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Die Furcht vor der Freiheit

Escape from Freedom

©2014 177 Seiten

Zusammenfassung

Die „Furcht vor der Freiheit“ ist eines der grundlegenden Werke Fromms, in dem er sich mit der Bedeutung von Freiheit für den modernen Menschen beschäftigt. Seine These lautet, dass sich der moderne Mensch von den Fesseln der vor-individualistischen Gesellschaft befreit hat; da diese ihm gleichzeitig Sicherheit gab und ihm Grenzen setzte, fühlt er sich isoliert und allein und entwickelt eine „Furcht vor der Freiheit“.
Der Einzelne meidet die Freiheit, weil er mit ihr noch nicht umzugehen weiß. Somit bleibt der Mensch aus Fromms Sicht noch hinter seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zurück. Hieraus ergibt sich für ihn die Konsequenz, dass der Mensch aufgrund von Ohnmachtsgefühlen und der daraus entstehenden Angst neue Ausformungen von Hörigkeitssystemen aufsucht, die ihm scheinbare Sicherheit bieten.
Dieses Werk ist die erste Monographie Erich Fromms und legt mit der Entwicklung des „autoritären Charakters“ den Grundstein zu seinen Charakterstudien, die er in späteren Werken weiter ausformuliert.
Aus dem Inhalt:
• Freiheit – ein psychologisches Problem?
• Das Auftauchen des Individuums und das Doppelgesicht der Freiheit
• Freiheit im Zeitalter der Reformation
• Die beiden Aspekte der Freiheit für den modernen Menschen
• Fluchtmechanismen
• Die Psychologie des Nazismus
• Freiheit und Demokratie

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Wenn nicht ich für mich bin, wer ist dann für mich?
Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann?
Wenn nicht jetzt – wann sonst?
Talmud

Nicht himmlisch, nicht irdisch, nicht sterblich und nicht unsterblich
haben wir dich erschaffen, auf dass du mögest frei sein,
deinem eigenen Willen und deiner Ehre gemäß,
auf dass du mögest dein eigner Schöpfer und Bildner sein.
Dir allein gab ich die Fähigkeit zu wachsen
und dich nach deinem eigenen freien Willen zu entfalten.
Du trägst in dir den Keim eines allumfassenden Lebens.
Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate

Nichts ist unveränderlich, nur die dem Menschen eigenen
und unveräußerlichen Rechte nicht.
Thomas Jefferson

Vorwort

Dieses Buch[1] ist Teil einer umfassenden Untersuchung, welche die Charakterstruktur des modernen Menschen und die Probleme der Wechselwirkung zwischen psychologischen und soziologischen Faktoren behandelt, mit der ich mich seit mehreren Jahren beschäftige und die noch lange nicht abgeschlossen ist. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen und die Gefahren, die sie für die größte Leistung der modernen Kultur – für die Individualität und Einmaligkeit des Menschen – mit sich bringen, haben mich jedoch bewogen, meine Arbeit an einer umfassenderen Untersuchung zu unterbrechen und mich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren, der mir für die kulturelle und gesellschaftliche Krise unserer Tage besonders wichtig ist: die Bedeutung der Freiheit für den modernen Menschen. Es würde mir die Arbeit erleichtern, könnte ich in diesem Buch den Leser auf eine abgeschlossene Untersuchung der menschlichen Charakterstruktur hinweisen, weil man die Bedeutung der Freiheit nur wirklich verstehen kann, wenn man die gesamte Charakterstruktur des modernen Menschen analysiert. So muss ich mich immer wieder auf bestimmte Begriffe und Schlussfolgerungen beziehen, ohne sie so ausführlich erläutern zu können, wie ich es getan hätte, wäre die ganze Weite des Problems bereits erfasst. Was andere, ebenfalls höchst wichtige Probleme betrifft, so konnte ich oft nur im Vorübergehen und manchmal überhaupt nicht auf sie eingehen. Aber ich habe das Gefühl, dass der Psychologe unverzüglich zum Verständnis der gegenwärtigen Krise alles beisteuern sollte, was er zu bieten hat, selbst unter Aufgabe seines Wunsches nach Vollständigkeit.

Wenn ich die Bedeutung psychologischer Erwägungen beim gegenwärtigen Stand der Dinge hervorhebe, so möchte ich damit die Psychologie nicht überbewerten. Die reale Grundlage des gesellschaftlichen Prozesses ist das Individuum, seine Wünsche und Ängste, seine Leidenschaften und seine Vernunft, seine Neigung zum Guten und zum Bösen. Um die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses zu verstehen, müssen wir die Dynamik der psychologischen Prozesse begreifen, die sich im Individuum abspielen, genauso wie wir den Einzelnen im Kontext der ihn formenden Kultur sehen müssen, wenn wir ihn verstehen wollen. Die These dieses Buches lautet, dass der moderne Mensch, nachdem er sich von den Fesseln der vor-individualistischen [I-218] Gesellschaft befreite, die ihm gleichzeitig Sicherheit gab und ihm Grenzen setzte, sich noch nicht die Freiheit – verstanden als positive Verwirklichung seines individuellen Selbst – errungen hat; das heißt, dass er noch nicht gelernt hat, seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu bringen. Die Freiheit hat ihm zwar Unabhängigkeit und Rationalität ermöglicht, aber sie hat ihn isoliert und dabei ängstlich und ohnmächtig gemacht. Diese Isolierung kann der Mensch nicht ertragen, und er sieht sich daher vor die Alternative gestellt, entweder der Last seiner Freiheit zu entfliehen und sich aufs Neue in Abhängigkeit und Unterwerfung zu begeben oder voranzuschreiten zur vollen Verwirklichung jener positiven Freiheit, die sich auf die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen gründet. Wenngleich dieses Buch eher eine Diagnose als eine Prognose – eher eine Analyse als eine Lösung – bietet, kommt es doch zu Ergebnissen, die unser Handeln beeinflussen könnten, denn nur wenn wir die Gründe für die totalitäre Flucht vor der Freiheit erkennen, können wir uns so verhalten, dass wir die totalitären Kräfte besiegen.

Ich muss mir leider das Vergnügen versagen, allen meinen Freunden, Kollegen und Studenten zu danken, die mir durch Anregungen und konstruktive Kritik bei der Entwicklung meiner Ideen behilflich waren. Ich habe den Leser jeweils auf die Autoren hingewiesen, denen ich mich besonders verpflichtet fühle. Besonders möchte ich mich jedoch bei denen bedanken, die bei der Fertigstellung dieses Buches unmittelbar mitgeholfen haben. Das gilt vor allem für Elizabeth Brown, die mir durch ihre Vorschläge und ihre Kritik eine unschätzbare Hilfe war. Außerdem bedanke ich mich besonders bei T. Woodhouse für seine Arbeiten am Manuskript und bei Dr. A. Seidemann für seine Beratung bei philosophischen Problemen.[2]

E. F.

1 Freiheit – ein psychologisches Problem?

Im Mittelpunkt der modernen europäischen und amerikanischen Geschichte steht das Bemühen, sich von den politischen, wirtschaftlichen und geistigen Fesseln zu befreien, welche die Menschen gefangen hielten. Der Kampf um die Freiheit wurde von den Unterdrückten, die neue Freiheiten beanspruchten, gegen jene ausgefochten, die Privilegien zu verteidigen hatten. Immer wenn eine Klasse um ihre eigene Befreiung kämpfte, so tat sie das in dem Glauben, für die menschliche Freiheit als solche zu kämpfen, so dass sie an ein Ideal, an die Sehnsucht nach Freiheit bei allen Unterdrückten appellieren konnte. In diesem langen und praktisch noch immer andauernden Kampf um die Freiheit liefen jedoch Klassen, die gegen die Unterdrückung gekämpft hätten, in einem gewissen Stadium zu den Feinden der Freiheit über, nämlich dann, wenn der Sieg errungen war und es galt, neue Privilegien zu verteidigen.

Trotz vieler Rückschläge sind für die Freiheit manche Schlachten gewonnen worden. Viele sind in diesen Schlachten in der Überzeugung gestorben, es sei besser, im Kampf gegen die Unterdrückung zu sterben, als ohne Freiheit zu leben. Ein solcher Tod war für sie die höchste Bestätigung ihrer Individualität. Die Geschichte schien zu beweisen: Der Mensch kann sich selbst regieren, er kann selbst seine Entscheidungen treffen und denken und fühlen, was er für richtig hält. Die volle Entfaltung aller im Menschen schlummernden Möglichkeiten schien das Ziel zu sein, dem sich die gesellschaftliche Entwicklung mit raschen Schritten näherte. In den Grundsätzen des ökonomischen Liberalismus, der politischen Demokratie, der religiösen Autonomie und des Individualismus im persönlichen Leben kam die Sehnsucht nach Freiheit zum Ausdruck. Diese Prinzipien schienen die Menschheit der Verwirklichung dieser Sehnsucht näherzubringen. Eine Fessel nach der anderen wurde gesprengt. Der Mensch befreite sich aus seiner Beherrschung durch die Natur und machte sich zu ihrem Herrn; er beseitigte seine Beherrschung durch die Kirche und durch den absolutistischen Staat. Die Abschaffung der äußeren Botmäßigkeit schien die notwendige, aber auch hinreichende Vorbedingung für die Erreichung des ersehnten Ziels zu sein: der Freiheit des Individuums.

Viele sahen im Ersten Weltkrieg den Endkampf und in seinem Abschluss den endgültigen Sieg der Freiheit. Die bereits vorhandenen Demokratien schienen gestärkt [I-220] daraus hervorzugehen, und neue Demokratien traten an die Stelle früherer Monarchien. Aber bereits nach wenigen Jahren tauchten neue Systeme auf, die alles verleugneten, was die Menschen in Jahrhunderte langen Kämpfen errungen zu haben glaubten. Denn das Wesen dieser neuen Systeme, die sich des gesamten gesellschaftlichen und persönlichen Lebens der Bevölkerung bemächtigten, war die völlige Unterwerfung aller unter die Autorität einer Handvoll von Menschen, gegen die sie machtlos waren.

Zunächst trösteten sich viele mit dem Gedanken, der Sieg des autoritären Systems sei auf die Geistesverwirrung einiger weniger Einzelner zurückzuführen, die von ihrem Wahnsinn schon rechtzeitig wieder abgebracht werden könnten. Andere wiegten sich im Glauben, die Italiener und die Deutschen besäßen nur noch nicht genügend Übung in Demokratie, und man könne daher ruhig zuwarten, bis sie die politische Reife der westlichen Demokratien erreicht hätten. Eine andere weitverbreitete Illusion – vielleicht die allergefährlichste – war die, dass Menschen wie Hitler allein durch ihre List und Tücke die Macht über den großen Staatsapparat errungen hätten, dass sie und ihre Gefolgsleute allein durch nackte Gewalt regierten und dass die Bevölkerung nur das willenlose Objekt von Betrug und Terror sei.

Inzwischen haben sich diese Ansichten als Irrtum herausgestellt. Wir mussten erkennen, dass Millionen von Deutschen ebenso bereitwillig ihre Freiheit aufgaben, wie ihre Väter für sie gekämpft hatten; dass sie, anstatt sich nach Freiheit zu sehnen, sich nach Möglichkeiten umsahen, ihr zu entfliehen; dass weitere Millionen gleichgültig waren und nicht glaubten, dass die Verteidigung der Freiheit es wert sei, für sie zu kämpfen und für sie zu sterben. Wir haben weiterhin erkannt, dass die Krise der Demokratie kein spezifisch italienisches oder deutsches Problem ist, sondern dass jeder moderne Staat sich damit auseinanderzusetzen hat. Auch macht es keinen Unterschied, welche Symbole sich die Feinde der menschlichen Freiheit wählen: Die Freiheit ist nicht weniger gefährdet, ob sie im Namen des Antifaschismus oder im Namen des Faschismus selbst angegriffen wird. (Unter Faschismus oder Autoritarismus verstehe ich ein diktatorisches System vom deutschen oder italienischen Typ. Wenn ich mich speziell auf das deutsche System beziehe, bezeichne ich es als „Nazismus“.) John Dewey hat dies so eindrucksvoll formuliert, dass ich ihn wörtlich zitieren möchte: „Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, dass in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier – in uns selbst und in unseren Institutionen“ (J. Dewey, 1939a). Wenn wir den Faschismus bekämpfen wollen, müssen wir ihn verstehen. Wunschdenken hilft uns dabei nicht weiter. Auch die Wiederholung optimistischer Devisen nützt so wenig wie das Ritual eines indianischen Regentanzes.

Neben den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die zum Faschismus geführt haben, gibt es ein den Menschen selbst betreffendes Problem, das wir verstehen müssen. Zweck dieses Buches ist es, jene dynamischen Faktoren in der Charakterstruktur des modernen Menschen zu analysieren, die in den faschistischen Ländern [I-221] dazu geführt haben, die Freiheit aufzugeben, und die bei Millionen Menschen in unserem eigenen [amerikanischen] Volk ebenfalls stark verbreitet sind.

Wenn wir den menschlichen Aspekt der Freiheit, die Sehnsucht nach Unterwerfung und das Streben nach Macht ins Auge fassen, so stellen sich vor allem folgende Fragen: Was bedeutet Freiheit als menschliche Erfahrung? Ist das Verlangen nach Freiheit etwas, das der menschlichen Natur innewohnt? Handelt es sich bei Freiheit um die gleiche Erfahrung ohne Rücksicht auf die Art der Kultur, in der jemand lebt, oder ist sie jeweils etwas Verschiedenes entsprechend dem Grad des in einer bestimmten Gesellschaft bereits erreichten Individualismus? Bedeutet Freiheit nur die Abwesenheit äußeren Drucks, oder bedeutet Freiheit auch das Vorhandensein von etwas – und wenn ja, wovon? Welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren in der Gesellschaft fördern das Streben nach Freiheit? Kann Freiheit zu einer Last werden, die den Menschen so schwer bedrückt, dass er ihr zu entfliehen sucht? Woher kommt es dann, dass Freiheit für viele ein hochgeschätztes Ziel und für andere eine Bedrohung bedeutet?

Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung? Und wenn es diese nicht gibt, wie ist dann die Anziehungskraft zu erklären, welche die Unterwerfung unter einen Führer heute auf so viele ausübt? Unterwirft man sich nur einer offenen Autorität, oder gibt es auch eine Unterwerfung unter internalisierte Autoritäten, wie die Pflicht oder das Gewissen, unter innere Zwänge oder unter anonyme Autoritäten wie die öffentliche Meinung? Gewährt es eine geheime Befriedigung, sich zu unterwerfen, und was liegt ihr zugrunde?

Was erzeugt im Menschen eine unersättliche Gier nach Macht? Ist es die Stärke seiner Lebenskraft – oder ist es eine grundsätzliche Schwäche und Unfähigkeit, das Leben spontan und liebevoll zu erleben? Welches sind die psychologischen Bedingungen, die diese Strebungen so stark machen? Und welches sind die gesellschaftlichen Bedingungen, auf denen derartige psychologische Bedingungen ihrerseits beruhen?

Die Analyse des menschlichen Aspekts der Freiheit und des Autoritarismus zwingt uns, uns mit einem allgemeinen Problem zu beschäftigen – mit der Rolle nämlich, welche psychologische Faktoren als aktive Kräfte im gesellschaftlichen Prozess spielen; und dies führt uns schließlich zum Problem der Wechselwirkung von psychologischen, ökonomischen und ideologischen Faktoren im gesellschaftlichen Prozess. Jeder Versuch, die Anziehungskraft zu begreifen, welche der Faschismus auf große Nationen ausübt, zwingt uns, uns mit der Rolle der psychologischen Faktoren zu beschäftigen. Denn wir haben es hier mit einem politischen System zu tun, das seinem Wesen nach nicht an die rationalen Kräfte des Selbstinteresses appelliert, sondern das im Menschen diabolische Kräfte weckt und mobilisiert, von deren Existenz wir nichts wussten oder von denen wir zumindest annahmen, sie seien schon lange ausgestorben. In den letzten Jahrhunderten pflegte man sich den Menschen als ein vernünftiges Wesen vorzustellen, das in seinem Handeln von seinem Selbstinteresse bestimmt wird. Selbst Schriftsteller wie Hobbes, der die Machtgier und Feindseligkeit als die treibenden Kräfte im Menschen ansah, erklärten, sie seien die logische Konsequenz des Selbstinteresses: Da die Menschen alle gleich und daher vom gleichen Wunsch nach Glück [I-222] beseelt seien und da nicht genug Güter vorhanden seien, um sie alle gleichmäßig zufriedenzustellen, müssten sie notwendigerweise miteinander kämpfen und nach Macht streben, um sicherzustellen, dass sie auch in Zukunft genießen könnten, was sie gegenwärtig besäßen. Aber das Menschenbild von Hobbes traf bald nicht mehr zu. Je mehr es dem Bürgertum gelang, die Macht der früheren politischen und religiösen Herrscher zu brechen, je besser es den Menschen gelang, die Natur zu meistern, und je mehr Millionen Menschen wirtschaftlich unabhängig wurden, umso mehr glaubte man an eine rationale Welt und an den Menschen als Vernunftwesen. Die finsteren, diabolischen Kräfte in der menschlichen Natur wurden ins Mittelalter oder in noch frühere Epochen verwiesen, und man erklärte sie mit dem Mangel an Wissen oder mit dem Ränkespiel betrügerischer Könige und Priester.

Man blickte auf diese Epochen zurück wie auf einen Vulkan, der seit langem erloschen ist und von dem keine Gefahr mehr droht. Man fühlte sich sicher und vertraute darauf, dass die Errungenschaften der modernen Demokratie alle finsteren Mächte verscheucht hätten; die Welt erschien so hell und sicher wie die gut beleuchteten Straßen einer modernen Großstadt. In den Kriegen sah man die letzten Relikte vergangener Zeiten und war der Ansicht, dass man nur noch einen einzigen, letzten Krieg brauche, um Krieg ein für allemal abzuschaffen. Wirtschaftskrisen betrachtete man als Pannen, auch wenn sie sich weiterhin mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellten.

