv noch heftig; sie erfolgt ruhig, routinemäßig und bringt es eben deshalb oft nicht fertig, die Angst vor dem Abgetrenntsein zu mildern. Die Häufigkeit von Alkoholismus, Drogen, zwanghafter Sexualität und Selbstmord in der heutigen westlichen Gesellschaft sind Symptome für dieses relative Versagen der Herdenkonformität. Außerdem betrifft auch diese Lösung hauptsächlich den Geist und nicht den Körper und ist auch deshalb im Vergleich zu den orgiastischen Lösungen im Nachteil. Die Herdenkonformität besitzt nur den einen Vorteil, dass sie permanent und nicht nur kurzfristig ist. Der einzelne wird schon im Alter von drei oder vier Jahren in das Konformitätsmodell eingefügt und verliert dann niemals mehr den Kontakt mit der Herde. Selbst seine Beerdigung, die er als seine letzte große gesellschaftliche Veranstaltung vorausplant, entspricht genau dem Modell.

Aber nicht nur die Konformität dient dazu, die aus dem Abgetrenntsein entspringende Angst zu mildern, auch die Arbeits- und Vergnügungsroutine dient diesem Zweck. Der Mensch wird zu einer bloßen Nummer, zu einem Bestandteil der Arbeiterschaft oder der Bürokratie aus Verwaltungsangestellten und Managern. Er besitzt nur wenig eigene Initiative, seine Aufgaben sind ihm durch die Organisation der Arbeit vorgeschrieben; es besteht in dieser Hinsicht sogar kaum ein Unterschied zwischen denen oben auf der Leiter und denen, die unten stehen. Sie alle erledigen [IX-450] Aufgaben, die ihnen durch die Gesamtstruktur der Organisation vorgeschrieben sind, im vorgeschriebenen Tempo und in der vorgeschriebenen Weise. Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben: Man hat fröhlich, tolerant, zuverlässig und ehrgeizig zu sein und mit jedem reibungslos auszukommen. Auch das Vergnügen ist in ähnlicher, wenn auch nicht ganz so drastischer Weise zur Routine geworden. Die Bücher werden von den Buchclubs, die Filme von den Filmverleihern und Kinobesitzern mit Hilfe der von ihnen finanzierten Werbeslogans ausgewählt und lanciert. Auch alles andere verläuft in der gleichen Weise: die sonntägliche Ausfahrt im eigenen Wagen, das Fernsehen, das Kartenspielen und die Partys. Von der Geburt bis zum Tod, von einem Montag zum anderen, von morgens bis abends ist alles, was man tut, vorgefertigte Routine. Wie sollte ein Mensch, der in diesem Routinenetz gefangen ist, nicht vergessen, dass er ein Mensch, ein einzigartiges Individuum ist, dem nur diese einzige Chance gegeben ist, dieses Leben mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, mit seinem Kummer und seiner Angst, mit seiner Sehnsucht nach Liebe und seiner Furcht vor dem Nichts und dem Abgetrenntsein zu leben?

Eine dritte Möglichkeit, zu neuer Einheit zu gelangen, liegt in schöpferischem Tätigsein, sei es das eines Künstlers oder das eines Handwerkers. Bei jeder Art von schöpferischer Arbeit vereinigt sich der schöpferische Mensch mit seinem Material, das für ihn die Welt außerhalb seiner selbst repräsentiert. Ob ein Tischler einen Tisch oder ein Goldschmied ein Schmuckstück anfertigt, ob ein Bauer sein Kornfeld bestellt oder ein Maler ein Bild malt, bei jeder dieser schöpferischen Tätigkeiten wird der Schaffende eins mit seinem Werk, vereinigt sich der Mensch im Schaffensprozess mit der Welt. Dies gilt jedoch nur für die produktive Arbeit, für eine Arbeit also, bei der ich es bin, der plant, wirkt, und bei der ich das Resultat meiner Arbeit sehe.[7] Beim modernen Arbeitsprozess des Büroangestellten oder des Arbeiters am Fließband ist von dieser einenden Qualität der Arbeit nur noch wenig übriggeblieben. Der Arbeiter ist zu einem Anhängsel der Maschine oder der Organisation geworden. Er hat aufgehört, er selbst zu sein – daher gibt es für ihn keine Einheit mehr, sondern nur noch Konformität.

Die bei einer produktiven Arbeit erreichte Einheit ist nicht zwischenmenschlicher Art; die bei einer orgiastischen Vereinigung erreichte Einheit ist nur vorübergehend; die durch Konformität erreichte Einheit ist eine Pseudo-Einheit. Daher sind alle diese Lösungen nur Teillösungen für das Problem der Existenz. Eine voll befriedigende Antwort findet man nur in der zwischenmenschlichen Einheit, in der Vereinigung mit einem anderen Menschen, in der Liebe.

Dieser Wunsch nach einer zwischenmenschlichen Vereinigung ist das stärkste Streben im Menschen. Es ist seine fundamentalste Leidenschaft, es ist die Kraft, welche die menschliche Rasse, die Sippe, die Familie, die Gesellschaft zusammenhält. Gelingt diese Vereinigung nicht, so bedeutet das Wahnsinn oder Vernichtung – Selbstvernichtung oder Vernichtung anderer. Ohne Liebe könnte die Menschheit nicht einen Tag existieren. Wenn wir jedoch den Vollzug einer zwischenmenschlichen Einheit als „Liebe“ bezeichnen, geraten wir in ernste Schwierigkeiten. Zu einer Vereinigung kann man auf verschiedene Weise gelangen, und die Unterschiede sind nicht weniger bedeutsam als das, was die verschiedenen Formen der Liebe miteinander [IX-451] gemeinsam haben. Sollte man sie alle Liebe nennen? Oder sollte man das Wort „Liebe“ jener besonderen Art von Vereinigung vorbehalten, die von allen großen humanistischen Religionen und philosophischen Systemen der letzten viertausend Jahre der Geschichte des Westens und des Ostens als höchste Tugend angesehen wurde?

Wie bei allen semantischen Schwierigkeiten gibt es auch hier keine allgemeingültige Antwort. Wir müssen uns darüber klar werden, welche Art von Einheit wir meinen, wenn wir von Liebe sprechen. Beziehen wir uns auf jene Liebe, die ein reifer Mensch als Antwort auf das Existenzproblem gibt, oder sprechen wir von jenen unreifen Formen der Liebe, die man als symbiotische Vereinigung bezeichnen kann? Im Folgenden werde ich nur ersteres als Liebe bezeichnen; doch möchte ich zunächst über die symbiotische Verbindung sprechen.[8]

Die symbiotische Vereinigung besitzt ihr biologisches Modell in der Beziehung zwischen der schwangeren Mutter und dem Fötus. Sie sind zwei und doch eins. Sie „leben zusammen“ (Sym-biose), sie brauchen einander. Der Fötus ist ein Teil der Mutter und empfängt von ihr alles, was er braucht; die Mutter ist sozusagen seine Welt, sie füttert ihn, sie beschützt ihn, aber auch ihr eigenes Leben wird durch ihn bereichert. Bei der psychischen symbiotischen Vereinigung sind zwar die beiden Körper voneinander unabhängig, aber die gleiche Art von Bindung existiert auf der psychologischen Ebene.