Als der Faschismus an die Macht kam, waren die meisten weder theoretisch noch praktisch darauf vorbereitet. Sie konnten einfach nicht glauben, dass der Mensch einen solchen Hang zum Bösen, eine solche Machtgier, eine solche Missachtung der Rechte der Schwachen und ein solches Verlangen nach Unterwerfung bekunden konnte. Nur wenige hatten das unterirdische Grollen vor dem Ausbruch des Vulkans bemerkt. Nietzsche hatte den selbstgefälligen Optimismus des 19. Jahrhunderts aufgestört; das gleiche hatte Marx, wenn auch auf andere Weise, getan. Eine weitere Warnung kam etwas später von Freud. Zwar hatten er und die meisten seiner Schüler nur eine sehr naive Auffassung davon, was in der Gesellschaft vor sich geht, und seine Versuche, die Psychologie auf gesellschaftliche Probleme anzuwenden, waren meist irreführende Konstruktionen. Aber dadurch, dass er sein Interesse den Erscheinungen individueller emotionaler und geistiger Störungen zuwandte, führte er uns auf den Gipfel des Vulkans und ließ uns in den kochenden Krater hinunterschauen.

Freud hat die Aufmerksamkeit mehr als jeder andere auf die Beobachtung und Analyse der irrationalen und unbewussten Kräfte gelenkt, die das Verhalten der Menschen mitbestimmen. Er und seine Schüler haben in der modernen Psychologie nicht nur den irrationalen und unbewussten Bereich der menschlichen Natur entdeckt, dessen Existenz der moderne Rationalismus übersehen hatte, Freud hat auch gezeigt, dass diese irrationalen Phänomene bestimmten Gesetzen folgen und daher rational zu verstehen sind. Er hat uns gelehrt, die Sprache der Träume und der somatischen Symptome ebenso wie die Irrationalitäten im menschlichen Verhalten zu verstehen. Er hat entdeckt, dass sowohl das irrationale Verhalten eines Menschen als auch seine gesamte Charakterstruktur die Reaktion auf Einflüsse ist, welche die Außenwelt insbesondere während seiner frühen Kindheit auf ihn ausübte. [I-223]

Aber Freud war so sehr vom Geist seiner Kultur durchtränkt, dass er über ihre Grenzen nicht hinwegkam. Eben diese Grenzen schränkten sein Verständnis für den kranken Menschen ein und sie waren ein Hindernis für sein Verständnis des normalen Menschen und der irrationalen Phänomene im Leben der Gesellschaft.

Da dieses Buch die Rolle, welche die psychologischen Faktoren im gesellschaftlichen Gesamtprozess spielen, in den Vordergrund stellt, und da sich diese Analyse auf einige der grundlegenden Entdeckungen Freuds gründet – besonders auf jene, welche das Wirken unbewusster Kräfte im Charakter des Menschen und ihre Abhängigkeit von äußeren Einflüssen betreffen – halte ich es für angebracht, den Leser schon jetzt auf die allgemeinen Grundsätze der hier vertretenen Auffassung und auf die Hauptunterschiede zwischen dieser Auffassung und den klassischen Freudschen Vorstellungen hinzuweisen.[3]

Freud übernahm die traditionelle Überzeugung von der grundsätzlichen Dichotomie zwischen Mensch und Gesellschaft und die Lehre, dass der Mensch von Natur aus böse sei. Für ihn ist der Mensch grundsätzlich antisozial. Die Gesellschaft muss ihn erst domestizieren. Sie muss zwar die direkte Befriedigung einiger biologischer und daher unausrottbarer Triebe zulassen, aber sie muss die meisten Basisimpulse im Menschen verfeinern und geschickt in Zaum halten. Infolge dieser Unterdrückung der natürlichen Impulse durch die Gesellschaft geschieht etwas Wunderbares: Die unterdrückten Triebe verwandeln sich in kulturell wertvolle Strebungen und werden so zur Grundlage der menschlichen Kultur. Freud hat diese merkwürdige Umwandlung des Unterdrückten in ein zivilisiertes Verhalten als Sublimierung bezeichnet. Wenn mehr unterdrückt werden muss als sublimiert werden kann, so wird der Betreffende neurotisch; dann muss man ihm erlauben, weniger zu unterdrücken. Im allgemeinen besteht jedoch ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Befriedigung der menschlichen Triebe und der Kultur: je größer die Unterdrückung, umso mehr Kultur (und umso größer ist die Gefahr, dass es zu neurotischen Störungen kommt). Die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft ist nach Freuds Theorie ihrem Wesen nach statisch: Der Einzelne bleibt sich praktisch immer gleich und ändert sich nur insoweit, als die Gesellschaft einen größeren Druck auf seine natürlichen Triebe ausübt (und so eine noch stärkere Sublimierung erzwingt) oder ihm mehr Befriedigung erlaubt (und dafür Kultur opfert).

Genau wie die früheren Psychologen die Existenz von Grundinstinkten annahmen, sah auch Freud die menschliche Natur im Wesentlichen als eine Widerspiegelung der wichtigsten beim modernen Menschen zu beobachtenden Triebregungen. Für ihn repräsentiert der einzelne Vertreter seiner Kultur „den Menschen“ schlechthin, und er sah in den für den Menschen der modernen Gesellschaft kennzeichnenden Leidenschaften und Ängsten ewige, in der biologischen Konstitution des Menschen wurzelnde Kräfte. [I-224]

Wir könnten für diese Sicht Freuds viele Beispiele anführen (etwa die gesellschaftliche Ursache der heute so weit verbreiteten Feindseligkeit, den Ödipuskomplex oder auch den sogenannten Kastrationskomplex der Frau[4]). Ich möchte mich jedoch auf ein Beispiel beschränken, das mir deshalb besonders wichtig erscheint, weil es die Gesamtauffassung vom Menschen als einem sozialen Wesen betrifft. Freud betrachtet den Einzelnen stets in seinen Beziehungen zu anderen. Diese Beziehungen sind jedoch nach Freuds Ansicht annähernd gleichbedeutend mit den wirtschaftlichen Beziehungen, welche für den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft charakteristisch sind. Ein jeder arbeitet für sich selbst, individualistisch auf sein eigenes Risiko und nicht in erster Linie in Zusammenarbeit mit anderen. Aber er ist auch kein Robinson Crusoe; er ist auf die anderen angewiesen als Kunden, als Arbeitnehmer oder als Arbeitgeber. Er muss kaufen und verkaufen, geben und nehmen. Der Markt reguliert diese Beziehungen, ob es sich nun um den Gebrauchsgütermarkt oder um den Arbeitsmarkt handelt. Daher ist der Einzelne in erster Linie allein und selbstgenügsam. Knüpft er mit anderen wirtschaftliche Beziehungen an, so geschieht das nur zu dem einen Zweck: zu verkaufen und zu kaufen. Freuds Auffassung von den menschlichen Beziehungen entspricht im Wesentlichen dieser Auffassung: Der Einzelne ist mit biologischen Trieben ausgestattet, die unbedingt befriedigt werden müssen. Um sie zu befriedigen, tritt er mit anderen „Objekten“ in Beziehung. So sind ihm die anderen Menschen stets Mittel zum Zweck, zum Zweck der Befriedigung von Strebungen, die im Individuum bereits vorhanden sind, bevor es mit anderen in Kontakt kommt. Der Bereich menschlicher Beziehungen im Sinne Freuds gleicht dem Markt: Es handelt sich dabei um einen Austausch von Befriedigungen biologisch bedingter Bedürfnisse, wobei die Beziehung zu anderen Personen stets ein Mittel zum Zweck und niemals Selbstzweck ist.

Im Gegensatz zu Freuds Standpunkt gründet sich meine Analyse in diesem Buch auf die Überzeugung, dass das Schlüsselproblem der Psychologie die spezifische Art der Bezogenheit des Individuums zur Welt und nicht die Befriedigung oder Nicht-Befriedigung dieses oder jenes triebhaften Bedürfnisses an sich ist. Außerdem gehe ich von der Annahme aus, dass die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft keine statische ist. Es ist nicht so, als ob es da einerseits einen Einzelmenschen gäbe, der von der Natur mit bestimmten Trieben ausgestattet wurde, und andererseits die Gesellschaft als etwas, das außerhalb von ihm existiert und diese angeborenen Strebungen entweder befriedigt oder unbefriedigt lässt. Wenn es auch gewisse allen Menschen gemeinsame Bedürfnisse gibt, wie etwa Hunger, Durst und Sexualität, sind jene Triebe, welche die Unterschiede im Charakter der Menschen bedingen – etwa Liebe und Hass, das Streben nach Macht und das Verlangen, sich zu unterwerfen, die Freude an sinnlichem Genuss und die Angst davor –, sämtlich Produkte des gesellschaftlichen Prozesses. Die schönsten wie auch die abscheulichsten Neigungen des Menschen sind kein festgelegter, biologisch gegebener Bestandteil seiner Natur, sondern das Resultat des gesellschaftlichen Prozesses, der den Menschen erzeugt. Die Gesellschaft hat also nicht nur die Funktion, etwas zu unterdrücken – obwohl sie auch diese Funktion hat –, sondern auch eine kreative Funktion. Die Natur des Menschen, seine Leidenschaften und seine Ängste, sind ein Produkt der Kultur. Tatsächlich ist der Mensch [I-225] selbst die wichtigste Schöpfung und Errungenschaft des unaufhörlichen menschlichen Bemühens, die Dokumentation dessen, was wir Geschichte nennen.

Es ist die besondere Aufgabe des Sozialpsychologen, diesen Prozess der Selbsterzeugung des Menschen in der Geschichte verstehen zu lernen. Wieso kommt es beim Übergang von einer historischen Epoche zur anderen zu bestimmten Veränderungen im menschlichen Charakter? Weshalb ist der Geist der Renaissance so anders als der des Mittelalters? Weshalb ist die Charakterstruktur des Menschen im Zeitalter des Monopolkapitalismus anders als die im 19. Jahrhundert? Aufgabe der Sozialpsychologie ist es zu erklären, wieso neue Fähigkeiten und neue Leidenschaften – schlechte oder gute – entstehen. So finden wir zum Beispiel, dass seit der Renaissance bis in unsere Tage der Mensch von einem brennenden Ehrgeiz nach Ruhm erfüllt ist, während dieses uns heute so selbstverständlich erscheinende Streben in der mittelalterlichen Gesellschaft kaum vorhanden war (vgl. J. Burckhardt, 1928, 3. Kap., 2. und 4. Abschnitt). In der Renaissance entwickelten die Menschen auch ein Gefühl für die Schönheit der Natur, das sie zuvor nicht besaßen. Dann aber erwarb der Mensch in den Ländern des Nordens seit dem 16. Jahrhundert ein zwanghaftes Streben zu arbeiten, wie es bis dahin bei freien Menschen nicht zu beobachten war.

Der Mensch wird jedoch nicht nur von der Geschichte geschaffen. Die Geschichte wird auch ihrerseits vom Menschen geschaffen. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs bildet das Aufgabenfeld der Sozialpsychologie.[5] Die Aufgabe besteht darin, nicht nur zu zeigen, wie die Leidenschaften, Wünsche und Ängste sich als Resultat des gesellschaftlichen Prozesses ändern und entwickeln, sondern auch wie die so in bestimmte Formen geprägten Energien des Menschen ihrerseits zu Produktivkräften werden, welche den gesellschaftlichen Prozess formen. So sind zum Beispiel das Streben nach Ruhm und Erfolg und der Trieb zur Arbeit Kräfte, ohne die sich der moderne Kapitalismus nicht hätte entwickeln können. Ohne diese und eine Reihe anderer menschlicher Kräfte hätte dem Menschen der Antrieb gefehlt, sich den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen des modernen Wirtschafts- und Industriesystems entsprechend zu verhalten.

Hieraus folgt, dass der in diesem Buch vertretene Standpunkt sich von dem Freuds insofern unterscheidet, als ich seine Interpretation der Geschichte als Resultat psychologischer Kräfte, die ihrerseits nicht gesellschaftlich bedingt sind, nachdrücklich ablehne. Ebenso nachdrücklich lehne ich jene Theorien ab, die außer acht lassen, dass der Faktor „Mensch“ eines der dynamischen Elemente im gesellschaftlichen Prozess ist. Diese Kritik richtet sich nicht nur gegen soziologische Theorien, die – wie die von Durkheim und seiner Schule – psychologische Probleme ausdrücklich aus der Soziologie heraushalten möchten, sondern auch gegen Theorien, die mehr oder weniger an einer behavioristischen Psychologie orientiert sind. Allen diesen Theorien ist die Annahme gemeinsam, dass die menschliche Natur keine eigene Dynamik besitzt, so dass psychologische Veränderungen nur als Entwicklung neuer Gewohnheiten, als Anpassung an neue kulturelle Muster aufzufassen sind. Diese Theorien reden zwar [I-226] auch von dem psychologischen Faktor, doch reduzieren sie ihn zum bloßen Schatten kultureller Muster. Nur eine dynamische Psychologie, zu der Freud die Grundlagen gelegt hat, kann dem Faktor „Mensch“ wirklich gerecht werden. Wenn es auch keine von vornherein festgelegte menschliche Natur gibt, so darf man sie doch auch nicht als etwas unbegrenzt Formbares ansehen, das sich an Bedingungen jeder Art anpassen könnte, ohne eine eigene psychologische Dynamik zu entwickeln. Wenngleich die menschliche Natur das Produkt der historischen Entwicklung ist, so besitzt sie doch bestimmte ihr innewohnende Mechanismen und Gesetze, deren Aufdeckung die Aufgabe der Psychologie ist.

Hier scheint es mir zum vollen Verständnis des bereits Gesagten wie auch des noch Folgenden angebracht, auf den Begriff der Anpassung näher einzugehen. Diese Diskussion soll gleichzeitig veranschaulichen, was wir unter psychologischen Mechanismen und Gesetzen verstehen. Dabei scheint es mir angebracht, zwischen einer „statischen“ und einer „dynamischen“ Anpassung zu unterscheiden. Unter statischer Anpassung verstehe ich eine Anpassung an Verhaltensmuster, bei der die gesamte Charakterstruktur unverändert bleibt und bei der es nur darum geht, sich an eine neue Gewohnheit anzupassen. Ein Beispiel für diese Art der Anpassung ist ein Chinese, der sich an Stelle der eigenen Essgewohnheiten an die Benutzung von Messer und Gabel gewöhnt. Ein Chinese, der nach Amerika kommt, wird sich zwar an diese für ihn neue Gewohnheit anpassen, doch wird diese Anpassung kaum einen Einfluss auf seine Persönlichkeit haben; sie erzeugt bei ihm keine neuen Triebe oder Charakterzüge.

Unter dynamischer Anpassung verstehe ich dagegen die Art von Anpassung, zu der es beispielsweise kommt, wenn ein kleiner Junge sich den Geboten eines strengen, bedrohlichen Vaters unterwirft – weil er zu große Angst vor diesem hat, um sich anders zu verhalten – und so zu einem „braven“ Jungen wird. Während er sich den Notwendigkeiten der Situation anpasst, geschieht etwas mit ihm. Er entwickelt vielleicht eine intensive Feindseligkeit gegen seinen Vater, die er verdrängt, weil es zu gefährlich wäre, sie offen zu äußern oder sich ihrer auch nur bewusst zu werden. Diese verdrängte Feindseligkeit ist jedoch, obwohl sie nicht manifest ist, ein dynamischer Faktor in seiner Charakterstruktur. Sie kann neue Angst erzeugen und so zu einer noch stärkeren Unterwerfung führen; sie kann aber auch zu einer unbestimmten Trotzhaltung führen, die sich nicht gegen jemand besonderes, sondern vielmehr gegen das Leben im Allgemeinen richtet. Während sich hier – genau wie im ersten Fall – ein Mensch bestimmten äußeren Umständen anpasst, erzeugt diese Art der Anpassung in ihm etwas Neues, erregt in ihm neue Triebe und neue Ängste. Jede Neurose ist ein Beispiel für eine solche dynamische Anpassung; sie ist ihrem Wesen nach eine Anpassung an äußere Bedingungen (besonders in der frühen Kindheit), die in sich selbst irrational und ganz allgemein dem Wachstum und der Entwicklung des Kindes abträglich sind. Es gibt auch sozio-psychologische Phänomene, die neurotischen Phänomenen ähnlich sind. (Wir werden noch darauf zurückkommen, weshalb man sie nicht als neurotisch bezeichnen sollte.) Hierzu gehören etwa starke destruktive und sadistische Impulse in sozialen Gruppen, die ein Beispiel für die dynamische Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen geben, welche für die Entwicklung der Menschen [I-227] irrational und schädlich sind. Neben der Frage, um welche Art von Anpassung es sich jeweils handelt, sind noch weitere Fragen zu beantworten: Was ist es, das den Menschen zwingt, sich fast jeder nur vorstellbaren Lebensbedingung anzupassen, und welche Grenzen sind einer solchen Anpassungsfähigkeit gesetzt?

Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir uns zunächst damit befassen, dass es gewisse Bereiche in der menschlichen Natur gibt, die flexibler und anpassungsfähiger sind als andere. All jene Strebungen und Charakterzüge, durch die sich die Menschen voneinander unterscheiden, sind bis zu einem gewissen Grad elastisch und formbar: z.B. Liebe, Destruktivität, Sadismus, die Neigung, sich anderen zu unterwerfen, Machtstreben, Absonderung von anderen, das Verlangen nach Selbstverherrlichung, übertriebene Sparsamkeit, die Freude an sinnlichem Genuss und die Angst vor der Sinnlichkeit. Diese und viele andere Strebungen und Ängste, die im Menschen zu finden sind, entwickeln sich als Reaktion auf bestimmte Lebensbedingungen. Sind diese Ängste und Bestrebungen erst einmal zu einem Bestandteil des Charakters eines bestimmten Menschen geworden, verlieren sie ihre Flexibilität, verschwinden nicht mehr so leicht und verwandeln sich auch nicht mehr in andere Triebe. Aber sie sind doch in dem Sinn flexibel, als einzelne Menschen – insbesondere in ihrer Kindheit – entsprechend ihrer jeweiligen Lebensumstände das eine oder andere Bedürfnis entwickeln. Keines dieser Bedürfnisse ist so definitiv festgelegt und starr, als wenn es ein angeborener Bestandteil der menschlichen Natur wäre, der sich entwickelt und unter allen Umständen befriedigt werden muss.