Die passive Form der symbiotischen Vereinigung ist die Unterwerfung oder – wenn wir uns der klinischen Bezeichnung bedienen – der Masochismus. Der masochistische Mensch entrinnt dem unerträglichen Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit dadurch, dass er sich zu einem untrennbaren Bestandteil einer anderen Person macht, die ihn lenkt, leitet und beschützt; sie ist sozusagen sein Leben, sie ist die Luft, die er atmet. Die Macht dessen, dem man sich unterwirft, ist aufgebläht, sei es nun ein Mensch oder ein Gott. Er ist alles, ich bin nichts, außer als ein Teil von ihm. Als ein Teil von ihm habe ich teil an seiner Größe, seiner Macht und Sicherheit. Der masochistisch Orientierte braucht selber keine Entschlüsse zu fassen, er braucht kein Risiko einzugehen. Er ist nie allein – aber er ist nicht unabhängig; er besitzt keine Integrität; er ist noch nicht ganz geboren. Im religiösen Kontext bezeichnet man den Gegenstand einer solchen Verehrung als Götzen; im weltlichen Kontext einer masochistischen Liebesbeziehung herrscht im Wesentlichen der gleiche Mechanismus, nämlich der des Götzendienstes. Die masochistische Beziehung kann mit körperlichem, sexuellem Begehren gekoppelt sein; in diesem Fall handelt es sich nicht nur um eine geistig-seelische Unterwerfung, sondern um eine, die den gesamten Körper mit betrifft. Es gibt eine masochistische Unterwerfung unter das Schicksal, unter eine Krankheit, unter rhythmische Musik, unter den durch Rauschgift oder durch Hypnose erzeugten orgiastischen Zustand – in jedem Fall verzichtet der Betreffende auf seine Integrität, macht er sich zum Instrument eines anderen Menschen oder eines Dings außerhalb seiner selbst. Er ist dann der Aufgabe enthoben, das Problem des Lebens durch produktives Tätigsein zu lösen.

Die aktive Form der symbiotischen Vereinigung ist die Beherrschung eines anderen Menschen oder – psychologisch ausgedrückt und analog zum Masochismus – Sadismus. Der sadistische Mensch möchte seiner Einsamkeit und seinem Gefühl, ein [IX-452] Gefangener zu sein, dadurch entrinnen, dass er einen anderen Menschen zu einem untrennbaren Bestandteil seiner selbst macht. Er bläht sich auf und vergrößert sich, indem er sich eine andere Person, die ihn verehrt, einverleibt.

Der Sadist ist von dem, der sich ihm unterwirft, ebenso abhängig wie dieser von ihm; keiner von beiden kann ohne den anderen leben. Der Unterschied liegt nur darin, dass der Sadist den anderen kommandiert, ausnutzt, verletzt und demütigt, während der Masochist sich kommandieren, ausnutzen, verletzen und demütigen lässt. Äußerlich gesehen ist das ein beträchtlicher Unterschied, aber in einem tieferen emotionalen Sinn ist der Unterschied nicht so groß wie das, was beide gemeinsam haben: Sie wollen Vereinigung ohne Integrität. Wer das begreift, wird sich nicht darüber wundern, dass ein und derselbe Mensch gewöhnlich sowohl auf sadistische wie auch auf masochistische Weise reagiert – meist verschiedenen Objekten gegenüber. Hitler zum Beispiel reagierte Menschen gegenüber vorwiegend auf sadistische Weise; dem Schicksal, der Geschichte, der „Vorsehung“ gegenüber benahm er sich dagegen wie ein Masochist. Sein Ende – der Selbstmord inmitten der allgemeinen Vernichtung – ist für ihn ebenso kennzeichnend wie sein Traum vom Erfolg, von der totalen Herrschaft. (Zum Problem Sadismus – Masochismus vgl. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit (1941a), GA I, S. 300-322.)

Im Gegensatz zur symbiotischen Vereinigung ist die reife Liebe eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen. Sie ist eine Kraft, welche die Wände niederreißt, die den Menschen von seinem Mitmenschen trennen, eine Kraft, die ihn mit anderen vereinigt. Die Liebe lässt ihn das Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit überwinden und erlaubt ihm, trotzdem er selbst zu sein und seine Integrität zu behalten. In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben.

Wenn wir sagen, die Liebe sei eine Aktivität, so stehen wir einer Schwierigkeit gegenüber, die in der Mehrdeutigkeit des Wortes „Aktivität“ liegt. Unter Aktivität im modernen Sinn des Wortes versteht man gewöhnlich eine Tätigkeit, die durch Aufwand von Energie eine Änderung in einer bestehenden Situation herbeiführt. So betrachtet man jemanden als aktiv, wenn er geschäftlich tätig ist, wenn er Medizin studiert, am Fließband arbeitet, einen Tisch herstellt oder Sport treibt. Allen diesen Tätigkeiten ist gemeinsam, dass sie sich jeweils auf ein bestimmtes äußeres Ziel richten, welches man erreichen möchte. Nicht berücksichtigt wird dagegen die Motivation der Aktivität. Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, der sich durch ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Einsamkeit zu pausenlosem Arbeiten getrieben fühlt; oder einen anderen, den Ehrgeiz oder Geldgier treibt. In all diesen Fällen ist der Betreffende der Sklave einer Leidenschaft, und seine Aktivität ist in Wirklichkeit Passivität, weil er dazu getrieben wird. Er ist ein „Leidender“, er erfährt sich in der „Leideform“ (Passiv) und nicht in der „Tätigkeitsform“ (Aktiv); er ist kein „Tätiger“, er ist nicht selbst der „Akteur“. Im Gegensatz dazu hält man einen Menschen, der ruhig dasitzt, sich der Kontemplation hingibt und dabei keinen anderen Zweck und kein anderes Ziel im Auge hat, als sich selbst und sein Einssein mit der Welt zu erleben, für „passiv“, weil er nichts „tut“. In Wirklichkeit aber ist diese konzentrierte Meditation die höchste Aktivität, die es gibt, eine Aktivität der Seele, deren nur der innerlich freie, [IX-453] unabhängige Mensch fähig ist. Die eine Auffassung von Aktivität, nämlich unsere moderne, bezieht sich auf die Verwendung von Energie zur Erreichung äußerer Ziele; die andere bezieht sich auf die Verwendung der dem Menschen innewohnenden Kräfte ohne Rücksicht darauf, ob damit eine äußere Veränderung bewirkt wird oder nicht. Am klarsten hat Spinoza diese Auffassung von Aktivität formuliert. Bei den Affekten unterscheidet er zwischen aktiven und passiven Affekten, zwischen actiones und passiones. Wenn der Mensch aus einem aktiven Affekt heraus handelt, ist er frei, ist er Herr dieses Affekts; handelt er dagegen aus einem passiven Affekt heraus, so ist er ein Getriebener, das Objekt von Motivationen, deren er sich selbst nicht bewusst ist. So gelangt Spinoza zu der Feststellung, dass Tugend und Vermögen (= Macht, etwas zu bewirken) ein und dasselbe sind (Spinoza, 1966, Ethik, Teil IV, B. Begriffsbestimmung). Neid, Eifersucht, Ehrgeiz und jede Art von Gier sind passiones, die Liebe dagegen ist eine actio, die Betätigung eines menschlichen Vermögens, das nur in Freiheit und nie unter Zwang möglich ist.

Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt. Ganz allgemein kann man den aktiven Charakter der Liebe so beschreiben, dass man sagt, sie ist in erster Linie ein Geben und nicht ein Empfangen.

Was heißt Geben? So einfach die Antwort auf diese Frage scheinen mag, ist sie doch tatsächlich doppelsinnig und ziemlich kompliziert. Das am meisten verbreitet Missverständnis besteht in der Annahme, Geben heißt etwas „aufgeben“, dessen man damit beraubt wird und das man zum Opfer bringt. Jemand, dessen Charakter sich noch nicht über das Stadium der rezeptiven, ausbeuterischen oder hortenden Orientierung hinausentwickelt hat, erfährt den Akt des Gebens auf diese Weise. Der Marketing-Charakter ist zwar bereit, etwas herzugeben, jedoch nur im Austausch für etwas anderes, das er empfängt; zu geben, ohne etwas zu empfangen, ist für ihn gleichbedeutend mit Betrogenwerden. (Zu den genannten Charakter-Orientierungen vgl. E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 44-56.) Menschen, die im Wesentlichen nicht-schöpferisch orientiert sind, empfinden das Geben als eine Verarmung. Die meisten Menschen dieses Typs weigern sich daher, etwas herzugeben. Manche machen aus dem Geben eine Tugend im Sinne eines Opfers. Sie haben das Gefühl, man sollte eben deshalb geben, weil es so schwerfällt; das Geben wird erst dadurch, dass sie bereit sind, ein Opfer zu bringen, für sie zur Tugend. Für sie bedeutet das Gebot „Geben ist seliger denn Nehmen“, dass es besser sei, Entbehrungen zu erleiden als Freude zu erfahren.