Im Gegensatz zu diesen Bedürfnissen gibt es noch andere, bei denen es sich um unentbehrliche Teile der menschlichen Natur handelt und die unbedingt befriedigt werden müssen, nämlich jene Bedürfnisse, die in der physiologischen Organisation des Menschen wurzeln, wie etwa Hunger, Durst, Schlafbedürfnis und dergleichen. Bei jedem dieser Bedürfnisse gibt es eine bestimmte Schwelle, jenseits derer eine fehlende Befriedigung unerträglich ist. Wird sie überschritten, so gewinnt das Bedürfnis nach Befriedigung die Qualität einer unwiderstehlichen Strebung. Alle diese physiologisch bedingten Bedürfnisse lassen sich in den Begriff des Bedürfnisses nach Selbsterhaltung zusammenfassen. Dieses Bedürfnis nach Selbsterhaltung ist der Teil der menschlichen Natur, der unter allen Umständen befriedigt werden muss, und stellt daher das primäre Motiv menschlichen Verhaltens dar.

Auf eine einfache Formel gebracht heißt das: Der Mensch muss essen, trinken, schlafen, sich gegen Feinde schützen usw. Um all das tun zu können, muss er arbeiten und produzieren. „Arbeit“ ist jedoch nichts Allgemeines oder Abstraktes. Bei der Arbeit handelt es sich stets um konkrete Arbeit, das heißt um eine spezifische Art der Arbeit in einem spezifischen Wirtschaftssystem. Jemand kann als Sklave in einem Feudalsystem, als Bauer in einem indianischen Pueblo, als selbständiger Geschäftsmann in einer kapitalistischen Gesellschaft, als Verkäuferin in einem modernen Warenhaus oder als Arbeiter am Fließband einer großen Fabrik arbeiten. Diese verschiedenen Arten der Arbeit erfordern völlig unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale und führen zu unterschiedlichen Arten der Bezogenheit zu anderen. Wenn ein Mensch geboren wird, ist der Schauplatz seines Lebens bereits festgelegt. Er muss essen und trinken, und deshalb muss er arbeiten; er muss also unter den spezifischen [I-228] Bedingungen und auf eben die Art arbeiten, die ihm durch die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, vorgeschrieben ist. Beide Faktoren, sein Bedürfnis zu leben und das Gesellschaftssystem, kann er als Individuum prinzipiell nicht ändern, und es sind diese Faktoren, die die Entwicklung jener anderen, flexibleren Charakterzüge bestimmen. So wird die Lebensweise, wie sie für den Einzelnen durch die Besonderheit eines Wirtschaftssystems gegeben ist, zu dem Faktor, der primär seine gesamte Charakterstruktur bestimmt, weil der gebieterische Selbsterhaltungstrieb ihn zwingt, die Bedingungen, unter denen er leben muss, zu akzeptieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht zusammen mit anderen versuchen könnte, gewisse ökonomische und politische Veränderungen herbeizuführen. Aber primär wird seine Persönlichkeit durch die besondere Lebensweise bestimmt, mit der er schon als Kind durch das Medium seiner Familie konfrontiert wurde und die alle Merkmale aufweist, die für eine bestimmte Gesellschaft oder Klasse typisch sind.[6] Die physiologisch bedingten Bedürfnisse sind nicht der einzige gebieterische Bestandteil der menschlichen Natur. Sie hat noch einen anderen ebenso zwingenden Aspekt, der nicht in körperlichen Prozessen wurzelt, sondern der im Wesen der menschlichen Lebensweise und Lebenspraxis begründet liegt: das Bedürfnis, auf die Welt außerhalb seiner selbst bezogen zu sein, und das Bedürfnis, Einsamkeit zu vermeiden. Wenn man sich völlig allein und isoliert fühlt, so führt das zur seelischen Desintegration, genau wie das Fehlen von Nahrung zum Tode führt. Diese Bezogenheit auf andere ist nicht dasselbe wie körperlicher Kontakt. Ein Mensch kann in physischer Beziehung viele Jahre lang für sich allein leben und trotzdem mit Ideen, Werten oder wenigstens mit gesellschaftlichen Verhaltensmustern verbunden sein, die ihm ein Gefühl der Gemeinsamkeit geben, das Gefühl „dazu zu gehören“. Andererseits kann man unter Menschen leben und trotzdem von einem Gefühl unbeschreiblicher Vereinsamung überwältigt werden, das – wenn es eine gewisse Grenze überschreitet – zu einer Geisteskrankheit mit schizophrener Symptomatik führt. Diese fehlende Beziehung zu Werten, Symbolen oder bestimmten Verhaltensmustern können wir als „seelische Vereinsamung“ bezeichnen. Diese ist ebenso unerträglich wie die körperliche Vereinsamung, oder – besser gesagt – die körperliche Vereinsamung wird erst unerträglich, wenn die seelische Vereinsamung hinzukommt. Die geistige Bezogenheit auf die Welt kann viele Formen annehmen. Der Mönch, der allein in seiner Zelle lebt, aber an Gott glaubt, und der politische Gefangene, der in Isolierhaft gehalten wird, sich aber mit seinen Mitkämpfern eins fühlt, sind seelisch nicht allein.

Auch der englische Gentleman, der [I-229] noch in der fremdesten Umgebung seinen Smoking trägt, ist es nicht, genauso wenig wie der Kleinbürger, der zwar von seinen Mitbürgern völlig isoliert lebt, sich aber mit seinem Volk oder dessen Symbolen eins fühlt. Die Bezogenheit auf die Welt kann von hohen Idealen getragen oder trivial sein, aber selbst wenn sie noch so trivialer Art ist, ist sie dennoch dem Alleinsein noch unendlich vorzuziehen. Die Religion und der Nationalismus oder auch irgendeine Sitte oder ein noch so absurder und menschenunwürdiger Glaube sind – wenn sie den Einzelnen nur mit anderen verbinden – eine Zuflucht vor dem, was der Mensch am meisten fürchtet: die Isolation.

Das zwingende Bedürfnis, die seelische Isolierung zu vermeiden, hat Balzac in den Leiden eines Erfinders besonders eindrucksvoll geschildert:

Aber merke dir eines und präge es deinem noch so formbaren Geist ein: Der Mensch hat eine panische Angst vor dem Alleinsein. Und von allen Arten des Alleinseins ist das seelische Alleinsein die schrecklichste. Die ersten Einsiedler lebten mit Gott, sie bewohnten die am dichtesten bevölkerte Welt, die Welt der Geister. Der erste Gedanke des Menschen, sei er ein Aussätziger oder ein Gefangener, ein Sünder oder ein Krüppel, ist stets der, einen Schicksalsgefährten zu finden. Um diesen Drang, der das Leben selber ist, zu stillen, nimmt er seine ganze Energie, seine ganze Kraft zusammen. Hätte wohl Satan jemals Gefährten gefunden ohne diesen übermächtigen Drang? Man könnte über dieses Thema ein ganzes Epos schreiben, das der Prolog zum Verlorenen Paradies wäre, weil das Verlorene Paradies nichts anderes ist als die Apologie der Rebellion. (H. de Balzac, 1965.)

Der Versuch, die Frage zu beantworten, weshalb die Angst vor der Isolation im Menschen so mächtig ist, würde uns vom Hauptziel dieses Buches zu weit abführen. Doch möchte ich immerhin andeuten, in welcher Richtung meiner Ansicht nach die Antwort zu suchen ist, um beim Lesen nicht den Eindruck zu erwecken, als ob an dem Bedürfnis, sich mit anderen eins zu fühlen, etwas Geheimnisvolles sei.

Eine wichtige Rolle spielt die Tatsache, dass der Mensch nicht leben kann, ohne irgendwie mit anderen zusammenzuarbeiten. In jeder nur vorstellbaren Kultur muss der Mensch, wenn er am Leben bleiben will, mit anderen zusammenarbeiten, entweder indem er sich mit ihnen gemeinsam gegen Feinde oder Naturgewalten verteidigt, oder um arbeiten und produzieren zu können. Selbst Robinson Crusoe hatte seinen Gefährten Freitag; ohne diesen wäre er vermutlich nicht nur wahnsinnig geworden, sondern tatsächlich umgekommen. Jeder erlebt die Hilfsbedürftigkeit besonders drastisch als Kind. Da das Kind tatsächlich noch nicht in der Lage ist, sich hinsichtlich der lebenserhaltenden Funktionen selbst zu versorgen, ist die Kommunikation mit anderen eine Frage auf Leben und Tod. Die Möglichkeit, allein gelassen zu werden, ist deshalb zweifellos die schwerste Bedrohung im Leben.

Aber noch etwas anderes macht das Bedürfnis „dazuzugehören“ so überwältigend stark, nämlich die Tatsache, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, dass er die Fähigkeit zu denken hat, wodurch er sich seiner selbst als einer individuellen Größe bewusst wird, von der Natur und von anderen Menschen unterschieden. Obwohl der Grad dieses Bewusstseins variiert, wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden, sieht sich der Mensch hierdurch doch mit einem Problem konfrontiert, das seinem Wesen nach ein menschliches Problem ist: Dadurch, dass er sich als von der Natur und den [I-230] anderen Menschen unterschieden erfährt, und dadurch, dass er sich – wenn auch nur vage – bewusst ist, dass es Tod, Krankheit und Alter gibt, empfindet er unvermeidlich seine Bedeutungslosigkeit und Kleinheit im Vergleich zum All und zu allen anderen, die nicht „er“ sind. Wenn er nicht irgendwo dazugehörte, wenn sein Leben keinen Sinn und keine Richtung hätte, würde er sich wie ein Staubkörnchen vorkommen und von seiner individuellen Bedeutungslosigkeit überwältigt werden. Er wäre nicht fähig, zu einem anderen System in Beziehung zu treten, das seinem Leben Sinn und Richtung gibt. Er wäre voller Zweifel, und dieses Zweifeln würde schließlich seine Fähigkeit zu handeln – d.h. zu leben – lähmen.

Bevor wir jetzt weitergehen, möchte ich noch einmal zusammenfassen, was bisher über unsere allgemeine Methode gesagt wurde, die Probleme der Sozialpsychologie anzugehen. Die menschliche Natur ist weder eine biologisch von vornherein festgelegte, angeborene Summe von Trieben, noch ist sie der leblose Schatten kultureller Muster, dem sie sich reibungslos anpasst. Sie ist vielmehr das Produkt der menschlichen Entwicklung, doch besitzt sie auch ihre eigenen Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten. Es gibt in der menschlichen Natur gewisse Faktoren, die festgelegt und unveränderlich sind: die Notwendigkeit, die physiologisch bedingten Triebe zu befriedigen, und die Notwendigkeit, Isolierung und seelische Vereinsamung zu vermeiden. Wir sahen, dass der Einzelne die Lebensweise akzeptieren muss, die im besonderen Produktions- und Verteilungssystem seiner Gesellschaft verwurzelt ist. Im Prozess der dynamischen Anpassung an die Kultur entwickeln sich eine Anzahl mächtiger Triebe, welche die Handlungen und Gefühle des Einzelnen motivieren. Der Einzelne kann sich dieser Triebe bewusst sein oder auch nicht. Sie sind in jedem Fall mächtig in ihm und verlangen nach Befriedigung, wenn sie sich einmal entwickelt haben. Sie werden zu machtvollen Kräften, die ihrerseits den gesellschaftlichen Prozess mitgestalten. Wie die wirtschaftlichen, die psychologischen und ideologischen Faktoren sich wechselseitig beeinflussen und welche weiteren Schlüsse aus dieser Interaktion zu ziehen sind, wird Gegenstand unserer Analyse der Reformation und des Faschismus in einem späteren Kapitel sein. (Im Anhang werde ich die allgemeinen Aspekte der Wechselbeziehung zwischen psychologischen und sozio-ökonomischen Kräften eingehender erläutern.)

Im Mittelpunkt dieser Erörterung wird stets das Hauptthema dieses Buches stehen: die Freiheit. Der Mensch hat – je mehr er aus seinem ursprünglichen Einssein mit seinen Mitmenschen und der Natur heraustritt und „Individuum“ wird, keine andere Wahl, als sich entweder mit der Welt in spontaner Liebe und produktiver Arbeit zu vereinen oder aber auf irgendeine Weise dadurch Sicherheit zu finden, dass er Bindungen an die Welt eingeht, die seine Freiheit und die Integrität seines individuellen Selbst zerstören.[7]

2 Das Auftauchen des Individuums und das Doppelgesicht der Freiheit

Bevor wir uns nun unserem Hauptthema zuwenden – der Frage, was die Freiheit dem heutigen Menschen bedeutet und weshalb und auf welche Weise er ihr zu entrinnen trachtet – müssen wir zunächst noch eine bestimmte Auffassung erörtern, die uns vielleicht nicht eben aktuell vorkommen mag, ohne die wir jedoch nicht verstehen können, was Freiheit in der modernen Gesellschaft bedeutet. Ich meine die Auffassung, dass Freiheit ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Existenz ist und dass ihre Bedeutung sich ändert, je nachdem in welchem Grad der Mensch sich seiner selbst als einem unabhängigen und separaten Wesen bewusst ist und sich als solches begreift.

Die Geschichte des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens begann damit, dass er aus einem Zustand des Einsseins mit der Natur heraustrat und sich seiner selbst als einer von der ihn umgebenden Natur und seinen Mitmenschen abgesonderten Größe bewusst wurde. Allerdings blieb dieses Bewusstsein während langer Geschichtsperioden sehr vage und unbestimmt. Noch immer blieb der Einzelne an die Welt der Natur und an die Gesellschaft, aus der er hervorgegangen war, gebunden, und wenn er sich auch bis zu einem gewissen Grad bewusst war, eine separate Größe zu sein, so fühlte er sich doch gleichzeitig als Teil der ihn umgebenden Welt. Der Prozess der immer stärkeren Loslösung des Individuums von seinen ursprünglichen Bindungen, den wir als „Individuation“ bezeichnen können, scheint in den Jahrhunderten zwischen der Reformation und der Gegenwart seinen Höhepunkt erreicht zu haben.

In der Lebensgeschichte des Einzelnen begegnen wir dem gleichen Prozess. Ein Kind wird geboren, wenn es mit seiner Mutter keine Einheit mehr bildet und zu einer von ihr getrennten biologischen Größe wird. Obwohl diese biologische Trennung den Anfang der individuellen menschlichen Existenz darstellt, bleibt das Kind doch, was seine Lebensfunktionen anbetrifft, noch ziemlich lange eine Einheit mit seiner Mutter.

In dem Maße wie der Einzelne – bildlich gesprochen – die Nabelschnur, die ihn mit der Außenwelt verbindet, nicht völlig durchtrennt hat, ist er noch nicht frei; andererseits verleihen ihm diese Bindungen Sicherheit und Verwurzelung. Ich möchte die [I-232] Bindungen, die bestehen, bevor der Prozess der Individuation zur völligen Loslösung des Individuums geführt hat, als „primäre Bindungen“ bezeichnen. Sie sind organisch in dem Sinne, als sie ein Bestandteil der normalen menschlichen Entwicklung sind; sie implizieren einen Mangel an Individualität, aber sie verleihen dem Betreffenden auch Sicherheit und ermöglichen ihm eine Orientierung. Es sind jene Bindungen, die das Kind mit der Mutter, den Angehörigen eines primitiven Stammes mit seiner Sippe und der Natur oder den mittelalterlichen Menschen mit der Kirche und seinem sozialen Stand verbinden. Ist einmal das Stadium der völligen Individuation erreicht und hat sich der Einzelne von diesen primären Bindungen gelöst, so sieht er sich vor eine neue Aufgabe gestellt: Er muss sich jetzt in der Welt orientieren, neu Wurzeln finden und zu einer neuen Sicherheit auf andere Weise gelangen, als dies für seine vorindividuelle Existenz charakteristisch war. Freiheit hat demnach jetzt eine andere Bedeutung als vor dieser Entwicklungsstufe. Wir müssen hier kurz innehalten, um diese Begriffe klarzustellen, indem wir sie anhand der Entwicklung der Einzelmenschen und der Gesellschaft konkreter erörtern.

Der verhältnismäßig plötzliche Übergang vom Fötus zur menschlichen Existenz und das Durchschneiden der Nabelschnur ist ein Zeichen dafür, dass das Kind vom Mutterleib unabhängig geworden ist. Aber diese Unabhängigkeit ist nur in dem Sinne wirklich eingetreten, als beide Körper jetzt voneinander getrennt sind. In Bezug auf seine Körperfunktionen bleibt das Kleinkind noch ein Teil der Mutter. Es wird von ihr gefüttert, getragen und sein Leben hängt von ihrer Fürsorge ab. Langsam nur gelangt das Kind dazu, die Mutter und Gegenstände als von ihm getrennte Größen zu erkennen. Bei diesem Prozess spielt die neurologische und die allgemeine körperliche Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle, dass es lernt, Gegenstände – körperlich und geistig – zu erfassen und mit ihnen umzugehen. Durch die eigene Aktivität lernt es die Welt außerhalb seiner selbst kennen. Der Individuationsprozess wird durch die Erziehung gefördert. Dieser Prozess bringt eine Reihe von Versagungen und Verboten mit sich, wodurch die Rolle der Mutter sich verändert. Sie wird zu einer Person, die nun Dinge vom Kind verlangt, welche seinen Wünschen entgegenstehen, und erscheint ihm jetzt oft als eine feindselige und gefährliche Person.[8] Dieser Antagonismus, der einen Teil des Erziehungsprozesses – wenn auch keineswegs die ganze Erziehung – ausmacht, spielt eine wichtige Rolle dabei, dass das Kind lernt, schärfer zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ zu unterscheiden.

Nach der Geburt vergehen einige Monate, bevor das Kind andere Personen auch nur als solche erkennt und fähig ist, mit einem Lächeln auf sie zu reagieren, und es dauert Jahre, bis es gelernt hat, sich nicht mehr mit dem All zu verwechseln. (Vgl. J. Piaget, 1932, S. 407; sowie H. S. Sullivan, 1940, S. 10 ff.) Bis dahin zeigt es die besondere Art von Ich-Bezogenheit, die für das Kind typisch ist, eine Ich-Bezogenheit, die eine zärtliche Liebe zu anderen und ein Interesse an ihnen nicht ausschließt, wobei es die [I-233] „anderen“ aber noch nicht als tatsächlich von ihm getrennt erlebt. Aus dem gleichen Grund bedeutet es auch etwas anderes, wenn das Kind sich in seinen ersten Lebensjahren an eine Autorität anlehnt, als wenn jemand das später tut. Die Eltern – oder wer immer sonst diese Autorität sein mag – werden vom Kind noch nicht als eine grundsätzlich von ihm getrennte Größe angesehen; sie sind Teil seiner Welt, und diese Welt ist noch ein Teil des Kindes; die Unterwerfung unter sie besitzt deshalb eine andere Qualität als jene Art der Unterwerfung, um die es sich dann handelt, wenn zwei Menschen wirklich zwei voneinander getrennte Persönlichkeiten sind.

Eine bemerkenswert scharfsinnige Schilderung, wie ein zehnjähriges Mädchen sich plötzlich der eigenen Individualität bewusst wird, gibt Richard Hughes in dem Roman A High Wind in Jamaica:

Und dann ereignete sich etwas, was für Emily sehr wichtig war. Sie merkte plötzlich, wer sie war. Es ist schwer zu sagen, weshalb sie es nicht schon fünf Jahre früher oder auch erst fünf Jahre später merkte; und es bleibt auch unklar, weshalb es gerade an diesem Nachmittag dazu kam. Sie hatte „Haus im Winkel“ gespielt, direkt am Bug hinterm Ankerspill (an das sie einen gespaltenen Haken als Türklopfer gehängt hatte); dann war sie des Spiels überdrüssig geworden und war ziemlich ziellos nach achtern geschlendert, wobei sie träumerisch über Bienen und die Feenkönigin nachdachte – als ihr plötzlich durch den Sinn fuhr, dass sie sie war. Sie blieb wie angewurzelt stehen und fing an, sich über alles Rechenschaft zu geben, was sie von sich sehen konnte. Viel war das gerade nicht, nur eine verkürzte Ansicht ihres Kleides und ihre Hände, als sie sie hochhielt, um sie zu betrachten. Aber das genügte, um ihr eine Vorstellung von ihrem kleinen Körper zu geben, von dem sie plötzlich merkte, dass es ihrer war.
Sie lachte ein bisschen spöttisch und dachte ungefähr Folgendes: „Stell dir bloß mal vor, dass von allen Leuten ausgerechnet dir so etwas passiert! – Jetzt kommst du da nicht mehr raus, wenigstens sehr lange nicht. Du musst es erst hinter dich bringen, dass du ein Kind bist und größer wirst und alt wirst, bevor du aus dem verrückten Kram wieder rauskommst!“
Fest entschlossen, sich auf keinen Fall bei diesem höchst wichtigen Ereignis stören zu lassen, kletterte sie an der Strickleiter zum Mastkorb, ihrem Lieblingsplatz, hoch. Aber jedesmal wenn sie bei dieser einfachen Tätigkeit einen Arm oder ein Bein bewegte, war sie immer wieder verwundert darüber, dass sie ihr so bereitwillig gehorchten. Natürlich sagte ihr ihr Gedächtnis, dass sie das früher auch getan hatten, aber sie hatte sich niemals klargemacht, wie erstaunlich das war. Als sie oben auf ihrem Sitz saß, fing sie an, die Haut ihrer Hände mit größter Sorgfalt zu untersuchen, denn sie gehörten ja ihr. Sie schlüpfte mit einer Schulter aus ihrem Kleid und guckte an sich herunter, um festzustellen, ob sie wirklich unter ihren Kleidern weiterging, und hob dann die Achsel, bis sie damit ihre Wange berührte. Die Berührung ihres Gesichts mit der warmen nackten Schulter ließ sie auf angenehme Weise erschauern, so als ob ein lieber Freund sie gestreichelt hätte. Aber sie hätte nicht sagen können, ob dieses Gefühl von ihrer Wange oder ihrer Schulter ausging – wer da gestreichelt hatte und wer die Gestreichelte war.
Nachdem sie endlich von der erstaunlichen Tatsache, jetzt Emily Bas-Thornton zu sein, ganz überzeugt war (warum sie das „jetzt“ einschob, hätte sie nicht sagen können [I-234] – denn ganz bestimmt dachte sie nicht an so einen Blödsinn wie Seelenwanderung und dass sie vielleicht früher jemand anders gewesen wäre), fing sie an, ernsthaft über die Folgen dieser Erkenntnis nachzudenken“ (R. Hughes, 1956).

Je mehr das Kind heranwächst und sich von den primären Bindungen löst, umso mehr entwickelt sich bei ihm ein Suchen nach Freiheit und Unabhängigkeit. Aber wir können das Schicksal dieses Suchens nur ganz verstehen, wenn wir uns die Dialektik im Prozess der zunehmenden Individuation klarmachen. Dieser Prozess hat zwei Aspekte. Der eine besteht darin, dass das Kind körperlich, seelisch und geistig kräftiger wird. In jedem dieser Bereiche nehmen Intensität und Aktivität zu. Gleichzeitig werden die Sphären immer mehr integriert. Es entwickelt sich eine organisierte Struktur, die vom Willen und von der Vernunft des Betreffenden gelenkt wird. Wenn wir dieses organisierte und integrierte Ganze der Persönlichkeit als das Selbst bezeichnen, so können wir auch sagen, dass die eine Seite des Wachstumsprozesses der Individuation das Wachstum der Stärke des Selbst ist. Dem Wachstum der Individuation und des Selbst sind Grenzen gesetzt, teils durch individuelle Bedingungen, aber im Wesentlichen durch die gesellschaftlichen Umstände. Denn wenn auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen in dieser Hinsicht groß erscheinen mögen, so kennzeichnet doch jede Gesellschaft ein gewisses Individuationsniveau, über das der normale Einzelne nicht hinausgelangen kann. Der andere Aspekt des Individuationsprozesses ist die zunehmende Vereinsamung. Die primären Bindungen bieten Sicherheit und eine ursprüngliche Einheit mit der Welt außerhalb. Je mehr das Kind aus dieser Welt herauswächst, desto mehr merkt es, dass es allein und eine von allen anderen getrennte Größe ist. Diese Lostrennung von einer Welt, die im Vergleich zur eigenen individuellen Existenz überwältigend stark und mächtig, oft auch bedrohlich und gefährlich ist, erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. Solange man ein integrierter Teil jener Welt war und sich der Möglichkeiten und der Verantwortlichkeit individuellen Tuns noch nicht bewusst war, brauchte man auch keine Angst davor zu haben. Ist man erst zu einem Individuum geworden, so ist man allein und steht der Welt mit allen ihren gefährlichen und überwältigenden Aspekten gegenüber.

Es kommen Impulse auf, die eigene Individualität aufzugeben und das Gefühl der Einsamkeit und Ohnmacht dadurch zu überwinden, dass man völlig in der Außenwelt aufgeht. Diese Impulse und die neuen Bindungen, die sich daraus ergeben, sind jedoch mit den primären, im Wachstumsprozess gelösten Bindungen nicht identisch. Genau wie ein Kind physisch niemals in den Mutterleib zurückkehren kann, so kann es auch psychisch den Individuationsprozess niemals wieder rückgängig machen. Alle Versuche, es doch zu tun, nehmen daher zwangsläufig den Charakter einer Unterwerfung an, bei dem der grundsätzliche Widerspruch zwischen der Autorität und dem Kind, das sich unterwirft, nie beseitigt wird. Bewusst mag das Kind sich sicher und zufrieden fühlen, aber unbewusst merkt es, dass es dies mit dem Preis der Stärke und Integrität seines Selbst bezahlen muss. So hat die Unterwerfung genau das Gegenteil dessen zur Folge, was damit beabsichtigt war: Sie vergrößert die Unsicherheit des Kindes und erzeugt gleichzeitig Feindseligkeit und Aufbegehren, was umso Angst erregender ist, als es sich eben gegen die Personen richtet, von denen das Kind auch weiterhin – oder wieder erneut – abhängig ist. [I-235]

Aber die Unterwerfung ist nicht der einzige Weg, der Einsamkeit und der Angst zu entgehen. Der andere Weg – der einzige, der produktiv ist und nicht mit einem unlösbaren Konflikt endet – besteht darin, dass man mit seinen Mitmenschen und der Natur spontan in Beziehung tritt, und zwar in eine Beziehung, welche den Einzelnen mit der Welt verbindet, ohne seine Individualität auszulöschen. Diese Art der Beziehung – deren beste Äußerungsformen Liebe und produktive Arbeit sind – wurzelt in der Integration und Stärke der Gesamtpersönlichkeit, weshalb ihr dieselben Grenzen gesetzt sind wie dem Wachstum des Selbst.

Wir werden weiter unten noch ausführlicher auf das Problem der Unterwerfung und des spontanen Tätigseins als zwei möglichen Resultaten der zunehmenden Individuation eingehen; hier möchte ich nur auf das allgemeine Prinzip, den dialektischen Prozess, hinweisen, der aus der wachsenden Individuation und Freiheit des Individuums resultiert. Das Kind kann sich freier entfalten und sein individuelles Selbst zum Ausdruck bringen, ohne dass es dabei durch jene hemmenden Bindungen behindert wird. Aber das Kind wird auch stärker von jener Welt frei, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gab. Der Individuationsprozess ist ein Prozess der wachsenden Stärke und Integration der Persönlichkeit, bei dem die ursprüngliche Identität mit anderen verlorengeht und bei dem das Kind stärker von ihnen abgesondert wird. Diese fortschreitende Loslösung kann zur Isolierung führen, die trostlos ist und intensive Angst und Unsicherheit hervorbringt. Sie kann aber auch zu einem neuartigen Gefühl von Nähe und Solidarität mit anderen führen, wenn es dem Kind gelingt, die innere Stärke und Produktivität zu entwickeln, welche die Vorbedingung für diese neue Art der Bezogenheit zur Welt ist.

Wenn jeder Schritt, der zur Loslösung und zur Individuation führt, mit einem entsprechenden Wachstum des Selbst Hand in Hand ginge, so würde dies zu einer harmonischen Entwicklung des Kindes führen. Leider ist das aber nicht der Fall. Während der Individuationsprozess automatisch vor sich geht, wird das Wachstum des Selbst aus einer Reihe von individuellen und gesellschaftlichen Gründen behindert. Die Kluft zwischen diesen beiden Tendenzen führt zu einem unerträglichen Gefühl der Isolierung und Ohnmacht; diese ihrerseits lösen psychische Mechanismen aus, auf die wir später unter dem Begriff der „Fluchtmechanismen“ näher eingehen werden.

Auch phylogenetisch kann man die Menschheitsgeschichte als einen Prozess wachsender Individuation und Freiheit verstehen. Der Mensch taucht aus seinem vormenschlichen Zustand empor, indem er die ersten Schritte unternimmt, von seinen zwangsmäßigen Instinkten freizukommen. Wenn wir unter Instinkt ein spezifisches Handlungsmuster verstehen, das durch eine ererbte neurologische Struktur bedingt ist, so kann man im Tierreich eine deutlich ausgeprägte Entwicklungstendenz beobachten. (Diesen Begriff des Instinkts darf man jedoch nicht mit den physiologisch bedingten Trieben – wie Hunger, Durst etc. – verwechseln, bei denen die Art der Befriedigung nicht festgelegt und durch Vererbung determiniert ist.) Je tiefer ein Tier auf der Entwicklungsleiter steht, umso mehr wird es in seinem gesamten Verhalten von instinktiven und reflexbedingten Mechanismen beherrscht. Die berühmten sozialen Organisationen gewisser Insektenarten sind völlig instinktbedingt. Andererseits ist die Flexibilität der Handlungsmuster umso größer und die strukturierte [I-236] Anpassung bei Geburt umso geringer, je höher ein Tier auf der Entwicklungsleiter steht. Diese Entwicklung erreicht beim Menschen ihren Höhepunkt. Er ist bei seiner Geburt das hilfloseste aller Lebewesen. Seine Anpassung an die Natur beruht im Wesentlichen auf einem Lernprozess und nicht auf instinktbedingter Determination. „Der Instinkt (...) ist eine ständig geringer werdende, wenn nicht ganz verschwindende Kategorie bei den höheren Formen der Lebewesen, besonders beim Menschen“ (L. L. Bernard, 1924, S. 509).

Die menschliche Existenz nimmt in dem Augenblick ihren Anfang, wo die Instinktbedingtheit des Handelns unter einen bestimmten Punkt abgesunken ist, wo die Anpassung an die Natur nicht mehr zwangsmäßig erfolgt, wo das Verhalten nicht länger durch erbmäßig gegebene Mechanismen festgelegt ist. Mit anderen Worten: Menschliche Existenz und Freiheit sind von Anfang an nicht zu trennen. Freiheit ist hier nicht in ihrem positiven Sinne als „Freiheit zu etwas“, sondern in ihrem negativen Sinne als „Freiheit von etwas“ zu verstehen, nämlich im Sinn der Determination des Verhaltens durch Instinkte.

Freiheit im eben besprochenen Sinne ist ein zwiespältiges Geschenk. Der Mensch wird ohne die für ein zweckmäßiges Handeln geeignete Ausrüstung, wie sie das Tier besitzt, geboren. (Vgl. R. Linton, 1936, Kap. IV.) Er ist länger als jedes Tier von seinen Eltern abhängig, und seine Reaktionen auf die Umgebung sind langsamer und weniger wirksam, als es bei automatisch ablaufenden instinktiven Handlungen der Fall ist. Er macht alle Gefahren und Ängste durch, die mit diesem Fehlen einer Instinktausrüstung verbunden sind. Aber gerade diese Hilflosigkeit des Menschen ist der Ursprung der menschlichen Entwicklung. Die biologische Schwäche des Menschen ist die Voraussetzung der menschlichen Kultur.

Vom Anfang seiner Existenz an ist der Mensch vor die Wahl gestellt zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten. Beim Tier finden wir eine ununterbrochene Kette von Reaktionen, die von einem bestimmten Reiz – etwa dem Hunger – ausgeht und zu einem mehr oder weniger genau festgelegten Handlungsablauf führt, der die durch den Reiz hervorgerufene Spannung abbaut. Beim Menschen wird diese Kette unterbrochen. Der Reiz ist vorhanden, aber die Art seiner Befriedigung bleibt „offen“, d.h. er muss zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens seine Wahl treffen. An Stelle eines im Voraus determinierten instinkthaften Verhaltens muss der Mensch im Geist die verschiedenen möglichen Verhaltensweisen gegeneinander abwägen. Er beginnt zu denken. Er verändert seine Rolle der Natur gegenüber aus einer rein passiven Anpassung in eine aktive: Er erzeugt etwas. Er erfindet Werkzeuge, und indem er so die Natur meistert, sondert er sich immer mehr von ihr ab. Er wird sich vage seiner selbst – oder besser gesagt, seiner Gruppe – bewusst, als Größe, die nicht mit der Natur identisch ist. Es dämmert ihm, dass er das tragische Schicksal hat, ein Teil der Natur zu sein und sie trotzdem zu transzendieren. Er wird sich bewusst, dass sein Schicksal schließlich der Tod sein wird, auch wenn er dies mit vielfältigen Phantasien zu verleugnen sucht.

Eine besonders aufschlussreiche Darstellung der grundsätzlichen Beziehung, die zwischen dem Menschen und der Freiheit besteht, finden wir im biblischen Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies. [I-237]

Dieser Mythos setzt den Beginn der Menschheitsgeschichte mit einem Akt der Wahl gleich, doch betont er höchst nachdrücklich die Sündhaftigkeit dieses ersten Aktes der Freiheit und das sich daraus ergebende Leiden. Mann und Frau leben im Garten Eden in vollkommener Harmonie miteinander und mit der Natur. Es herrscht Friede, und es besteht keine Notwendigkeit zu arbeiten. Auch gibt es keine Entscheidungen zu fällen, keine Freiheit und auch kein Denken. Dem Menschen ist es verboten, vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Er missachtet Gottes Gebot und zerstört dadurch den Zustand der Harmonie mit der Natur, von der er zunächst ein Teil ist und die er nicht transzendiert. Vom Standpunkt der Kirche aus, welche die Autorität repräsentiert, ist diese Handlung ihrem Wesen nach eine Sünde. Vom Standpunkt des Menschen aus bedeutet sie dagegen den Anfang der menschlichen Freiheit. Gegen Gottes Gebot handeln, heißt sich vom Zwang befreien, aus der unbewussten Existenz des vormenschlichen Lebens zum Niveau des Menschen emportauchen. Gegen das Gebot der Autorität handeln, eine Sünde begehen, ist in seinem positiven menschlichen Aspekt der erste Akt der Freiheit, d.h. die erste menschliche Tat. Im Mythos besteht die Sünde in ihrem formalen Aspekt darin, dass der Mensch gegen Gottes Gebot handelt; in materialer Hinsicht besteht sie im Essen vom Baume der Erkenntnis. Der Akt des Ungehorsams als ein Akt der Freiheit ist der Anfang der Vernunft. Der Mythos spricht auch noch von weiteren Konsequenzen dieses ersten Aktes der Freiheit. Die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur ist zerbrochen. Gott erklärt den Krieg zwischen Mann und Frau, den Krieg zwischen der Natur und dem Menschen. Der Mensch wird von der Natur abgesondert, er hat den ersten Schritt getan, dadurch menschlich zu werden, dass er ein „Individuum“ wird. Er hat die erste Tat der Freiheit vollbracht. Der Mythos betont, dass diese Tat Leiden zur Folge hat. Der Mensch, der die Natur transzendiert, der sich von ihr und einem anderen menschlichen Wesen entfremdet, findet sich nackt und schämt sich. Er ist allein und frei, aber machtlos und voller Angst. Die neugewonnene Freiheit erscheint ihm als Fluch. Er ist frei von der süßen Knechtschaft des Paradieses, aber er besitzt noch nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu realisieren.