Für den produktiven Charakter hat das Geben eine ganz andere Bedeutung. Für ihn ist Geben höchster Ausdruck seines Vermögens. Gerade im Akt des Schenkens erlebe ich meine Stärke, meinen Reichtum, meine Macht. Dieses Erlebnis meiner gesteigerten Vitalität und Potenz erfüllt mich mit Freude. Ich erlebe mich selbst als überströmend, hergebend, lebendig und voll Freude. (Vgl. die Begriffsbestimmung von Freude als „Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit“ Bei Spinoza (Spinoza, 1966, Ethik, Teil III, Begriffsbestimmungen der Affekte.) Geben bereitet mehr Freude als Empfangen nicht deshalb, weil es ein Opfer ist, sondern weil im Akt des Schenkens die eigene Lebendigkeit zum Ausdruck kommt.

Es dürfte nicht schwerfallen, die Richtigkeit dieses Prinzips zu erkennen, wenn man [IX-454] verschiedene spezifische Phänomene daraufhin untersucht. Das elementarste Beispiel finden wir im Bereich der Sexualität. Der Höhepunkt der männlichen Sexualfunktion liegt im Akt des Gebens; der Mann gibt sich selbst, gibt sein Geschlechtsorgan der Frau. Im Augenblick des Orgasmus gibt er ihr seinen Samen. Er kann nicht anders, wenn er potent ist; wenn er nicht geben kann, ist er impotent. Bei der Frau handelt es sich um den gleichen Prozess, wenn er auch etwas komplexer abläuft. Auch sie gibt sich; sie öffnet die Tore zum Innersten ihrer Weiblichkeit; im Akt des Empfangens gibt sie. Wenn sie zu diesem Akt des Gebens nicht fähig ist, wenn sie nur empfangen kann, ist sie frigid. Bei ihr gibt es einen weiteren Akt des Gebens, nicht als Geliebte, sondern als Mutter. Sie gibt sich dann dem Kind, das in ihr wächst, sie gibt dem Säugling ihre Milch, sie gibt ihm ihre körperliche Wärme. Nicht zu geben, wäre schmerzlich für sie.

Im Bereich des Materiellen bedeutet geben reich zu sein. Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt. Der Hortende, der ständig Angst hat, etwas zu verlieren, ist psychologisch gesehen ein armer Habenichts, ganz gleich, wie viel er besitzt. Wer dagegen die Fähigkeit hat, anderen etwas von sich zu geben, ist reich. Er erfährt sich selbst als jemand, der anderen etwas von sich abgeben kann. Eigentlich hat nur der, der nichts als das Allernotwendigste zum Leben hat, keine Möglichkeit, sich damit eine Freude zu machen, dass er anderen materielle Dinge gibt. Aber die tägliche Erfahrung lehrt, dass es ebenso vom Charakter wie vom tatsächlichen Besitz abhängt, was jemand als sein Existenzminimum ansieht. Bekanntlich sind die Armen eher gewillt zu geben als die Reichen. Dennoch kann Armut, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, es unmöglich machen zu geben, und sie ist dann nicht nur wegen der Entbehrungen, die sie unmittelbar verursacht, so erniedrigend, sondern auch, weil sie dem Armen die Freude des Gebens nicht erlaubt.