„Freiheit von“ ist nicht das gleiche wie positive Freiheit, nämlich „Freiheit zu“. Das Auftauchen des Menschen aus der Natur ist ein sich lange hinziehender Prozess. Der Mensch bleibt großenteils an jene Welt gebunden, aus der er auftauchte; er bleibt ein Teil der Natur: von der Erde, auf der er lebt, von Sonne, Mond und Sternen, von Bäumen, Blumen und Tieren und von der Gruppe von Menschen, mit der er durch die Blutsbande verbunden ist. Die primitiven Religionen bezeugen dieses menschliche Gefühl des Einsseins mit der Natur. Die belebte und die unbelebte Natur sind Teil der Welt des Menschen, oder – wie man auch sagen könnte – er ist noch immer ein Teil der Welt der Natur.

Die primären Bindungen des Menschen blockieren seine volle Entfaltung. Sie stehen der Entwicklung seiner Vernunft und seinen kritischen Fähigkeiten im Wege; sie machen, dass er sich und die anderen nur durch das Medium seiner bzw. ihrer Zugehörigkeit zu einer Sippe, einer sozialen oder religiösen Gemeinschaft, und nicht als menschliches Wesen erlebt; mit anderen Worten: Sie blockieren seine Entwicklung [I-238] zu einem freien, über sich selbst bestimmenden, produktiven Individuum. Das ist der eine Aspekt, aber es gibt noch einen anderen. Diese Identität mit der Natur, der Sippe, der Religion gibt dem Einzelnen auch Sicherheit. Er gehört zu einem strukturierten Ganzen, er ist darin verwurzelt und hat darin seinen Platz, den ihm niemand streitig macht. Er kann durch Hunger oder Unterdrückung leiden, aber er leidet nicht an dem Allerschmerzlichsten – an völliger Einsamkeit und Zweifel.

Wir sehen, dass der Prozess wachsender menschlicher Freiheit den gleichen dialektischen Charakter besitzt, den wir beim Prozess des individuellen Wachstums beobachten konnten. Auf der einen Seite handelt es sich um einen Prozess der zunehmenden Stärke und Integration, der Meisterung der Natur und der zunehmenden Beherrschung der menschlichen Vernunft, der wachsenden Solidarität mit anderen Menschen. Zum anderen aber bedeutet diese wachsende Individuation auch zunehmende Isolierung, Unsicherheit und, hierdurch bedingt, zunehmenden Zweifel an der eigenen Rolle im Universum, am Sinn des eigenen Lebens und, durch das alles bedingt, ein wachsendes Gefühl der eigenen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit als Individuum.

Wenn der Prozess der Entwicklung der Menschheit harmonisch verlaufen wäre, wenn er nach einem bestimmten Plan abgelaufen wäre, so wären beide Seiten der Entwicklung – die wachsende Stärke und die wachsende Individuation – genau gegeneinander abgewogen. So aber ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Konflikte und Kämpfe. Jeder Schritt in Richtung einer wachsenden Individuation hat die Menschheit mit neuen Unsicherheiten bedroht. Einmal gelöste primäre Bindungen können nicht mehr geflickt werden; in ein einmal verlassenes Paradies kann der Mensch nicht zurückkehren. Es gibt nur eine einzige produktive Lösung für die Beziehung des Menschen zur Welt: seine aktive Solidarität mit allen Mitmenschen und sein spontanes Tätigsein, Liebe und Arbeit, die ihn wieder mit der Welt einen, nicht durch primäre Bindungen, sondern als freies, unabhängiges Individuum.

Wenn jedoch die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, von denen der gesamte Prozess der menschlichen Individuation abhängt, keine Grundlage für die Verwirklichung der Individualität im oben beschriebenen Sinn bieten, während die Menschen gleichzeitig die Bindungen verloren haben, die ihnen Sicherheit boten, dann macht dieser leere Raum die Freiheit zu einer unerträglichen Last. Sie wird dann gleichbedeutend mit Zweifel, mit einem Leben ohne Sinn und Richtung. Es entstehen dann machtvolle Tendenzen, vor dieser Art von Freiheit in die Unterwerfung oder in irgendeine Beziehung zu anderen Menschen und der Welt zu fliehen, die eine Milderung der Unsicherheit verspricht, selbst wenn sie den Menschen seiner Freiheit beraubt.

Die europäische und die amerikanische Geschichte seit dem Ende des Mittelalters ist die Geschichte des vollen Auftauchens des Individuums. Es handelt sich um einen Prozess, der in Italien während der Renaissance begonnen hat und der erst jetzt seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Mehr als vierhundert Jahre waren nötig, um die mittelalterliche Welt niederzureißen und die Menschen von den offenkundigsten Beschränkungen ihrer Freiheit zu erlösen. Aber während das Individuum sich in vieler Hinsicht geistig und emotional weiterentwickelt hat und in einem bisher [I-239] unerhörten Rahmen kulturelle Leistungen vollbringt, ist die Kluft zwischen der „Freiheit von“ und der „Freiheit zu“ ebenfalls noch größer geworden. Dieses Missverhältnis zwischen Freiheit von jeder Bindung und dem Mangel an Möglichkeiten zu einer positiven Verwirklichung der Freiheit und Individualität hat in Europa zu einer panikartigen Flucht vor der Freiheit in neue Bindungen oder zum mindesten in eine völlige Gleichgültigkeit geführt.

Wir wollen unsere Untersuchung der Bedeutung der Freiheit für den modernen Menschen mit einer Analyse der kulturellen Szene in Europa während des Spätmittelalters und dem Anfang der Neuzeit beginnen. In dieser Periode machte die wirtschaftliche Grundlage der Gesellschaft des Westens radikale Veränderungen durch, die von einer ebenso radikalen Veränderung der Persönlichkeitsstruktur der Menschen begleitet waren. Damals entwickelte sich ein neuer Freiheitsbegriff, der seinen bedeutsamsten ideologischen Ausdruck in den neuen religiösen Lehren der Reformation fand. Eine jede Deutung der Freiheit in der modernen Gesellschaft muss von der Epoche ausgehen, in der die Grundlagen der modernen Kultur gelegt wurden, denn dieses Stadium, das den heutigen Menschen geformt hat, gestattet uns deutlicher als jede spätere Periode das Doppelgesicht der Freiheit zu erkennen, das sich in der gesamten modernen Kultur bemerkbar machen sollte: die wachsende Unabhängigkeit des Menschen von äußeren Autoritäten einerseits und andererseits seine zunehmende Isolierung und das daraus entspringende Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen. Es verbessert unser Verständnis der neuen Elemente in der Persönlichkeitsstruktur des Menschen, wenn wir deren Ursprüngen auf den Grund gehen, denn wenn man die wesentlichen Merkmale des Kapitalismus und des Individualismus an ihren Wurzeln untersucht, kann man sie einem Wirtschaftssystem und einem Persönlichkeitstyp gegenüberstellen, die sich von den unseren grundsätzlich unterscheiden. Gerade dieser Unterschied lässt uns die Besonderheiten unseres modernen Gesellschaftssystems besser verstehen, die Art, wie es die Charakterstruktur der darin lebenden Menschen und den neuen Geist geformt hat, der die Folge dieser Veränderung der Persönlichkeit war.

Das nächste Kapitel wird außerdem zeigen, dass die Epoche der Reformation der gegenwärtigen Szene ähnlicher ist als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Tatsächlich dürfte es trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den beiden Perioden vermutlich seit dem sechzehnten Jahrhundert keine Epoche gegeben haben, die der unseren in Bezug auf die zwiespältige Bedeutung der Freiheit so ähnlich ist. Die Reformation ist die eine Wurzel der Idee der menschlichen Freiheit und Autonomie, wie die moderne Demokratie sie repräsentiert. Aber während man – besonders in den nichtkatholischen Ländern – diesen Aspekt der Reformation besonders hervorhebt, übersieht man ihren anderen Aspekt, nämlich die Betonung der Verderbtheit der menschlichen Natur, der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen und der Notwendigkeit, dass er sich einer Macht außerhalb seiner selbst unterordnet. Die Idee der Wertlosigkeit des Einzelnen, der grundsätzlichen Unfähigkeit, sich auf sich selbst zu verlassen sowie die Behauptung, der Mensch habe ein Bedürfnis, sich zu unterwerfen, gibt es auch in Hitlers Ideologie, in der jedoch die Betonung der Freiheit und der moralischen Grundsätze fehlt, die den Protestantismus kennzeichnen. [I-240]

Nicht nur wegen dieser ideologischen Ähnlichkeit ist die Epoche des fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts ein besonders fruchtbarer Ausgangspunkt für den Versuch, unsere heutige Szene zu verstehen. Es besteht auch eine grundsätzliche Ähnlichkeit in Bezug auf die gesellschaftliche Situation. Ich werde zu zeigen versuchen, inwiefern diese Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Situation die Ursache für Übereinstimmungen im ideologischen und psychologischen Bereich ist. Damals wie heute sah sich ein großer Teil der Bevölkerung durch revolutionäre Umwälzungen in der ökonomischen und gesellschaftlichen Struktur in seiner überkommenen Lebensweise bedroht. Dies galt – genau wie heute – besonders für die mittleren Schichten, die sich durch die Macht von privilegierten Institutionen und die Überlegenheit des Kapitals bedroht sahen. Diese Bedrohung beeinflusste den Geist und die Weltanschauung des bedrohten Teils der Gesellschaft insofern beträchtlich, als sie das Gefühl der Vereinsamung und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen noch verstärkte.

3 Freiheit im Zeitalter der Reformation

a) Mittelalterlicher Hintergrund und Renaissance

Das Bild des Mittelalters[9] ist auf zweierlei Weise entstellt worden. Der moderne Rationalismus sieht im Mittelalter im Wesentlichen das dunkle Zeitalter. Er begründet das mit dem allgemeinen Mangel an persönlicher Freiheit, mit der Ausbeutung der Masse der Bevölkerung durch eine kleine Minderheit, mit der Engstirnigkeit der Stadtbewohner, die bereits im Bauern der nächsten Umgebung einen gefährlichen und verdächtigen Fremdling sahen – vom Bewohner eines anderen Landes ganz zu schweigen –, und mit dem Aberglauben und der Unwissenheit des mittelalterlichen Menschen. Andererseits hat man das Mittelalter idealisiert, wozu besonders reaktionäre Philosophen, aber gelegentlich auch progressive Kritiker des modernen Kapitalismus beigetragen haben.

Diese weisen auf das Solidaritätsgefühl, auf die Unterordnung wirtschaftlicher Dinge unter menschliche Bedürfnisse, auf die [I-242] Unmittelbarkeit und Konkretheit der menschlichen Beziehungen, auf die übernationale Einstellung der katholischen Kirche und auf das Gefühl der Sicherheit hin, das den damaligen Menschen kennzeichnete. Beide Bilder sind richtig; nicht richtig ist, wenn man eines davon entwirft und vor dem anderen die Augen verschließt.

Was die mittelalterliche Gesellschaft von der modernen unterscheidet, ist ihr Mangel an individueller Freiheit. In jener früheren Periode war ein jeder an seine Rolle in der Gesellschaftsordnung gefesselt. Man hatte kaum eine Chance, von einer Gesellschaftsklasse in eine andere aufzusteigen, ja man hatte kaum die Möglichkeit, auch nur von einer Stadt in eine andere überzusiedeln. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, musste jeder da bleiben, wo er geboren war. Oft durfte er sich noch nicht einmal nach eigenem Belieben kleiden, noch durfte er essen, was er wollte. Der Handwerker musste seine Ware zu einem bestimmten Preis feilbieten, und der Bauer musste seine Erzeugnisse an einem bestimmten Ort, nämlich auf dem Marktplatz der Stadt, verkaufen. Dem Angehörigen einer Zunft war es verboten, technische Handwerksgeheimnisse an jemanden weiterzugeben, der nicht zur Zunft gehörte, und er war gezwungen, seinen Zunftgenossen alle günstigen Beschaffungsmöglichkeiten für Rohstoffe mitzuteilen. Das persönliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben wurde von Regeln und Verpflichtungen beherrscht, von denen praktisch kein Lebensbereich ausgenommen war.

Aber wenn auch der Einzelne in unserem modernen Sinne nicht frei war, so war er doch weder allein noch isoliert. Da der Mensch vom Augenblick seiner Geburt an seinen bestimmten, unverrückbaren Platz besaß, den ihm keiner streitig machte, war er in einem strukturierten Ganzen verwurzelt. Das Leben besaß für ihn einen Sinn, der keine Zweifel aufkommen ließ. Jeder war mit seiner Rolle in der Gesellschaft identisch. Er war ein Bauer, ein Handwerker oder ein Ritter – und nicht ein Individuum, welches zufällig gerade dieser Beschäftigung nachging. Die Gesellschaftsordnung betrachtete man als naturgegeben, und dass man ein bestimmter Teil davon war, verlieh einem ein Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit. Wettbewerb gab es relativ wenig. Man wurde in eine bestimmte wirtschaftliche Position hineingeboren, die jedem seinen durch die Tradition festgelegten Lebensunterhalt garantierte, genauso wie sie wirtschaftliche Verpflichtungen denen gegenüber mit sich brachte, die in der sozialen Hierarchie höher standen. Aber innerhalb der Grenzen seiner gesellschaftlichen Sphäre besaß der Einzelne tatsächlich ein beträchtliches Maß an Freiheit, sein Selbst in seiner Arbeit und in seinem Gefühlsleben zum Ausdruck zu bringen. Wenn es auch insofern keinen Individualismus im heutigen Sinn gab, dass man die uneingeschränkte Wahl zwischen vielen möglichen Lebensweisen gehabt hätte (eine Freiheit der Wahl, die im Übrigen auch heute weitgehend abstrakt ist), gab es doch im realen Leben ein beträchtliches Maß an konkretem Individualismus.

Es gab zwar viel Leid und Schmerzen, aber da war auch die Kirche, die das Leben dadurch erträglich machte, dass sie es als Folge der Sünde Adams und der Sündhaftigkeit jedes Einzelnen deutete. Die Kirche nährte ein Schuldgefühl, versicherte aber gleichzeitig uneingeschränkte Liebe zu allen ihren Kindern und zeigte ihnen den Weg, wie man zu der Überzeugung gelangen konnte, dass einem vergeben ist und man von Gott geliebt wird. Die Beziehung zu Gott war mehr von Vertrauen und Liebe [I-243] getragen als von Furcht und Zweifel. Genauso wie der Bauer und der Stadtbewohner nur selten über die Grenzen ihres Wohnbezirks hinauskamen, so hatte auch das Universum seine Grenze und war leicht zu begreifen. Erde und Menschen waren sein Mittelpunkt, der Himmel und die Hölle waren der zukünftige Aufenthaltsort, und von der Geburt bis zum Tod war alles Tun transparent in Bezug auf Ursache und Wirkung.

Obwohl die Gesellschaft derart strukturiert war und dem Menschen Sicherheit bot, hielt sie ihn andererseits in Knechtschaft gebunden. Es war eine andere Art von Knechtschaft als die, welche autoritäre Regime und Unterdrücker in späteren Jahrhunderten eingeführt haben. Die mittelalterliche Gesellschaft nahm dem Individuum seine Freiheit nicht weg, denn es gab das „Individuum“ damals überhaupt noch nicht. Der Mensch war immer noch durch seine primären Bindungen zur Welt bezogen. Er empfand sich selbst noch nicht als Individuum, außer durch das Medium seiner Rolle in der Gesellschaft (einer Rolle, die damals von ihm noch als naturgegeben erlebt wurde). Auch die anderen Menschen empfand er nicht als „Individuen“. Der Bauer, der in die Stadt kam, war ein Fremder, und sogar innerhalb der Stadt betrachteten sich die Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen gegenseitig als Fremde. Das Gewahrwerden des eigenen individuellen Selbst, der Individualität anderer und der Welt als separater Größen war noch nicht voll entwickelt.

Der Tatsache, dass der Einzelne in der mittelalterlichen Gesellschaft sich seiner selbst noch nicht voll bewusst war, hat Jacob Burckhardt in seiner Beschreibung der mittelalterlichen Kultur klassischen Ausdruck verliehen:

„Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des allgemeinen“ (J. Burckhardt, 1928, S. 131). Im ausgehenden Mittelalter änderten sich die Gesellschaftsstruktur und die Persönlichkeit des Menschen. Die Einheit und Zentralisierung der mittelalterlichen Gesellschaft lockerte sich. Das Kapital, die individuelle wirtschaftliche Initiative und der Wettbewerb gewannen an Bedeutung; eine neue Klasse, die Geld besaß, kam auf. Ein zunehmender Individualismus wurde in allen Gesellschaftsschichten bemerkbar und machte seinen Einfluss in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit, in Geschmack und Mode, in Kunst, Philosophie und Theologie geltend. Ich möchte hierbei jedoch betonen, dass dieser ganze Prozess für die kleine Gruppe der reichen und wohlhabenden Kapitalisten einerseits und für die breiten Massen der Bauern und besonders des städtischen Bürgertums andererseits unterschiedliche Bedeutung hatte. Für Letzteres bedeutete diese neue Entwicklung bis zu einem gewissen Grade Reichtum und neue Chancen für eine persönliche Initiative, aber auch eine Bedrohung der herkömmlichen Lebensweise. Man sollte sich diesen Unterschied unbedingt von Anfang an vor Augen halten, weil in ihm die Ursache für die unterschiedlichen psychologischen und ideologischen Reaktionen dieser verschiedenen Gruppen zu suchen ist.

Die neue wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung vollzog sich in Italien intensiver als in West- und Mitteleuropa und hatte dort auch deutlichere Rückwirkungen auf [I-244] die Philosophie und Kunst sowie auf den gesamten Lebensstil. In Italien tauchte zum ersten Mal das Individuum aus der feudalen Gesellschaft auf und löste die Bindungen, die ihm einerseits Sicherheit gegeben und es andererseits eingeengt hatten. Der Italiener der Renaissance wurde – um mit Jacob Burckhardt (1928, S. 131) zu sprechen – „der Erstgeborene unter den Söhnen des jetzigen Europas“, das erste Individuum.

Eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Faktoren war schuld daran, dass die mittelalterliche Gesellschaft hier schneller als in Mittel- und Westeuropa zusammenbrach. Unter anderem lag es an der geographischen Lage Italiens und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Vorteilen zu einer Zeit, wo das Mittelmeer der große Handelsweg Europas war; außerdem führte der Kampf zwischen Kaiser und Papst zum Entstehen einer großen Anzahl unabhängiger Einzelstaaten. Die Nähe des Orients bewirkte, dass bestimmte Fertigkeiten, die zur Entwicklung wichtiger Industrien wie zum Beispiel der Seidenmanufaktur führten, nach Italien kamen, lange bevor sie in anderen Teilen Europas bekannt wurden.

Aus diesen und anderen Gründen entstand in Italien eine mächtige besitzende Klasse, deren Angehörige voller Initiative, Machtstreben und Ehrgeiz waren. Das feudale Ständesystem begann weniger wichtig zu werden. Vom 12. Jahrhundert an lebten Adlige und Bürger miteinander innerhalb der Stadtmauern. Im gesellschaftlichen Verkehr begannen sich die Standesunterschiede zu verwischen. Geburt und Abstammung waren weniger wichtig als Besitz. Außerdem geriet auch die traditionelle gesellschaftliche Schichtung des Volkes ins Wanken. In den Städten gab es nun die breite Masse ausgebeuteter und politisch unterdrückter Arbeiter. Burckhardt weist darauf hin, dass bereits 1231 die politischen Maßnahmen Friedrichs II. „auf die völlige Zernichtung des Lehnsstaates, auf die Verwandlung des Volkes in eine willenlose, unbewaffnete, im höchsten Grade steuerfähige Masse“ hinausliefen (1928, S. 3). Die Folge dieser Zerstörung der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur war das Auftauchen des Individuums in unserem modernen Sinne. Hierzu bemerkt Burckhardt (1928, S. 131 f.): „In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber den Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den anderen Asiaten als Rassenmenschen.“

Burckhardts Beschreibung des Geistes dieses neuen Individuums illustriert, was wir im vorigen Kapitel über die Loslösung des Individuums von seinen primären Bindungen sagten. Der Mensch entdeckt sich selbst und andere als Individuen, als separate Größen. Er entdeckt die Natur als etwas in zweierlei Hinsicht von ihm Abgesondertes: als Objekt, das es theoretisch und praktisch zu meistern gilt, und in ihrer Schönheit, als Gegenstand des Genusses. Er entdeckt die Welt, praktisch indem er neue Kontinente entdeckt, und geistig indem er einen kosmopolitischen Geist entwickelt, aus dem heraus Dante sagen kann: „Meine Heimat ist die ganze Welt.“[10] [I-245]

Die Renaissance war die Kultur einer reichen, mächtigen Oberschicht, die auf dem Kamm der Welle schwamm, welche der Sturm neuer ökonomischer Kräfte aufbranden ließ. Das Volk, das am Reichtum und an der Macht der herrschenden Gruppe keinen Anteil hatte, hatte die Sicherheit seines früheren Status verloren und war zu einer gestaltlosen Masse geworden, der man schmeichelte oder die man mit Drohungen einschüchterte, die aber stets von denen, die an der Macht waren, manipuliert und ausgebeutet wurde. Ein neuer Despotismus entstand Hand in Hand mit dem neuen Individualismus. Freiheit und Tyrannei, Individualität und Orientierungslosigkeit waren unentwirrbar miteinander verwoben. Die Renaissance war keine Kultur von kleinen Geschäftsleuten und Kleinbürgern, sondern eine Kultur reicher Adliger und Großbürger. Diesen gab ihre wirtschaftliche Tätigkeit ein Gefühl der Freiheit [I-246] und Individualität. Aber auch sie hatten zugleich etwas eingebüßt, nämlich die Sicherheit und das Zugehörigkeitsgefühl, das ihnen die mittelalterliche Gesellschaftsstruktur geboten hatte. Sie waren frei, aber sie waren auch einsamer. Sie benutzten ihre Macht und ihren Reichtum dazu, dem Leben das letzte an Lust abzugewinnen; aber dabei mussten sie sich, um die Massen zu beherrschen und den Konkurrenten in der eigenen Klasse gewachsen zu sein, skrupelloser Mittel bedienen – von der körperlichen Folter bis zur psychologischen Manipulation. Dieser wilde Kampf auf Leben und Tod um die Erhaltung von Macht und Besitz vergiftete alle menschlichen Beziehungen. An die Stelle der Solidarität mit den Mitmenschen – oder wenigstens mit den Angehörigen der eigenen Klasse – trat eine zynisch reservierte Einstellung; man sah im anderen ein „Objekt“, dessen man sich bediente und das man manipulierte oder das man auch bedenkenlos vernichtete, wenn es dem eigenen Vorteil diente. Der Einzelne war von einer leidenschaftlichen Egozentrik, von einer unersättlichen Gier nach Macht und Besitz erfüllt. Die Folge war, dass auch die Beziehung des Erfolgreichen zu seinem eigenen Selbst, sein Gefühl der Sicherheit und sein Selbstvertrauen vergiftet wurden. Das eigene Selbst wurde für ihn ebenso zum Objekt der Manipulation wie andere Menschen. Es steht zu bezweifeln, ob die mächtigen Herren des Kapitalismus der Renaissance sich wirklich so glücklich und sicher fühlten, wie sie oft hingestellt werden. Die Freiheit scheint ihnen zweierlei eingebracht zu haben: ein wachsendes Gefühl der Stärke und zugleich größere Vereinsamung, Zweifel und Skepsis (vgl. J. Huizinga, 1930, S. 159) und als Folge von all dem – Angst. Denselben Widerspruch finden wir auch in den philosophischen Schriften der Humanisten. Neben der Betonung der Würde des Menschen, seiner Individualität und seiner Stärke zeigen sie in ihrer Philosophie auch Unsicherheit und Verzweiflung. (Vgl. hierzu Diltheys Analyse Petrarcas (W. Dilthey, 1914, S. 19 ff.); ebenso Ch. E. Trinkhaus, 1940.)

Die grundsätzliche Unsicherheit, die aus der Stellung eines isolierten Individuums in einer feindlichen Welt resultierte, könnte die Entstehung eines Charakterzuges erklären, der – wie Burckhardt darlegt – für den Renaissancemenschen kennzeichnend und wenigstens in der gleichen Intensität bei einem Angehörigen der mittelalterlichen Gesellschaft nicht zu finden war: das leidenschaftliche Streben nach Ruhm. Wenn der Sinn des Lebens zweifelhaft geworden ist, wenn die Beziehung zu anderen Menschen und zur eigenen Person keine Sicherheit mehr bietet, dann ist der Ruhm ein Mittel, die Zweifel verstummen zu lassen. Er hat etwa die Funktion der ägyptischen Pyramiden oder des christlichen Glaubens an die Unsterblichkeit: Er befreit das Leben des Einzelnen von seiner Begrenztheit und mangelnden Stabilität und hebt es auf die Ebene der Unzerstörbarkeit empor. Wenn unser Name den Zeitgenossen bekannt ist und wir hoffen können, dass er Jahrhunderte überdauern wird, dann gewinnt unser Leben eben dadurch, dass es sich im Urteil anderer Menschen widerspiegelt, Bedeutung. Natürlich war diese Lösung für die Beseitigung der individuellen Unsicherheit nur in einer sozialen Gruppe möglich, deren Angehörige über die Mittel verfügten, sich Ruhm zu erwerben. Es war keine Lösung für die machtlosen Massen, die der gleichen Kultur angehörten, und sie kam auch für die städtische Mittelschicht nicht in Betracht, die das Rückgrat der Reformation bildete.

Wir sind von der Renaissance ausgegangen, weil diese Epoche der Anfang des [I-247] modernen Individualismus ist und weil außerdem die von den Historikern dieser Periode bereits geleistete Arbeit einiges Licht auf eben die Faktoren wirft, die für den Prozess von Bedeutung sind, welcher im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht – das Auftauchen des Menschen aus einer vorindividualistischen Existenz in eine solche, in der er sich als separate Größe ganz gewahr wird. Aber wenn auch die Ideen der Renaissance auf die weitere Entwicklung des europäischen Denkens nicht ohne Einfluss blieben, so sind doch die wesentlichen Wurzeln des modernen Kapitalismus, seine wirtschaftliche Struktur und der Geist, der ihn erfüllt, nicht in der italienischen Kultur des ausgehenden Mittelalters zu suchen, sondern in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Mittel- und Westeuropas und in den Lehren Luthers und Calvins.

Der Hauptunterschied zwischen den beiden Kulturen ist folgender: Die Renaissance stellte eine relativ hohe Entwicklungsstufe des Handels- und Industrie-Kapitalismus dar; es handelte sich um eine Gesellschaft, in der eine kleine Gruppe von reichen und mächtigen Einzelnen das Regiment führte und die gesellschaftliche Grundlage für die Philosophen und Künstler schuf, die dann dem Geist dieser Kultur Ausdruck verliehen. Die Reformation dagegen war im Wesentlichen eine Religion der städtischen Mittel- und Unterschichten und der Bauern. Auch Deutschland hatte seine reichen Geschäftsleute – wie etwa die Fugger – aber diese fühlten sich nicht von den neuen religiösen Lehren angesprochen, und sie repräsentierten auch nicht die Hauptbasis, auf der sich der moderne Kapitalismus aufbaute. Wie Max Weber gezeigt hat, war es das städtische Bürgertum, das zum Rückgrat der modernen kapitalistischen Entwicklung in der westlichen Welt wurde. (Vgl. M. Weber, 1920.) Entsprechend dem völlig anderen gesellschaftlichen Hintergrund der beiden Bewegungen ist anzunehmen, dass auch der Geist der Renaissance und der der Reformation verschieden waren. (Vgl. E. Troeltsch, 1923.) Wenn wir auf die Theologie Luthers und Calvins zu sprechen kommen, werden wir dabei auch einige dieser Unterschiede deutlich erkennen. Wir wollen dabei der Frage besondere Aufmerksamkeit schenken, wie sich die Befreiung von individuellen Fesseln auf die Charakterstruktur des städtischen Mittelstandes ausgewirkt hat. Wir wollen zu zeigen versuchen, dass im Luthertum und Calvinismus zwar ein neues Freiheitsgefühl zum Ausdruck kam, dass sie aber gleichzeitig eine Flucht vor der Last der Freiheit begründeten. Wir wollen uns zunächst mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation in Europa, insbesondere in Mitteleuropa zu Beginn des 16. Jahrhunderts beschäftigen und anschließend untersuchen, welche Rückwirkungen diese Situation auf die Persönlichkeit der damals Lebenden hatte, in welcher Beziehung die Lehren Luthers und Calvins zu diesen psychologischen Faktoren standen und welche Beziehung sich zwischen diesen neuen religiösen Lehren und dem Geist des Kapitalismus feststellen lässt.[11]

In der mittelalterlichen Gesellschaft war die wirtschaftliche Organisation in den [I-248] Städten relativ statisch. Seit dem späteren Mittelalter waren die Handwerker in ihren Zünften zusammengeschlossen. Jeder Meister hatte einen oder zwei Lehrlinge, und die Anzahl der Meister stand in einem bestimmten Verhältnis zu den Bedürfnissen des Gemeinwesens. Wenn es auch immer einige gab, die hart um ihren Lebensunterhalt kämpfen mussten, konnte ein Zunftmitglied sich doch im Großen und Ganzen darauf verlassen, dass es von seiner Hände Arbeit leben konnte. Wenn er etwa gute Stühle, Schuhe, Sättel oder gutes Brot herstellte, so tat er damit alles, was nötig war, um auf dem Niveau gesichert zu leben, das herkömmlicherweise seiner Stellung in der Gesellschaft entsprach. Er konnte sich auf seine „guten Werke“ verlassen, wenn wir diesen Begriff hier einmal nicht in seiner theologischen Bedeutung, sondern in seinem schlichten wirtschaftlichen Sinn gebrauchen. Die Zünfte verhinderten auch jeden heftigen Konkurrenzkampf unter ihren Mitgliedern und zwangen sie hinsichtlich der Materialbeschaffung und Produktionstechnik sowie der Preise ihrer Erzeugnisse zur Kooperation. Im Gegensatz zu der Tendenz, das Zunftsystem zusammen mit dem gesamten mittelalterlichen Leben zu idealisieren, weisen einige Historiker darauf hin, dass die Zünfte stets von einem gewissen monopolistischen Geist erfüllt gewesen seien und dass sie versucht hätten, eine kleine Gruppe zu schützen und Neuankömmlinge auszuschließen. Die meisten Autoren stimmen jedoch darin überein, man müsse auch bei Vermeidung jeder Idealisierung zugeben, dass die Zünfte sich auf gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit gründeten und dass sie ihren Mitgliedern eine relative Sicherheit boten. (Vgl. J. Kulischer, 1928, S. 192 ff. und die dort angeführte Literatur.)

Wie Werner Sombart gezeigt hat, wurde der Handel im Mittelalter im Wesentlichen von einer großen Anzahl kleiner Geschäftsleute abgewickelt. Groß- und Kleinhandel waren noch nicht voneinander getrennt, und selbst Kaufleute, die in fremde Länder gingen, wie etwa die Mitglieder der norddeutschen Hansa, verschmähten nicht den Kleinhandel. Auch zur Anhäufung von Kapital kam es bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nur sehr langsam. So erfreute sich der kleine Geschäftsmann einer beträchtlichen Sicherheit im Vergleich zur wirtschaftlichen Lage im ausgehenden Mittelalter, wo Großkapital und Monopolhandel zunehmende Bedeutung erlangten. „Vieles, was heute auf mechanischem Weg verrichtet wird“, sagt Professor Tawney in Bezug auf das Leben in einer mittelalterlichen Stadt, „wurde damals persönlich, intim und direkt erledigt, und es war kaum Raum vorhanden für eine Organisation von einem Ausmaß, das die dem Menschen entsprechenden Maßstäbe überschreitet, und für die Einstellung, die mit dem Hinweis auf die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit alle Skrupel zum Schweigen bringt und jede Rechnung endgültig abschließt“ (R. H. Tawney, 1926, S. 28).

Dies führt uns zu einem Punkt, der für das Verständnis der Situation des Einzelnen in der mittelalterlichen Gesellschaft wesentlich ist – zu den ethischen Ansichten über ökonomisches Handeln, wie sie nicht nur in den Lehren der katholischen Kirche, sondern auch in den weltlichen Gesetzen zum Ausdruck kamen. Wir schließen uns hier der Darstellung Tawneys an, da man ihn gewiss nicht in Verdacht haben kann, er sähe die mittelalterliche Welt zu ideal oder romantisch. Danach war die Grundeinstellung zum Wirtschaftsleben, „dass die wirtschaftlichen Interessen dem wirklichen Ziel des [I-249] Lebens, nämlich dem ewigen Heil, unterzuordnen sind und dass das wirtschaftliche Verhalten nur eine Seite des allgemeinen menschlichen Verhaltens darstellt, dass auch dafür wie für alles übrige Verhalten des Menschen die Gebote der Moral verbindlich sind.“

Tawney geht dann auf die mittelalterliche Auffassung vom ökonomischen Handeln noch näher ein:

Materieller Besitz ist notwendig; er hat eine sekundäre Bedeutung, denn der Mensch kann sich ohne ihn nicht selbst erhalten und andere nicht unterstützen.(...) Aber wirtschaftliche Motive sind verdächtig. Da es sich dabei um machtvolle Begierden handelt, fürchten sich die Menschen davor, doch erniedrigen sie sich nicht so weit, dass sie ihnen Beifall zollen. (...) In der mittelalterlichen Theorie ist kein Platz für eine wirtschaftliche Betätigung ohne moralisches Endziel, und wenn man eine Wissenschaft von der Gesellschaft auf die Annahme gegründet hätte, dass die Begierde nach wirtschaftlichem Gewinn eine konstante und messbare Macht sei, die man wie jede andere naturgegebene Kraft als eine unvermeidliche und selbstverständliche Gegebenheit hinnehmen müsse, so wäre das dem mittelalterlichen Denker kaum weniger irrational und unmoralisch erschienen, als wenn man das hemmungslose Austoben so unentbehrlicher Attribute wie der Streitsucht oder des Sexualtriebes zur Grundlage der Sozialphilosophie gemacht hätte. (...) Besitz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Besitz, sagt der Heilige Antonius. (...) Daher finden wir allenthalben Schranken, Einschränkungen, Warnungen davor, es zuzulassen, dass wirtschaftliche Interessen in ernsthafte Angelegenheiten hineinspielen. Es ist richtig, wenn der Mensch gerade soviel zu erwerben trachtet, wie er zu einem standesgemäßen Lebensunterhalt braucht. Nach mehr zu streben, ist nicht Unternehmungsgeist, sondern Habsucht, und die Habsucht zählt unter die Todsünden. Handel ist legitim; der unterschiedliche Reichtum an Bodenschätzen in den verschiedenen Ländern beweist, dass der Handel von der Vorsehung beabsichtigt ist. Aber er ist ein gefährliches Geschäft. Man muss sicher sein, dass man ihn zum öffentlichen Wohle betreibt und dass man keinen größeren Profit dabei erzielt, als den Lohn für die geleistete Arbeit. Privatbesitz ist eine notwendige Einrichtung, wenigstens in der Welt nach dem Sündenfall. Die Menschen arbeiten mehr und streiten weniger, wenn es sich um Privatbesitz handelt, als wenn es um Gemeinbesitz geht; jedoch sollte man das als eine Konzession an die menschliche Schwachheit hingehen lassen und ihm keinen Beifall zollen, so als ob es an sich wünschenswert wäre. Das Ideal wäre der Kommunismus – wenn nur der Mensch seiner Natur nach in der Lage wäre, sich zu ihm aufzuschwingen. Communis enim, steht im Decretum Gratianum, usus omnium, quae sunt in hoc mundo, omnibus hominibus esse debuit (Gemeinsam soll allen Menschen der Gebrauch von allem, was es auf dieser Erde gibt, sein.). Am besten wäre es, wenn der Grundbesitz etwas eingeschränkt würde. Er muss auf legitime Weise erworben sein. Er muss sich in möglichst vielen Händen befinden. Er muss für den Unterhalt der Armen sorgen. Er muss, soweit irgend möglich, Gemeinbesitz sein. Seine Eigentümer müssen bereit sein, ihn mit den Bedürftigen zu teilen, selbst wenn diese sich nicht in wirklicher Not befinden. (R. H. Tawney, 1926, S. 31-33; vgl. dt. S. 44-46.)