Der wichtigste Bereich des Gebens liegt jedoch nicht im Materiellen, sondern im zwischenmenschlichen Bereich. Was gibt ein Mensch dem anderen? Er gibt etwas von sich selbst, vom Kostbarsten, was er besitzt, er gibt etwas von seinem Leben. Das bedeutet nicht unbedingt, dass er sein Leben für den anderen opfert – sondern dass er ihm etwas von dem gibt, was in ihm lebendig ist; er gibt ihm etwas von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor, von seiner Traurigkeit – von allem, was in ihm lebendig ist. Indem er dem anderen auf diese Weise etwas von seinem Leben abgibt, bereichert er ihn, steigert er beim anderen das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt damit dieses Gefühl des Lebendigseins auch in sich selbst. Er gibt nicht, um selbst etwas zu empfangen; das Geben ist an und für sich eine erlesene Freude. Indem er gibt, kann er nicht umhin, im anderen etwas zum Leben zu erwecken, und dieses zum Leben Erweckte strahlt zurück auf ihn; wenn jemand wahrhaft gibt, wird er ganz von selbst etwas zurück empfangen. Zum Geben gehört, dass es auch den anderen zum Geber macht, und beide haben ihre Freude an dem, was sie zum Leben erweckt haben. Im Akt des Gebens wird etwas geboren, und die beiden beteiligten Menschen sind dankbar für das Leben, das für sie beide geboren wurde. Für die Liebe insbesondere bedeutet dies: Die Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt. Impotenz ist die Unfähigkeit, Liebe zu erzeugen. Marx hat diesem Gedanken sehr schönen Ausdruck verliehen, wenn er sagt:

Setze den [IX-455] Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen und zu der Natur muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als Liebe nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch eine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück. (K. Marx, 1971, S. 301.)

Aber nicht nur in der Liebe bedeutet Geben Empfangen. Der Lehrer lernt von seinen Schülern, der Schauspieler wird von seinen Zuschauern angespornt, der Psychoanalytiker wird von seinen Patienten geheilt – vorausgesetzt, dass sie einander nicht wie leblose Gegenstände behandeln, sondern echt und schöpferisch zueinander in Beziehung treten.

Wir brauchen wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, dass die Fähigkeit zur Liebe – wird Liebe als ein Akt des Gebens verstanden – von der Charakterentwicklung des Betreffenden abhängt. Sie setzt voraus, dass er bereits zu einer vorherrschend produktiven Orientierung gelangt ist; bei einer solchen Orientierung hat der Betreffende seine Abhängigkeit, sein narzisstisches Allmachtsgefühl, den Wunsch, andere auszubeuten, oder den Wunsch zu horten, überwunden; er glaubt an seine eigenen menschlichen Kräfte und hat den Mut, auf seine Kräfte zu vertrauen. In dem Maß, wie ihm diese Eigenschaften fehlen, hat er Angst sich hinzugeben – Angst zu lieben.

Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr „aktiver“ Charakter zeigt sich auch darin, dass sie in allen ihren Formen stets folgende Grundelemente enthält: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.[9]

Dass zur Liebe Fürsorge gehört, zeigt sich am deutlichsten in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Keine Beteuerung ihrer Liebe käme uns aufrichtig vor, wenn sie es an Fürsorge für das Kind fehlen ließe, wenn sie versäumte, es zu ernähren, zu baden und für sein leibliches Wohl zu sorgen; und wir fühlen uns von ihrer Liebe beeindruckt, wenn wir sehen, wie sie für ihr Kind sorgt. Mit der Liebe zu Tieren und Blumen ist es nicht anders. Wenn eine Frau behauptet, sie liebe Blumen, und wir sehen dann, wie sie vergisst, sie zu gießen, dann glauben wir ihr ihre „Blumenliebe“ nicht. Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben. Wo diese tätige Sorge fehlt, ist auch keine Liebe vorhanden. Dieses Element der Liebe ist besonders schön im Buch Jona beschrieben. Gott hat Jona aufgetragen, sich nach Ninive zu begeben und die Bewohner zu warnen, dass sie bestraft würden, wenn sie ihren schlimmen Lebenswandel nicht änderten. Jona versucht, sich dem Auftrag zu entziehen, weil er fürchtet, die Bewohner Ninives könnten bereuen und Gott würde ihnen dann vergeben. Er ist ein Mann mit einem starken Gefühl für Gesetz und Ordnung, aber ihm fehlt die Liebe. Doch bei seinem Versuch zu fliehen, findet er sich im Bauch des Walfisches wieder, was den Zustand der Isolation und Gefangenschaft symbolisiert, in den er durch seinen Mangel an Liebe und Solidarität geraten ist. Gott rettet ihn, und Jona geht nach Ninive. Er predigt den Bewohnern, was Gott ihm [IX-456] aufgetragen hat, und eben das, was er befürchtet hat, tritt ein: Die Bewohner Ninives bereuen ihre Sünden und bessern ihren Lebenswandel; Gott vergibt ihnen und beschließt, die Stadt nun doch nicht zu vernichten. Jona ist überaus ärgerlich und enttäuscht darüber. Er wollte, dass „Gerechtigkeit“ und nicht Gnade walten solle. Schließlich findet er einigen Trost im Schatten eines Baumes, den Gott für ihn wachsen ließ, um ihn vor der Sonne zu schützen. Aber als Gott den Baum verdorren lässt, ist Jona niedergeschlagen, und er beschwert sich bei Gott. „Darauf sagte der Herr: Dir ist es leid um den Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen. Mir aber sollte es nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können – und außerdem noch so viel Vieh?“ (Jon 4,10 f.). Was Gott Jona antwortet, ist symbolisch zu verstehen. Er erklärt ihm, dass das Wesen der Liebe darin besteht, für etwas „zu arbeiten“ und „etwas aufzuziehen“, dass Liebe und Arbeit nicht voneinander zu trennen sind. Man liebt das, wofür man sich müht, und man müht sich für das, was man liebt.

Neben der Fürsorge gehört noch ein weiterer Aspekt zur Liebe: das Verantwortungsgefühl. Heute versteht man unter Verantwortungsgefühl häufig „Pflicht“, also etwas, das uns von außen auferlegt wird. Aber in seiner wahren Bedeutung ist das Verantwortungsgefühl etwas völlig Freiwilliges; es ist meine Antwort auf die ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Sich für jemanden „verantwortlich“ zu fühlen, heißt fähig und bereit sein zu „antworten“. Jona fühlte sich für die Bewohner von Ninive nicht verantwortlich. Er hätte wie Kain fragen können: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9). Der liebende Mensch antwortet. Das Leben seines Bruders geht nicht nur diesen Bruder allein, sondern auch ihn an. Er fühlt sich für seine Mitmenschen genauso verantwortlich wie für sich selbst. Das Verantwortungsgefühl der Mutter für ihr Kind bezieht sich hauptsächlich auf ihre Fürsorge für dessen körperliche Bedürfnisse. Bei der Liebe zwischen Erwachsenen bezieht sich das Verantwortungsgefühl hauptsächlich auf die seelischen Bedürfnisse des anderen.

Das Verantwortungsgefühl könnte leicht dazu verleiten, den anderen beherrschen und ihn für sich besitzen zu wollen, wenn eine dritte Komponente der Liebe nicht hinzukommt: die Achtung vor dem anderen. Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und seine einzigartige Individualität wahrzunehmen.[10] Achtung bezieht sich darauf, dass man ein echtes Interesse daran hat, dass der andere wachsen und sich entfalten kann. Daher impliziert Achtung das Fehlen von Ausbeutung. Ich will, dass der andere um seiner selbst willen und auf seine eigene Weise wächst und sich entfaltet und nicht mir zuliebe. Wenn ich den anderen wirklich liebe, fühle ich mich eins mit ihm, aber so, wie er wirklich ist, und nicht, wie ich ihn als Objekt zu meinem Gebrauch benötige. Es ist klar, – dass ich nur Achtung vor einem anderen haben kann, wenn ich selbst zur Unabhängigkeit gelangt bin, wenn ich ohne Krücken stehen und laufen kann und es daher nicht nötig habe, einen anderen auszubeuten. Achtung gibt es nur auf der Grundlage der Freiheit: L’amour est l’enfant de la liberté heißt es in einem alten [IX-457] französischen Lied. Die Liebe ist das Kind der Freiheit und niemals das der Beherrschung.