Wenn auch in dieser Auffassung Normen zum Ausdruck kommen und sie kein genaues Bild von der Wirklichkeit des wirtschaftlichen Lebens geben, so spiegelt sich [I-250] doch darin bis zu einem gewissen Grade tatsächlich der Geist der mittelalterlichen Gesellschaft.

Die relative Stabilität der Lage der Handwerker und Kaufleute, die für die mittelalterliche Stadt kennzeichnend war, wurde im ausgehenden Mittelalter langsam untergraben, bis sie im 16. Jahrhundert völlig zusammenbrach. Bereits im 14. Jahrhundert – oder sogar schon früher – machten sich mehr und mehr Unterschiede innerhalb der einzelnen Zünfte geltend, und alle Bemühungen, ihnen Einhalt zu gebieten, konnten nichts ausrichten. Manche Zunftgenossen besaßen mehr als die anderen und beschäftigten fünf oder sechs Gesellen an Stelle von einem oder zweien. Bald nahmen die Zünfte nur noch Personen auf, die ein gewisses Kapital besaßen. Andere wurden zu mächtigen Monopolgesellschaften, die aus ihrer Monopolstellung jeden Vorteil zu ziehen und ihre Kundschaft nach Kräften auszubeuten versuchten. Auf der anderen Seite verarmten viele Zunftgenossen und sahen sich gezwungen, außerhalb ihres traditionellen Berufes zusätzlich etwas Geld zu verdienen. Oft betrieben sie nebenher einen kleinen Handel. Viele von ihnen verloren ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und Sicherheit, während sie sich immer weiter verzweifelt an das traditionelle Ideal wirtschaftlicher Unabhängigkeit klammerten. (Vgl. K. Lamprecht, 1893, S. 207; W. Andreas, 1932, S. 303.)

Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung des Zunftsystems verschlechterte sich die Lage der Gesellen immer mehr. Während es in den Gewerbebetrieben Italiens und Flanderns bereits im 13. Jahrhundert oder noch früher eine Klasse unzufriedener Arbeiter gab, war die Lage der Gesellen in den Handwerkszünften noch relativ sicher.

Obwohl es nicht zutraf, dass jeder Geselle Meister werden konnte, wurden es doch viele von ihnen. Aber je mehr sich die Zahl der Gesellen unter einem Meister vergrößerte, umso mehr Kapital brauchte man, um Meister zu werden, und je mehr die Zünfte einen exklusiven Monopolcharakter annahmen, umso schlechter wurden die Aussichten für die Gesellen. Die Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung kam in wachsender Unzufriedenheit, in der Gründung eigener Verbände, in Streiks und sogar in gewalttätigen Aufständen zum Ausdruck.

Das über die wachsende kapitalistische Entwicklung der Handwerkergilden Gesagte gilt in noch stärkerem Maße für den Handel: Während es sich beim mittelalterlichen Handel in der Hauptsache um kleine Geschäfte innerhalb der Städte gehandelt hatte, nahm im 14. und 15. Jahrhundert der nationale und internationale Handel rasch zu. Wenn sich auch die Historiker nicht einig sind, wann genau die großen Handelsgesellschaften sich zu entwickeln begannen, so sind sie doch übereinstimmend der Ansicht, dass sie im 15. Jahrhundert immer mächtiger wurden und sich zu Monopolunternehmen entwickelten, welche durch ihre überlegene Kapitalkraft zu einer Gefahr für die kleinen Geschäftsleute wie auch für die Verbraucher wurden. Kaiser Sigismund versuchte im 15. Jahrhundert durch eine Reformgesetzgebung die Macht der Monopole zu brechen. Aber die Lage des kleinen Geschäftsmannes wurde immer unsicherer. Er hatte gerade genügend Einfluss, um seinen Beschwerden Gehör zu verschaffen, jedoch nicht genug, um ein wirksames Einschreiten durchzusetzen. (Vgl. J. S. Schapiro, 1909, S. 59.)

Der Erbitterung des kleinen Kaufmannes gegen die Monopolgesellschaften hat [I-251] Luther in seinem 1524 gedruckten Pamphlet Von Kaufshandlung und Wucher beredten Ausdruck verliehen: „(...) sie haben alle Ware unter ihren Händen und machens damit, wie sie wollen, und treiben ohn alle Scheu die obberührten Stücke; dass sie (die Preise) steigern oder erniedrigen nach ihrem Gefallen und drücken und verderben alle geringen Kaufleute gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser, gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen und frei von allen Gesetzen des Glaubens und der Liebe.“ (M. Luther, 1967, S. 281.)

Diese Worte Luthers könnten heute geschrieben sein. Die Angst und Wut, welche der Mittelstand im 15. und 16. Jahrhundert gegen die reichen Monopolherren empfand, ist in vieler Hinsicht den Gefühlen ähnlich, die der Mittelstand in unseren Tagen gegen Monopolbetriebe und mächtige Kapitalisten empfindet.

Auch im Gewerbe (industry) spielte das Kapital eine ständig wachsende Rolle. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist der Bergbau. Ursprünglich besaß jedes Mitglied der Bergmannszunft den „Kux“, welcher dem Anteil der von ihm geleisteten Arbeit entsprach. Aber im 15. Jahrhundert war es oft so, dass die Anteile sich im Besitz von Reichen befanden, die selbst nicht arbeiteten, und die Arbeit wurde immer häufiger von Lohnarbeitern verrichtet, die selbst an dem Unternehmen nicht beteiligt waren. Wie in anderen Gewerbezweigen, so war auch im Handel diese Entwicklung zum Kapitalismus hin zu beobachten, wodurch die Kluft zwischen Armen und Reichen immer tiefer wurde und die Unzufriedenheit der Besitzlosen wuchs.

Bezüglich der Lage des Bauernstandes sind die Historiker unterschiedlicher Meinung, doch scheint die nachfolgende Ansicht Schapiros von den meisten Historikern geteilt zu werden:

Trotz dieser Anzeichen von Wohlstand verschlechterte sich die Lage der Bauern rapide. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts waren nur noch sehr wenige unabhängige Eigentümer des Landes, das sie bebauten, und hatten Sitz und Stimme im Gemeinderat, was im Mittelalter stets das Zeichen bäuerlicher Unabhängigkeit und Gleichberechtigung war. Die allermeisten waren Hörige, die zwar persönlich frei waren, aber Abgaben zu entrichten und Frondienste nach bestimmten Vorschriften zu leisten hatten. Diese Hörigen bildeten das Rückgrat aller Bauernaufstände. Dieser bäuerliche Mittelstand, der in einer dem Grundbesitzer dienstbaren Dorfgemeinschaft in der Nähe von dessen Landsitz lebte, erkannte bald, dass die ständig wachsenden Abgaben und Dienstleistungen ihn praktisch zu Sklaven und die Dorfgemeinschaft zu einem Bestandteil des herrschaftlichen Gutes werden ließ. (J. S. Schapiro, 1909, S. 54 f.)

Die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaft brachte auch bedeutsame Veränderungen in der psychologischen Atmosphäre mit sich. Gegen Ende des Mittelalters begann ein Geist der Unrast um sich zu greifen. Unser moderner Zeitbegriff begann sich zu entwickeln. Die Minuten wurden kostbar. Es war symptomatisch für dieses neue Zeitgefühl, dass die Turmuhren in Nürnberg seit dem 16. Jahrhundert die Viertelstunden schlugen. (Vgl. K. Lamprecht, 1893, S. 200.) Man begann, die allzu vielen Feiertage als ein Unglück zu betrachten. Die Zeit wurde jetzt so wertvoll, dass man das Gefühl hatte, man dürfe sie nicht für nutzlose Dinge vergeuden. Mehr und mehr wurde die Arbeit zu einem höchsten Wert. Die neue Einstellung zur Arbeit gewann solches Gewicht, dass das Bürgertum sich gegen die wirtschaftliche Unproduktivität [I-252] der kirchlichen Einrichtungen aufzulehnen begann. Die Bettelorden gerieten wegen ihrer Unproduktivität als unmoralisch in Verruf.

Die Tüchtigkeit wurde zu einer der höchsten sittlichen Tugenden. Gleichzeitig wurde das Streben nach Reichtum und materiellem Erfolg zur allverzehrenden Leidenschaft. Jedermann laufe hinter jenen Geschäften und Beschäftigungen her, schalt der Prediger Martin Bucer, die den höchsten Gewinn versprächen. Das Studium der Künste und Wissenschaften gebe man auf und gehe lieber den gewöhnlichsten Beschäftigungen nach. Alle klugen Köpfe, die Gott mit der Fähigkeit zu edleren Studien begabt habe, widmeten sich nur noch der Geschäftemacherei, die heute so voller Unehrlichkeit sei, dass es die allerletzte Art sei, mit der sich ein ehrenwerter Mann abgeben sollte. (Vgl. die Zitate bei J. S. Schapiro, 1909, S. 21 f.)

Eine wichtige Konsequenz der beschriebenen wirtschaftlichen Veränderungen betraf jeden. Das mittelalterliche Gesellschaftssystem ging zugrunde und mit ihm die Stabilität und relative Sicherheit, die es dem Einzelnen geboten hatte. Jetzt, mit dem Beginn des Kapitalismus, gerieten alle Gesellschaftsschichten in Bewegung. Es gab in der Wirtschaftsordnung keinen festen Platz mehr, den man als naturgegeben und unantastbar ansehen konnte. Der Einzelne war sich selbst überlassen; alles hing nurmehr von seinen eigenen Anstrengungen ab, nicht von der Sicherheit seines traditionellen Standes.

Allerdings wurde jeder Stand auf seine Weise von dieser Entwicklung betroffen. Für die Armen in den Städten, die Arbeiter und Lehrburschen, bedeutete es wachsende Ausbeutung und Verarmung; auch für die Bauern verstärkte sich der wirtschaftliche und persönliche Druck; und dem niederen Adel drohte – wenn auch auf andere Weise – der Ruin. Während für diese Schichten die neue Entwicklung im Wesentlichen eine Veränderung zum Schlechteren bedeutete, war die Situation für das städtische Bürgertum weit verwickelter. Wir erwähnten bereits die zunehmenden Unterschiede, die sich innerhalb desselben herausbildeten. Weite Schichten gerieten in eine sich ständig verschlechternde Lage. Viele Handwerker und kleine Händler sahen sich kapitalkräftigeren Konkurrenten oder Monopolbesitzern gegenüber, und es fiel ihnen immer schwerer, sich ihre Selbständigkeit zu erhalten. Oft kämpften sie gegen überwältigende Mächte an, und für viele war es ein verzweifelter und hoffnungsloser Kampf. Anderen Teilen des Bürgertums ging es jedoch besser, und sie hatten teil an der allgemeinen Aufwärtsbewegung des entstehenden Kapitalismus. Aber selbst diese mehr vom Glück Begünstigten gerieten durch die zunehmende Bedeutung des Kapitals, des Marktes und des Wettbewerbs persönlich in eine Situation der Unsicherheit, Isolation und Angst.

Dass das Kapital entscheidende Bedeutung gewann, besagte, dass eine überpersönliche Macht jetzt über ihr wirtschaftliches und damit auch ihr persönliches Schicksal bestimmte. Das Kapital „hatte aufgehört, Diener zu sein, und war zum Herrn geworden. Nachdem es ein eigenes, unabhängiges Leben gewonnen hatte, nahm es das Recht für sich in Anspruch, der dominierende Partner zu sein und die seinen eigenen anspruchsvollen Bedürfnissen entsprechende Wirtschaftsordnung zu diktieren.“ (R. H. Tawney, 1926, S. 86.)

Die neue Funktion des Marktes wirkte sich ähnlich aus. Der mittelalterliche Markt [I-253] war verhältnismäßig bescheiden, und es war leicht zu verstehen, wie er funktionierte. Er brachte Nachfrage und Angebot in eine direkte, konkrete Beziehung zueinander. Der Erzeuger wusste ungefähr, wie viel er erzeugen musste, und konnte verhältnismäßig sicher sein, seine Produkte auch zu einem angemessenen Preis zu verkaufen. Jetzt aber musste man für einen sich ständig erweiternden Markt produzieren, und man konnte die Verkaufsmöglichkeiten nicht mehr im Voraus abschätzen. Daher genügte es nicht mehr, brauchbare Waren zu produzieren. Wenn das auch weiterhin eine Vorbedingung dafür war, dass man sie auch verkaufen konnte, so entschieden doch die nicht vorauszusagenden Gesetze des Marktes darüber, ob man seine Erzeugnisse überhaupt absetzen und welchen Gewinn man dabei erzielen konnte. Der Mechanismus des neuen Marktes schien der Calvin’schen Prädestinationslehre zu gleichen, wonach jedermann sich zwar nach Kräften bemühen musste, ein guter Mensch zu sein, wo jedoch bereits vor seiner Geburt darüber bestimmt war, ob er der Erlösung teilhaftig werden würde oder nicht. Der Markttag wurde gleichsam zum Tag des Jüngsten Gerichts für die Erzeugnisse menschlicher Arbeit.

Von wesentlicher Bedeutung in diesem Zusammenhang war auch die immer wichtiger werdende Rolle, die der Wettbewerb jetzt spielte. Natürlich hatte dieser in der mittelalterlichen Welt nicht völlig gefehlt, aber das Feudalsystem gründete sich auf das Prinzip der Kooperation und wurde durch Normen reguliert – oder reglementiert –, die den Wettbewerb stark einschränkten. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus machte dieses Prinzip immer mehr dem individualistischen Unternehmergeist Platz. Ein jeder musste auf eigene Faust sein Glück versuchen. Es hieß jetzt schwimmen oder untergehen. Andere waren ihm nicht durch Gemeinschaftsarbeit verbunden, sie wurden zu seinen Konkurrenten, und er sah sich oft vor die Wahl gestellt, sie entweder zugrunde zu richten oder selbst ruiniert zu werden. (Vgl. zum Problem des Wettbewerbs M. Mead, 1961, sowie L. K. Frank, 1940.)

Gewiss spielten Kapital, Markt und individueller Konkurrenzkampf im 16. Jahrhundert noch nicht die wichtige Rolle, die ihnen später zufallen sollte; doch waren schon damals alle entscheidenden Elemente des modernen Kapitalismus wie auch dessen psychologische Auswirkungen auf den Einzelnen vorhanden.

Wir haben allerdings bisher nur die eine Seite des Kapitalismus beschrieben; er hatte auch noch eine andere: Er hat den Einzelnen frei gemacht. Er hat ihn befreit von der Bevormundung durch das korporative System; er hat es ihm ermöglicht, auf eigenen Füßen zu stehen und sein Glück zu versuchen. Der Einzelne wurde zum Herrn seines Schicksals, er selbst trug das Risiko, und der Gewinn gehörte ihm. Seine persönlichen Anstrengungen konnten ihn zum Erfolg und zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit führen. Das Geld wurde zum großen Gleichmacher der Menschen, es erwies sich als mächtiger als Geburt und Stand. Diese Seite begann sich in der Anfangszeit des Kapitalismus erst langsam zu entwickeln. Sie spielte bei der kleinen Gruppe der Reichen eine größere Rolle als beim städtischen Bürgertum. Aber selbst mit dieser Einschränkung trug sie wesentlich zur Umformung der Persönlichkeit bei.