Achtung vor einem anderen ist nicht möglich ohne ein wirkliches Kennen des anderen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl für einen anderen wären blind, wenn sie nicht von Erkenntnis[11] geleitet würden. Meine Erkenntnis wäre leer, wenn sie nicht von der Fürsorge für den anderen motiviert wäre. Es gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist. So kann ich zum Beispiel merken, dass jemand sich ärgert, selbst wenn er es nicht offen zeigt; aber ich kann ihn auch noch tiefer kennen, und dann weiß ich, dass er Angst hat und sich Sorgen macht, dass er sich einsam und schuldig fühlt. Dann weiß ich, dass sein Ärger nur die Manifestation von etwas ist, was tiefer liegt, und ich sehe in ihm dann den verängstigten und verwirrten, das heißt den leidenden und nicht den verärgerten Menschen.

Solche Erkenntnis steht noch in einer anderen, noch grundlegenderen Beziehung zum Problem der Liebe. Das Grundbedürfnis, sich mit einem anderen Menschen zu vereinigen, um auf diese Weise dem Kerker des eigenen Abgetrenntseins zu entrinnen, ist eng verwandt mit einem anderen spezifisch menschlichen Verlangen, nämlich dem, „das Geheimnis des Menschen“ zu ergründen. Das Leben ist nicht nur in seinen rein biologischen Aspekten ein Wunder und ein Geheimnis; der Mensch ist für sich und für seine Mitmenschen auch in seinen menschlichen Aspekten ein unergründliches Geheimnis. Wir kennen uns – und kennen uns doch auch wieder nicht, sosehr wir uns darum auch bemühen mögen. Wir kennen unseren Mitmenschen und kennen ihn doch auch wieder nicht, weil wir selbst kein Ding sind und weil unser Mitmensch ebenfalls kein Ding ist. Je weiter wir in die Tiefe unseres eigenen Seins oder das eines anderen Menschen hinabreichen, umso mehr entzieht sich uns das, was wir erkennen möchten. Trotzdem können wir den Wunsch nicht unterdrücken, in das Geheimnis der Seele des Menschen, in den innersten Kern seines wahren Wesens einzudringen.

Es gibt eine verzweifelte Möglichkeit, dies zu erreichen: Sie besteht darin, den anderen völlig in seine Gewalt zu bekommen, ihn mit Macht dazu zu bringen, das zu tun, was wir wollen, das zu fühlen, was wir wollen, das zu denken, was wir wollen, so dass er in ein Ding, in unseren Besitz verwandelt wird. Dieser äußerste Versuch, den anderen zu „erkennen“, ist bei extremen Formen des Sadismus gegeben, im Wunsch und in der Fähigkeit, ein menschliches Wesen leiden zu lassen, es zu quälen, es zu zwingen, in seinem Leiden sein Geheimnis preiszugeben. Dieses Verlangen, in das Geheimnis eines anderen Menschen und damit in das eigene Geheimnis einzudringen, ist im Wesentlichen die Motivation für die Tiefe und Intensität der Grausamkeit und Destruktivität. Isaac Babel hat diesen Gedanken prägnant zum Ausdruck gebracht. Er zitiert einen Offizierskameraden im Russischen Bürgerkrieg, der, nachdem er seinen früheren Herrn zu Tode getrampelt hatte, sagte: „Ich würde sagen, mit Schießen schafft man sich so einen Kerl nur vom Hals, (...) aber mit Schießen kommt man nicht an die Seele heran, wo die in dem Kerl ist und wie sie sich zeigt. Aber ich schon’ mich nicht und ich hab’ schon mehr als einmal auf einem Feind über eine Stunde lang [IX-458] herumgetrampelt. Weißt du, ich möchte herauskriegen, was das Leben wirklich ist, was das mit unserem Leben so auf sich hat“ (I. Babel, 1955).

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2014
ISBN (ePUB)
9783959120012
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Erich Fromm Liebe Kunst des Liebens Theorie der Liebe Praxis der Liebe Psychologie Sozialpsychologie erotische Liebe Mutterliebe Gottesliebe Nächstenliebe
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Titel: Die Kunst des Liebens