Wenn wir jetzt versuchen, unsere Erörterungen über den Einfluss der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen auf den Einzelnen im 15. und 16. Jahrhundert noch einmal zusammenzufassen, so gelangen wir zu folgendem Bild: [I-254]

Wir treffen auf das Doppelgesicht der Freiheit, wie wir es schon zuvor diskutiert haben. Der Einzelne wird von wirtschaftlichen und politischen Fesseln frei. Er gewinnt auch etwas an positiver Freiheit durch die aktive, unabhängige Rolle, die er im neuen System spielen muss. Aber gleichzeitig wird er auch von all jenen Bindungen frei, die ihm zuvor Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit gaben. Das Leben läuft nicht mehr in einer in sich geschlossenen Welt ab, deren Mittelpunkt der Mensch war, die Welt ist grenzenlos und zugleich bedrohlich geworden. Dadurch, dass er seinen festen Platz in einer in sich geschlossenen Welt verliert, geht dem Menschen auch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren. Er fühlt sich von mächtigen, überpersönlichen Kräften, dem Kapital und dem Markt, bedroht. Die Beziehung zu seinen Mitmenschen, von denen jeder ein potentieller Konkurrent ist, wird feindlich und entfremdet. Er ist frei – das heißt, er ist allein, isoliert, bedroht von allen Seiten. Da er weder den Reichtum noch die Macht besitzt, über welche die Renaissance-Kapitalisten verfügten, und da er überdies das Gefühl des Einsseins mit seinen Mitmenschen und dem Universum verloren hat, überwältigt ihn ein Gefühl persönlicher Nichtigkeit und Hilflosigkeit. Er hat das Paradies auf immer verloren. Der Einzelne steht allein der Welt gegenüber – ein Fremder, hineingeworfen in eine grenzenlose, bedrohliche Welt. Die neue Freiheit musste in ihm ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Ohnmacht, des Zweifels, der Verlassenheit und Angst wecken. Wenn der Mensch sich in der Welt behaupten sollte, musste er wenigstens teilweise von diesen Gefühlen erleichtert werden.

b) Das Zeitalter der Reformation

An diesem Punkt der Entwicklung traten Luthertum und Calvinismus in Erscheinung. Die neuen Glaubenslehren waren keine Religion für die Reichen, sondern für den städtischen Mittelstand[12], für die Armen in den Städten und für die Bauern. Sie sprachen diese Gruppen an, weil sie einem neuen Freiheits- und Unabhängigkeitsgefühl ebenso Ausdruck verliehen wie dem Gefühl der Ohnmacht und Angst, das ihre Anhänger erfüllte. Aber die neuen Lehren verliehen nicht nur den Gefühlen Ausdruck, die durch die veränderte Wirtschaftsordnung erzeugt worden waren. Sie verstärkten diese Gefühle noch, boten aber zugleich Lösungen an, welche die Einzelnen in die Lage versetzten, mit einer sonst unerträglichen Unsicherheit fertig zu werden.

Bevor wir mit der Analyse der gesellschaftlichen und psychologischen Bedeutung der neuen religiösen Lehren beginnen, dürften einige Bemerkungen über die hier angewandte Methode das Verständnis unserer Untersuchungen erleichtern.

Wenn man die psychologische Signifikanz einer religiösen oder politischen Doktrin untersucht, sollte man sich vor allem darüber klar sein, dass die psychologische Analyse kein Urteil über den Wahrheitsgehalt der analysierten Doktrin impliziert. Letztere Frage ist nur in Bezug auf die logische Struktur des Problems selbst zu entscheiden. Die Analyse der psychologischen Motivationen, die einer bestimmten Doktrin oder Idee zugrunde liegen, kann nie die rationale Beurteilung der Gültigkeit dieser Doktrin und der darin enthaltenen Werte ersetzen, wenn eine solche Analyse auch [I-255] zu einem besseren Verständnis der wirklichen Bedeutung dieser Lehre verhelfen und hierdurch unser Werturteil mit beeinflussen kann. Was die psychologische Analyse von Doktrinen aufzeigen kann, sind die subjektiven Motivationen, aus denen heraus jemand sich bestimmter Probleme bewusst wird und sich veranlasst sieht, in einer bestimmten Richtung nach Antworten zu suchen. Jedes Denken, sei es richtig oder falsch, ist – sofern es sich nicht lediglich um eine oberflächliche Anpassung an konventionelle Ideen handelt – von subjektiven Bedürfnissen und Interessen dessen motiviert, der denkt. Das Auffinden der Wahrheit kann dann bestimmten Interessen förderlich oder auch abträglich sein. Aber in beiden Fällen spielen die psychologischen Motivationen eine wichtige Rolle bei den Schlussfolgerungen des Betreffenden. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass Ideen, die nicht in mächtigen Bedürfnissen des Menschen wurzeln, nur einen geringen Einfluss auf sein Handeln und überhaupt auf sein ganzes Leben haben werden.

Wenn wir religiöse oder politische Doktrinen in Hinblick auf ihre psychologische Bedeutung analysieren, müssen wir zwischen zwei Problemen unterscheiden. Einmal können wir die Charakterstruktur des Betreffenden untersuchen, der die neue Lehre aufstellt, und können herauszufinden suchen, welche Züge seiner Persönlichkeit für die spezielle Richtung seines Denkens maßgebend sind. Im konkreten Fall heißt das, dass wir zum Beispiel die Charakterstruktur Martin Luthers und Johannes Calvins analysieren müssen, um herauszufinden, auf Grund welcher Züge ihrer Persönlichkeit sie zu bestimmten Schlüssen gelangten und gerade diese Lehren aufstellten. Das andere Problem besteht darin, die psychologischen Motive nicht des Schöpfers der neuen Lehre, sondern der gesellschaftlichen Gruppe zu analysieren, welche sich von dieser Lehre angesprochen fühlt. Der Einfluss einer jeden Lehre oder Idee hängt davon ab, in welchem Ausmaß sie den psychologischen Bedürfnissen in der Charakterstruktur jener Menschen entspricht, an die sie sich wendet. Nur wenn die Idee machtvollen psychologischen Bedürfnissen bestimmter Gesellschaftsgruppen entspricht, wird sie zu einer wirklichen Macht in der Geschichte.

Beide Probleme, die Psychologie des Führers und die seiner Anhänger, stehen natürlich miteinander in enger Verbindung. Wenn letztere sich von den gleichen Ideen angesprochen fühlen, müssen wichtige Aspekte ihrer Charakterstruktur ähnlich beschaffen sein. Abgesehen von speziellen Begabungen des Führers auf dem Gebiet des Denkens und Handelns wird seine Charakterstruktur der Persönlichkeitsstruktur derer, die sich von seiner Lehre angesprochen fühlen, entsprechen, und zwar in einer extremeren und eindeutigeren Form. Er wird möglicherweise nur zu klareren und treffenderen Formulierungen gewisser Ideen gelangen, auf die seine Anhänger psychologisch bereits vorbereitet waren. Dass die Charakterstruktur des Führers in ausgeprägterer Form gewisse Merkmale aufweist, die auch bei seinen Anhängern zu finden sind, kann auf zwei verschiedene Gründe – oder auch auf eine Kombination beider – zurückgehen: Einmal kann seine soziale Situation typisch für jene Lebensumstände sein, welche die ganze Gruppe geformt haben; oder aber eben jene Charakterzüge, welche bei der Gruppe die Folge ihrer sozialen Lage sind, können sich bei ihm durch zufällige Umstände – etwa durch seine Erziehung oder durch sonstige individuelle Erfahrungen – in auffälliger Weise herausgebildet haben. [I-256]

Wir wollen in der folgenden Untersuchung der psychologischen Bedeutung der Lehren des Protestantismus und des Calvinismus nicht so sehr Luthers und Calvins Persönlichkeit analysieren, sondern die psychologische Situation der Gesellschaftsklassen, die sich von ihren Ideen angesprochen fühlten. Bevor ich mich der Untersuchung von Luthers Theologie zuwende, möchte ich jedoch im Vorübergehen erwähnen, dass Luther als Persönlichkeit ein typischer Vertreter des „autoritären Charakters“ war, auf den ich an späterer Stelle näher eingehen werde. Er war von einem ungewöhnlich strengen Vater erzogen worden und hatte als Kind wenig Liebe und Sicherheit erfahren; die Folge war, dass er der Autorität gegenüber stets eine ambivalente Haltung einnahm. Einerseits hasste er sie und begehrte gegen sie auf, andererseits bewunderte er sie und war geneigt, sich ihr zu unterwerfen. Sein ganzes Leben lang gab es stets eine Autorität, gegen die er rebellierte, und eine andere, die er bewunderte – in seiner Jugend waren es sein Vater und seine Oberen im Kloster, in seinen späteren Jahren waren es der Papst und die Fürsten. Er war erfüllt von einem heftigen Gefühl der Einsamkeit, Ohnmacht und Sündhaftigkeit, gleichzeitig aber auch von dem leidenschaftlichen Willen, die Oberhand zu behalten. Er war von Zweifeln gepeinigt, wie es nur ein zwanghafter Charakter sein kann, und er war immer auf der Suche nach etwas, das ihm innere Sicherheit geben und ihn von der Qual der Ungewissheit erlösen könnte. Er hasste andere – besonders den „Pöbel“ –, er hasste sich selbst, er hasste das Leben; und aus all diesem Hass heraus erwuchs sein leidenschaftliches, verzweifeltes Verlangen, geliebt zu werden. Sein ganzes Wesen war von Angst und Zweifel durchdrungen, und er fühlte sich völlig isoliert. Das war die persönliche Basis, von der aus er zum Vorkämpfer gesellschaftlicher Gruppen werden sollte, die sich psychologisch in einer sehr ähnlichen Lage befanden.

Zur Methode der folgenden Analyse scheint noch eine weitere Bemerkung angebracht. Jede psychologische Analyse der Gedanken eines Menschen oder einer bestimmten Ideologie zielt darauf ab, die psychologischen Ursprünge dieser Gedanken und Ideen zu erfassen. Die erste Voraussetzung für eine derartige Analyse ist ein volles Verständnis des logischen Kontexts einer Idee. Man muss herauszufinden suchen, was der Autor bewusst sagen will. Bekanntlich jedoch wird der Mensch, auch wenn er subjektiv ehrlich ist, häufig unbewusst von völlig anderen Motiven bestimmt, als er selber glaubt. So kann es vorkommen, dass er einen Begriff seiner semantischen Bedeutung entsprechend gebraucht, bewusst aber etwas ganz anderes damit meint. Außerdem kommt es bekanntlich auch vor, dass jemand gewisse Widersprüche in seinem Fühlen durch ein ideologisches Konstrukt miteinander in Einklang zu bringen versucht oder dass er eine Idee, die er verdrängt hat, hinter einer Rationalisierung versteckt, die das genaue Gegenteil ausdrückt. Unsere Beschäftigung mit dem Unbewussten hat uns misstrauisch gemacht gegen die scheinbar offen zutage liegende Bedeutung von Worten.

Die Analyse von Ideen beschäftigt sich hauptsächlich mit zwei Aufgaben: Die eine besteht darin, das Gewicht festzustellen, das eine bestimmte Idee im Ganzen eines ideologischen Systems besitzt, die andere besteht darin, festzustellen, ob wir es mit einer Rationalisierung zu tun haben, die sich von der realen Bedeutung der Gedanken unterscheidet. Ein Beispiel für die erste Art wäre etwa, dass in Hitlers Ideologie die [I-257] Betonung der Ungerechtigkeit des Versailler Vertrages eine ungeheure Rolle spielt, und Hitler war auch tatsächlich empört über diesen Friedensvertrag. Wenn wir jedoch seine gesamte politische Ideologie analysieren, so sehen wir, dass ihr ein intensives Verlangen nach Macht und Eroberung zugrunde liegt. Obwohl er bewusst das Deutschland widerfahrene Unrecht in den Vordergrund stellt, so besitzt diese Überlegung doch in seinem gesamten Denken nur geringes Gewicht. Ein Beispiel für den Unterschied zwischen der bewusst beabsichtigten Bedeutung eines Gedankens und ihrer realen psychologischen Bedeutung ergibt die Analyse der Lehren Luthers, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen wollen.

Ich behaupte, dass Luthers Beziehung zu Gott dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich ihm auf Grund der menschlichen Ohnmacht unterwirft. Er selbst spricht von seiner Unterwerfung unter Gottes Willen als einem freiwilligen Akt, der nicht der Furcht, sondern der Liebe entspringe. Logisch könnte man argumentieren, dass das keine Unterwerfung sei. Psychologisch ergibt sich jedoch aus der Gesamtstruktur von Luthers Denken, dass es sich bei seiner Auffassung von Liebe und Glauben tatsächlich um Unterwerfung handelt: Er ist zwar bewusst der Meinung, seine „Unterwerfung“ unter Gottes Willen sei freiwillig und durch Liebe gekennzeichnet, aber er ist so sehr von dem Gefühl seiner eigenen Ohnmacht und Verderbtheit durchdrungen, dass seine Beziehung zu Gott tatsächlich den Charakter einer Unterwerfung hat. (Genauso empfinden zwei Menschen, die sich in einer masochistischen Abhängigkeit voneinander befinden, diese Abhängigkeit häufig bewusst als „Liebe“.) Vom Standpunkt einer psychologischen Analyse aus hat der Einwand, Luther sage etwas anderes, als was er unserer Ansicht nach (wenn auch unbewusst) meine, nur wenig Gewicht. Meiner Überzeugung nach sind gewisse Widersprüche in seinem System überhaupt nur mit Hilfe einer Analyse der psychologischen Bedeutung seiner Begriffe zu verstehen. Ich habe in der nachstehenden Analyse des Protestantismus die religiösen Lehrsätze der Bedeutung entsprechend interpretiert, die sie im Kontext des gesamten Systems besitzen. Ich habe keine Sätze zitiert, die im Widerspruch zu einigen Lehrsätzen Luthers und Calvins stehen, wenn ich die Überzeugung gewonnen habe, dass sie in ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung nach keine wirklichen Widersprüche darstellen. Ich habe aber auch nicht nur jene Sätze herausgegriffen, die in meine Interpretation besonders gut hineinpassen. Meine Analyse gründet sich vielmehr auf eine Untersuchung der psychologischen Grundlage des Gesamtsystems Luthers und Calvins, worauf ich anschließend einzelne Elemente ihrer Lehre im Hinblick auf die psychologische Struktur des Gesamtsystems interpretieren werde.

Wenn wir verstehen wollen, was an den Lehren der Reformation neu war, müssen wir uns zuvor klarmachen, was das Wesen der Theologie der mittelalterlichen Kirche ausmachte. (Ich halte mich hierbei hauptsächlich an R. Seeberg, 1920 und 1930, sowie an B. Bartmann, 1918.) Wir stoßen hier auf dieselbe methodologische Schwierigkeit, die wir bereits im Zusammenhang mit Begriffen wie „mittelalterliche Gesellschaft“ und „kapitalistische Gesellschaft“ erörtert haben. Ebenso wie es im wirtschaftlichen Bereich keinen plötzlichen Übergang von einer Struktur in die andere gibt, gibt es auch in der theologischen Sphäre keine plötzlichen Veränderungen. Gewisse Lehrmeinungen Luthers und Calvins sind denen der mittelalterlichen Kirche so ähnlich, [I-258] dass es manchmal schwerfällt, überhaupt einen wesentlichen Unterschied festzustellen. Genau wie Luthertum und Calvinismus hat die katholische Kirche stets verneint, dass der Mensch allein kraft seiner Tugenden und Verdienste das Heil erringen und auf die Gnade Gottes als dem unentbehrlichen Mittel zur Erlangung der ewigen Seligkeit verzichten könne. Aber unbeschadet aller Gemeinsamkeiten der alten und der neuen Theologie unterscheidet sich doch der Geist der katholischen Kirche wesentlich von dem der Reformation, insbesondere im Hinblick auf das Problem der menschlichen Würde und Freiheit und auf die Auswirkungen der Taten eines Menschen auf sein Schicksal.

Besonders kennzeichnend für die katholische Kirche in der langen Periode vor der Reformation waren Lehren wie die, dass der Natur des Menschen trotz des Sündenfalls ein Streben nach dem Guten eigen sei, dass es dem Willen des Menschen freistehe, das Gute zu wollen, dass er durch sein Bemühen zur Erlangung des Heils beitragen könne und dass der Sünder mit Hilfe der Sakramente der Kirche durch Christi Opfertod errettet werden könne.

Einige der maßgebenden Kirchenlehrer wie Augustinus und Thomas von Aquin haben zwar an den oben erwähnten Lehrmeinungen festgehalten, aber gleichzeitig Lehrsätze aufgestellt, die von einem völlig anderen Geist erfüllt waren. Wenn Thomas von Aquin auch eine Prädestinationslehre vertritt, bleibt doch die Lehre von der Willensfreiheit stets eine seiner Grunddoktrinen. Um den Widerspruch zwischen der Lehre von der Willensfreiheit und der Prädestinationslehre zu überbrücken, muss er sich der verzwicktesten Konstruktionen bedienen. Obwohl diese Konstruktionen auch die Widersprüche kaum befriedigend zu lösen vermögen, nimmt er doch die Lehre von der Willensfreiheit ebenso wenig zurück wie die, dass der Mensch selbst zur Erlangung seines Heils beitragen könne, auch wenn der menschliche Wille dabei des Beistandes der göttlichen Gnade bedürfe. So heißt es etwa in der Summa Theologica (I, q.23, a.8): „Daher sollen die Vorherbestimmten alle Kraft aufbieten, um gut zu arbeiten und gut zu beten, weil durch derartige Werke die Wirkung der Vorherbestimmung mit Sicherheit eintritt. (...) Darum kann die Vorherbestimmung durch die Geschöpfe unterstützt, nicht aber gehindert werden“ (Thomas von Aquin, 1934, S. 264 f.).

Über die Willensfreiheit sagt Thomas von Aquin in der Summa contra gentiles, es widerspreche dem Wesen Gottes und der Natur des Menschen, annehmen zu wollen, dass der Mensch sich nicht frei entscheiden könne, ja, es stehe ihm sogar frei, die ihm von Gott angebotene Gnade zurückzuweisen. (Vgl. Thomas von Aquin, 1937, Buch III, 1, Kap. 73 (S. 279-281); Buch III, 2, Kap. 85 (S. 23-31) und Kap. 159 (S. 322-324).)

Details

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2014
ISBN (ePUB)
9783959120005
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Erich Fromm Charakter und Gesellschaft Psychologie des Nazismus Psychologie Sozialpsychologie autoritärer Charakter Autoritarismus Protestantismus Psychologie des Selbst
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Titel: Die Furcht vor der Freiheit